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Der Weg in die Unabhängigkeit
Auseinandersetzungen im Baltikum 1987-1991
August 1987: Einige Tausend Menschen versammeln sich in mehreren baltischen Städten, um gegen das deutsch-sowjetische Geheimabkommen vom August 1939 zu protestieren, mit dem sich die beiden Mächte das östliche Mitteleuropa in "Interessensphären" aufgeteilt hatten. Die Demonstrationen sind verboten und werden von großen Polizeiaufgeboten umlagert. Die Parteipresse schreibt von "provokatorischen Aufrufen", in denen die Geschichte "auf demagogische, bourgeoise und nationalistische Weise interpretiert" werde. Mit Beifall werden "aufgebrachte Passanten" zitiert, die dazu aufgefordert hätten, "die Provokateure von der Straße zu jagen".
Ein Jahr später, August 1988: Zum Jahrestag des Geheimabkommens demonstrieren in den baltischen Republiken insgesamt mehrere Hunderttausend Menschen. Die Kundgebungen sind diesmal nicht nur völlig legal, sondern werden auch von den örtlichen Parteiführungen unterstützt. Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS preist die Demonstrationen als "Beweis für die gewachsene politische Aktivität der Menschen und ihr Interesse an der Geschichte".
Im Sommer 1988 entstanden in den drei Ostseerepubliken die "Volksfronten", im Herbst konstituierten sie sich offiziell. Ohne daß viel darüber gesprochen wurde, war die jahrzehntelange Monopolstellung der KPdSU durchbrochen. Schon in jenen Monaten wurden in den baltischen Republiken die alten Nationalfahnen, Staatshymnen und Wappen der Zwischenkriegszeit wieder eingeführt, und die baltischen Sprachen erhielten den Status einer Staatssprache.
Der im Oktober 1988 veröffentlichte Entwurf einer neuen Verfassung der UdSSR sorgte für weiteren Konfliktstoff. Von den Nationalbewegungen wurde er als Versuch interpretiert, die Rechte der Republiken zu beschneiden und das Recht auf Austritt aus der Union in Frage zu stellen. Als Reaktion verabschiedete das estnische Parlament am 16. November fast einstimmig die erste Souveränitätserklärung einer Sowjetrepublik. Souveränität, so wie sie damals definiert wurde, bedeutete noch nicht den Anspruch auf volle Eigenstaatlichkeit. Produktionsmittel und Bodenschätze wurden zum Eigentum der Republik erklärt. Gesetze der UdSSR sollten in Estland nur mit Zustimmung des estnischen Parlaments in Kraft treten. - Gorbatschow reagierte mit scharfer Zurückweisung und ließ am 22. November die estnischen Verfassungsänderungen für null und nichtig erklären.
"Wendepunkt in der Geschichte des ganzen Landes"
Eine der unsinnigsten und vielleicht folgenschwersten Konfrontationen mit den baltischen Nationalbewegungen provozierte das Politbüro im Sommer 1989. Der Anlaß: Am 22. August erklärte das litauische Parlament die deutsch-sowjetischen Geheimverträge von 1939 für widerrechtlich und ungültig. Zugleich wurde der Anschluß Litauens an die UdSSR vom Juli/August 1940 als ebenso widerrechtlich und folglich ohne juristische Verbindlichkeit bezeichnet. Politische Nutzanwendung: Da Litauen rechtlich der Sowjetunion niemals beigetreten sei, bestehe die nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Republik fort, wenn auch als zur Zeit besetztes Land. Dieser Logik folgend lehnen die baltischen Republiken es bis heute ab, von einem Austritt aus der UdSSR zu sprechen. Allenfalls den Begriff "Wiederherstellung der Staatlichkeit" lassen sie gelten.
Das Politbüro reagierte mit einer im Namen des ZK abgegebenen, aber wahrscheinlich in diesem Gremium nie diskutierten Stellungnahme, die mit ihrer maßlosen Schärfe an die "brüderlichen Warnungen" vor der Militärintervention in der CSSR im August 1968 erinnerte. Man befinde sich, so hieß es da, an einem "Wendepunkt in der Geschichte des ganzen Landes". In den baltischen Republiken bestehe "die reale Gefahr eines regelrechten Bürgerkonflikts und massenhafter Zusammenstöße". "Das Schicksal der baltischen Völker ist ernsthaft bedroht. Die Menschen müssen wissen, an welchen Abgrund die nationalistischen Anführer sie drängen. Würden diese ihr Ziel erreichen, könnten katastrophale Folgen für die Völker entstehen. Selbst deren Lebensfähigkeit könnte in Frage gestellt werden."
Den führenden Politikern der baltischen Republiken wurde vom Politbüro vorgehalten, sie hätten es versäumt, "den Prozeß in den normalen Bahnen der Umgestaltung zu halten" und "den negativen Tendenzen Einhalt zu gebieten". Nunmehr sei es erforderlich, "entschiedene Sofortmaßnahmen zu ergreifen, um den Umgestaltungsprozeß in den Ostseerepubliken von Extremismus, von destruktiven und schädlichen Tendenzen zu befreien."
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Politbüro der KPdSU noch zu keinem Nationalkonflikt eine derartige offizielle Erklärung abgegeben. Fälle von Pogromen, von bewaffneten Konflikten, von tatsächlichem Bürgerkrieg in anderen Teilen der UdSSR waren ohne angemessene politische Antwort geblieben. In den baltischen Republiken hingegen war bis dahin noch kein einziger Schuß im politischen Kampf gefallen. Umso deplazierter war der hochdramatische, einschüchternde Ton dieser Enzyklika des Politbüros. Daß die angedrohten "entschiedenen Sofortmaßnahmen" in der Erklärung mit keinem Wort beschrieben wurden und daß praktisch erst einmal überhaupt nichts darauf folgte, macht die Sache nicht besser.
Wohl gewollt und gezielt wurde das Gerücht verbreitet, Gorbatschow, der auch damals gerade in seinem Feriendomizil weilte, habe von der Politbüro-Erklärung nichts gewußt. Er sei sogar bewußt hintergangen worden; die Erklärung sei ein Dolchstoß der "Konservativen" gegen Gorbatschows Reformpolitik. Dieses Gerücht wurde von Gorbatschow weder bestätigt noch dementiert. Ein kritisches Wort zu dem Drohpapier war von ihm aber auch nicht zu vernehmen. Inzwischen ist festzustellen, daß dieses Muster - Gorbatschow hat angeblich von nichts gewußt - in den letzten Jahren ein paar Mal zu oft strapaziert wurde, um noch glaubhaft zu sein.
Litauens KP macht sich selbständig
Den nächsten Konflikt trug Gorbatschow direkt mit der litauischen KP aus. Auf ihrem Parteitag hatte diese am 19. Dezember 1989 beschlossen, sich von der KPdSU zu lösen und als eigenständige Partei zu konstituieren. Eine Minderheit, repräsentiert durch etwa 15 % der Delegierten, lehnte den Beschluß ab und bildete eine eigene Partei. Im Vorfeld des Parteitags hatte die Moskauer Zentrale alles versucht, um den Trennungsbeschluß zu verhindern. Die litauische KP-Führung war Mitte November 1989 zur "Aussprache" mit dem Politbüro nach Moskau bestellt worden. Da das offenbar nicht die verlangte Umkehr brachte, wandte sich Gorbatschow Anfang Dezember mit einer scharf formulierten Botschaft an die gesamte litauische KP. Inständig beschwor er die Gefahren für das gemeinsame Haus Europa, die sich aus einer Spaltung der KPdSU ergeben würden. Der ZK-Sekretär für ideologische Fragen, Wadim Medwedjew, wurde nach Litauen geschickt, um den Standpunkt der Zentrale durchzusetzen.
Nichts half. Nach dem litauischen Parteitag wurde das ZK der KPdSU zu einer außerordentlichen Sitzung zusammengeholt, um den Trennungsbeschluß als illegal zu verurteilen; angeblich lag eine solche Entscheidung nicht in der Kompetenz der litauischen Genossen. Gorbatschow ließ sich beauftragen, in der ersten Januarhälfte 1990 zu einem nochmaligen "Vermittlungsversuch" nach Litauen zu reisen.
Diese Reise wurde zu einem Fiasko für den Parteichef. Die Bevölkerung demonstrierte zu Hunderttausenden unter den Fahnen der Republik und Parolen wie "Litauen hat sich schon entschieden". Mit seiner beharrlich wiederholten Version, nicht das litauische Volk, sondern nur ein paar ehrgeizige, selbstsüchtige Demagogen seien für die Unabhängigkeit, sah der erste Mann der UdSSR diesmal überhaupt nicht gut aus. Neu war, daß Gorbatschow es jetzt kategorisch ablehnte, die Loslösung einer Republik von der Union überhaupt in Erwägung zu ziehen. Einen Zerfall der UdSSR werde die Zentrale keinesfalls zulassen, darüber dürfe es keine Illusionen geben. In den Monaten zuvor hatte sich Gorbatschow dazu auch schon mal etwas flexibler und moderater geäußert.
Die Aufgeregtheit der Moskauer Reaktionen wurde sicher dadurch mitbestimmt, daß am 24. Februar 1990 die Wahl des litauischen Parlaments anstand - eine der ersten freien Wahlen in der UdSSR überhaupt. Wer aber bis dahin noch geglaubt hatte, durch Wutgebrüll und Fäusteschütteln den "Wählerwillen" zu seinen Gunsten beeinflussen zu können, sah sich enttäuscht. Anhänger der "Volksfront" gewannen die absolute Mehrheit. Ihr Vorsitzender Landsbergis kündigte daraufhin sofort die Ausrufung der Unabhängigkeit "in diesem Frühjahr" an. Sie folgte am 11. März 1990. In der Form etwas vorsichtiger, aber in der Sache fast identisch erklärten auch Estland am 30. März und Lettland am 4. Mai ihre Eigenstaatlichkeit.
Nur noch am Rande registriert wurde, daß am 9. März das georgische Parlament verkündete, die Verträge von 1921 und 1922, die den Beitritt der Republik zur Union besiegelt hatten, seien null und nichtig, da unfreiwillig zustande gekommen. Der gleiche Vorgang in Litauen, kaum sieben Monate vorher, war noch als "Wandeln am Abgrund" und erster Schritt zum Bürgerkrieg beschrieen worden.
Das Lostrennungs- Verhinderungs-Gesetz
In allen sowjetischen Verfassungen seit Bildung der UdSSR 1922 stand und steht es ganz eindeutig: Die Republiken haben das Recht auf freien Austritt aus der Union. Solange niemand auf den Gedanken kommen konnte, davon praktischen Gebrauch zu machen, war die Sache unkompliziert. Ein Ausführungsgesetz zu dem Verfassungsartikel war nie ausgearbeitet worden. Das mußte nun natürlich schleunigst nachgeholt werden. Am 27. Februar 1990, drei Tage nach dem Wahlsieg der "Volksfront" in Litauen, befaßte sich der Oberste Sowjet der UdSSR erstmals mit einem entsprechenden Gesetzentwurf. Am 3. April 1990, drei Wochen nach der litauischen Unabhängigkeitserklärung, wurde das Gesetz im gleichen Gremium verabschiedet. Von einer "Lex Litauen" zu sprechen, ist sicher nicht übertrieben.
Laut Gesetz muß auf dem Weg zur Unabhängigkeit erstens eine Volksabstimmung passiert werden. Dabei müssen sich mindestens drei Viertel der wahlberechtigten Bevölkerung für die Trennung von der UdSSR entscheiden. Scheitert das Referendum, darf frühestens in zehn Jahren eine neue Abstimmung stattfinden. Kommt die geforderte Mehrheit zustande, gibt es eine "Übergangsphase" von fünf Jahren, nach deren Ablauf von einem Zehntel der Wahlberechtigten eine zweite Abstimmung erzwungen werden kann. Die letzte Entscheidungskompetenz soll schließlich beim Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR liegen.
Das Gesetz sieht als zusätzliche Hürde einen "Vermögens-und Finanzausgleich" vor, was in der Praxis heißt, daß auf die austrittswillige Republik horrende Geldforderungen der Moskauer Zentrale zukommen, die ihre Zahlungsfähigkeit bei weitem überschreiten würden. Im Fall Litauens wurden Zahlen zwischen 10 und 20 Milliarden Rubel ins Spiel gebracht.
Das Gesetz bestimmt außerdem, daß bei der Volksabstimmung in den Autonomen Republiken und Gebieten, aber auch in jeder Region mit vorherrschender nationaler Minderheit die Ergebnisse gesondert gewertet werden sollen. Die Bevölkerung eines solchen Gebiets könnte sich also dafür entscheiden, sich von einer Republik, die den Unionsverband verläßt, ihrerseits zu trennen und weiter der UdSSR anzugehören. Das serbische Modell, sozusagen. Das widerspricht allerdings klar der sowjetischen Verfassung, denn diese besagt, daß das Territorium einer Republik nur mit deren Einverständnis verändert werden darf.
Insgesamt betrachtet bestand der einzige erkennbare Zweck des Gesetzes nicht darin, Austritte in regulären Formen abzuwickeln, sondern sie praktisch unmöglich zu machen. Angewendet wurde das Gesetz niemals. Es war, wie die Dinge heute stehen, nur für den Papierkorb gemacht. Gerade darum ist im Rückblick bezeichnend, daß man lieber ein solches Monstrum verabschiedete, statt nach einem Modus zu suchen, der vielleicht im wirklichen Leben Bestand hätte gewinnen können.
Das Wilnaer Panzer-Ballett
Mit Litauens Unabhängigkeitserklärung vom 11. März 1990 begann eine weitere Kraftprobe. Auf dem Kongreß der Volksdeputierten (13.-15. März) sprach Gorbatschow von einem "alarmierenden Vorgang". Die Entscheidung des Wilnaer Parlaments sei ungesetzlich. Verhandlungen mit der litauischen Regierung werde es nicht geben, denn verhandeln könne man doch nur mit ausländischen Politikern. Das sowjetische Parlament assistierte brav dem KPdSU-Chef, der auf dieser Sitzung auch zum Präsidenten gekürt wurde: ja, die Unabhängigkeitserklärung sei "ungesetzlich und ungültig". Von rund 1700 Abgeordneten mochten nur 94 gegen dieses Urteil stimmen.
Außerdem wurde Gorbatschow vom Kongreß der Volksdeputierten legitimiert, "alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Rechte der Bürger und der anderen Republiken auf dem Territorium Litauens" zu ergreifen. Am 16. März 1990 forderte Gorbatschow die litauische Regierung per Telegramm auf, sich umgehend zu den Beschlüssen der Volksdeputierten zu äußern. Frist: drei Tage. Am 19. März wurde der Sprecher einer litauischen Delegation, die zur Darlegung ihres Standpunkts nach Moskau gekommen war, im Obersten Sowjet niedergeschrien. Am gleichen Tag gab die Regierung der UdSSR "Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Sowjetunion" in Litauen bekannt. Vor allem: Sämtliche Produktionsstätten, die sich auf dem Territorium Litauens befinden, sind Eigentum der UdSSR. Es werden nötigenfalls "radikale Maßnahmen" zu ihrem Schutz ergriffen. Litauen ist verpflichtet, alle wirtschaftlichen Verpflichtungen strikt einzuhalten.
Schon am 18. März 1990 wurde überraschend der Beginn von Manövern im Raum Litauen bekanntgegeben. Militärflugzeuge zeigten sich drohend über Wilna. Die sowjetischen Truppen in Litauen wurden durch zusätzliche Panzer und Fallschirmjäger verstärkt, ebenso die Bewachung wichtiger Objekte in der Republik. Im Zentrum von Wilna fuhren Schützenpanzer auf. Am 22. März ließ die Regierung der UdSSR Litauen für ausländische Journalisten sperren - wegen der "komplizierten Situation" in der Republik, wie es hieß. Am 24. März und den folgenden Tagen war eine große Panzerkolonne (etwa 100 Fahrzeuge) damit beschäftigt, nach einem rätselhaften Prinzip um das litauische Parlament herumzukurven, in ihre Kasernen zurückzukehren, dann wieder im Stadtzentrum aufzutauchen usw.: "planmäßige Übungen", wie die zuständigen Militärverantwortlichen humorvoll erläuterten. Spätestens am 19. August 1991 wurde die Choreographie deutlich, die man in Wilna einstudiert hatte.
Am 31. März 1990 verlangte Gorbatschow noch einmal ultimativ die "unverzügliche Rücknahme aller widerrechtlichen Akte", insbesondere selbstverständlich der Unabhängigkeitserklärung. Vorher werde es keine Verhandlungen geben. Drohend verwies der Präsident auf eine Flut von Briefen aus der Bevölkerung, die ihn derzeit erreiche. Man fordere ihn auf, "wirksame Maßnahmen wirtschaftlichen, politischen und administrativen Charakters zu ergreifen". - Inzwischen waren nicht nur das KP-Gebäude in Wilna, sondern auch das Druckerei- und Pressezentrum sowie die Staatsanwaltschaft von sowjetischem Militär besetzt.
Wirtschaftsblockade
Am 13. April 1990 stellte Gorbatschow ein neues Ultimatum: Innerhalb von zwei Tagen müßten alle aus der Unabhängigkeit resultierenden Maßnahmen aufgehoben werden. Anderenfalls werde eine Wirtschaftsblockade gegen Litauen verhängt. Diese Blockade begann am 18. April. In erster Linie betraf sie Erdöl und Erdgas, dann aber auch Kohle, Rohstoffe für die Maschinenindustrie, Fahrzeuge und Ersatzteile, schließlich sogar Lebensmittel.
Estland und Lettland, die gleichfalls ihre Unabhängigkeit verkündeten, wurden dennoch nicht direkt blockiert. Wohl aber litten sie aufgrund wirtschaftlicher Verflechtungen ebenfalls unter den gegen Litauen verhängten Maßnahmen. Ansonsten war die Taktik der Zentralregierung ähnlich: Gorbatschow drohte, die Republiken mit präsidialen Sondervollmachten zu regieren. "Komitees für den Schutz der Sowjetmacht" - lokale Vorläufer des Putschkomitees vom 19. August 1991 - riefen zur Bildung von "Selbstverteidigungsgruppen" in den baltischen Republiken auf. In den Hauptstädten Riga und Tallinn versuchten Parteimitglieder und Soldaten am 15. Mai, die Parlamente zu stürmen. Panzer und Fallschirmjäger waren auch hier bei ihren "normalen Übungen" in den Stadtzentren zu beobachten.
Ende Juni/Anfang Juli 1990 wurde die Blockade Litauens aufgehoben. Absolut wirksam geworden war sie aufgrund der halbanarchischen Verhältnisse in der UdSSR wohl nie. Litauen hatte wenigstens einen Teil seines Bedarfs über den Schwarzmarkt und Tauschbeziehungen mit anderen Republiken decken können. Nachdem Jelzin für die russische Regierung erklärt hatte, die Unabhängigkeit Litauens zu respektieren und normale Wirtschaftsbeziehungen mit der Republik aufzunehmen, war der Boykott faktisch nicht mehr aufrechtzuerhalten gewesen.
Innerhalb von nur einem Jahr hatte sich zwischen Sommer 1989 und 1990 die Situation sehr zu Ungunsten der Zentralmacht verändert. Die Republiken, die es noch nicht in der zweiten Hälfte von 1989 getan hatten, erklärten nun gleichfalls ihre Souveränität; ebenso etliche der Autonomen Republiken und Gebiete. Georgien, Moldowa und Armenien erhoben, ebenso wie die baltischen Republiken, Anspruch auf Eigenstaatlichkeit. Von entscheidender Bedeutung war, daß am 12. Juni 1990 auch die größte der Sowjetrepubliken, die Russische Föderation, ihre "staatliche Souveränität" verkündete. Damit war praktisch die Union am Ende. "Wenn wir so weitermachen, führen wir das Land zum Bankrott", zog Gorbatschow auf dem 28. Parteitag der KPdSU im Juli 1990 das Fazit.
Ein vorletzter Rettungsversuch der Zentralmacht bestand darin, sich durch ein Referendum (17. März 1991) bestätigen zu lassen, daß die überwältigende Mehrheit der Sowjetmenschen den Fortbestand der UdSSR befürwortet. Zugleich wurden Verhandlungen über einen neuen Unionsvertrag eingeleitet. Die drei baltischen Republiken verweigerten die Teilnahme an dem Unionsreferendum. Stattdessen führten Litauen (9. Februar), Lettland und Estland (3. März) eigene Volksabstimmungen über die Unabhängigkeit durch.
"Die Perestroika wurde erschossen"
Bevor es soweit war, zeigte die Zentralmacht aber noch einmal die Zähne. In der Nacht zum 13. Januar 1991 stürmten Spezialtruppen den Fernsehturm in der litauischen Hauptstadt Wilna. 16 Menschen wurden dabei getötet. Wer in Moskau den Befehl für die Aktion gegeben hatte, war angeblich nicht festzustellen. Gorbatschow hatte, was wohl niemanden in der UdSSR mehr verwunderte, von den Geschehnissen erst morgens aus den Nachrichten erfahren. Ebenso ahnungslos gaben sich Verteidigungsminister Jasow und Innenminister Pugo. Andererseits: Eine eigenmächtige Aktion zweitrangiger Offiziere kann es eigentlich auch nicht gewesen sein, denn sonst hätte nach rechtsstaatlichen Grundsätzen wohl irgendjemand zur Rechenschaft gezogen werden müssen.
Und der Terror ging weiter: Am 20. Januar besetzte eine Sondereinheit mit Waffengewalt das lettische Innenministerium in Riga. Diesmal gab es "nur" fünf Tote - wohl deswegen, weil die lettische Polizei darauf verzichtete, das Gebäude zu verteidigen. Gorbatschows Kommentar: Lettland müsse unter direkte Präsidialverwaltung gestellt werden. Die Führung der Republik solle nach Moskau kommen, um entsprechende Befehle entgegenzunehmen.
Es hörte schon niemand mehr auf ihn. Am 18. Januar war eine Stellungnahme von 116 sowjetischen Intellektuellen, darunter viele bekannte Namen, veröffentlicht worden, in der es hieß: "Die im April 1985 begonnene Perestroika ist in der Nacht zum 13. Januar erschossen worden. In dieser ganzen Zeit unterstützten wir den Präsidenten und verschlossen die Augen vor der Inkonsequenz seiner Politik ... Das Verbrechen in Wilna wurde jedoch vom Präsidenten und vom Obersten Sowjet der UdSSR nicht verurteilt. Danach konnte man sich nichts mehr vormachen...". - Am 20. Januar fand die bis dahin größte Demonstration in Moskau statt. Die Teilnehmerzahl wurde mit 300.000 angegeben. Sie richtete sich gegen die Abkehr von der Perestroika und gegen die Gefahr der Diktatur.
Am 9. Februar stimmten in Litauen bei einer Wahlbeteiligung von 84 % rund 90 % für die Unabhängigkeit der Republik. In Lettland lag die Beteiligung am 3. März bei 87 %, und 73 % stimmten mit Ja. In Estland waren es am gleichen Tag 78 %, bei einer Beteiligung von 83 %. In diesen beiden Republiken hat offensichtlich auch ein erheblicher Teil der russischen Bevölkerung für die Unabhängigkeit votiert. In Riga beispielsweise, wo nur noch etwa 36 % lettischer Nationalität sind, stimmten dennoch 63 % mit Ja.
Was seitens der Zentralmacht danach noch folgte, waren häßliche Rüpeleien. Sie bestanden darin, daß Sondereinheiten in Uniform oder Zivil Einrichtungen der baltischen Republiken überfielen und zerstörten, baltische Beamte verprügelten. Vor allem Zollstationen waren das Ziel solcher Übergriffe, für die nach bekanntem Muster niemand in Moskau verantwortlich sein wollte, für die aber auch kein Soldat oder Offizier jemals zur Rechenschaft gezogen wurde. Die Sondereinheiten hatten noch im Juni und Juli dieses Jahres in den baltischen Republiken praktisch freie Hand, mit vorgehaltener Waffe zu schikanieren und zu provozieren. Daß daraus dennoch kein bewaffneter Konflikt entfacht werden konnte, der eine grössere Militärintervention der Zentralmacht legitimiert hätte, kann nur der strikten Gewaltfreiheit der baltischen Seite zugute gehalten werden. Das schlimmste Verbrechen wurde Ende Juli ausgeführt und muß wohl schon als unmittelbares Vorspiel zum Putsch vom 19. August verstanden werden: "Unbekannte" überfielen eine litauische Grenzstation und erschossen die acht Zollbeamten, die sich dort aufhielten.
Die "nationale Frage" gehörte von Anfang an zu den Themen, denen Gorbatschow mit auffallender Verständnislosigkeit gegenüberstand. Leider veranlaßte ihn das nicht dazu, sich in Lautstärke und Ton zurückzuhalten und Nachdenklicheren das Wort zu überlassen. Ihm fehlte die politische Vernunft, jemanden lieber zum richtigen Zeitpunkt halbwegs im Guten ziehen zu lassen, statt ihn mit unfriedlichen Mitteln und beleidigenden Einschüchterungsversuchen festhalten zu wollen. Andererseits fehlte ihm aber auch die Entschlossenheit und die Brutalität, der Wille und der außenpolitische Spielraum, um die militärische Macht konsequent und im vollen Umfang einzusetzen. Der Einsatz von Drohungen und Gewalt gegen die baltischen Völker war stark genug, um die Beziehungen nachhaltig zu vergiften und die drei Republiken auf ihrem Weg zur Unabhängigkeit noch schneller voranzutreiben. Er war aber zu schwach, um den Gang der Dinge aufzuhalten.
Knut Mellenthin
analyse & kritik, 23. September 1991