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Der Koran in der Toilette und der "Rückzieher" der Newsweek
Wenn man der Regierung in Washington und dem Mainstream deutscher Medien glaubt, hat die US-amerikanische Zeitschrift Newsweek eine Meldung zurückgezogen, die in vielen islamischen Ländern heftige Proteste ausgelöst hatte: dass im Lager Guantanamo der Koran in die Toilette geworfen worden sei, um die religiösen Gefühle der Gefangenen zu verletzen und sie dadurch psychologisch zu zerstören.
Das US-Außenministerium hat den angeblichen "Rückzieher" des zweitgrößten Nachrichtenmagazins der Vereinigten Staaten (Auflage: 3,1 Millionen) in einem zweiseitigen Schreiben allen Auslandsvertretungen mitgeteilt und sie aufgefordert, für größtmögliche Verbreitung der frohen Botschaft zu sorgen. Am liebsten wäre es der Regierung, wie Pressesprecher Scott McClellan öffentlich forderte, wenn die Newsweek sich an der Rettung des amerikanischen Ansehens beteiligen würde. Nämlich mit der Erklärung, dass die USA ein tolerantes Land sind, in dem der Koran ebenso wie die Menschenrechte größten Respekt genießen.
Man kann davon ausgehen, dass der Schaden für das amerikanische Ansehen in der islamischen Welt noch größer würde, wenn die Newsweek dieser Empfehlung folgen würde. Denn glauben würde einer solchen Offenbarung niemand - nach allem, was inzwischen zweifelsfrei aus Abu Ghraib, Guantanamo und den Gefangenenlagern in Afghanistan bekannt ist. Aber die Newsweek würde mit einem solchen Kniefall einen der wenigen Pluspunkte demontieren, den die USA in der Volksmeinung der meisten islamischen Länder immer noch haben: dass sie ein Land mit einer relativ freien, kritischen Presse sind.
Tatsächlich hat die Newsweek trotz großen Drucks der Regierung und der gesamten amerikanischen Rechten - ein bekannter republikanischer Senator bezeichnete das Verhalten des Magazins als "kriminell" - keinen Rückzieher in der Sache selbst gemacht. Das wäre auch absurd, da die demonstrative Verhöhnung des Korans als Teil der psychologischen und körperlichen Folter moslemischer Gefangener schon seit mindestens zwei Jahren durch viele Aussagen Betroffener bekannt ist. Die US-Medien haben darüber mehrfach berichtet. Im Zentrum stehen dabei die Erfahrungsberichte von drei britischen Staatsbürgern, die im vergangenen Jahr aus Guantanamo in ihr Heimatland entlassen wurden.
Neu war an der Meldung der Newsweek lediglich, dass die bisher kategorisch dementierten Schilderungen nun angeblich in einem Untersuchungsbericht der für Guantanamo zuständigen US-Militärbehörde bestätigt worden seien. Das Magazin hatte darüber in der am 6. Mai erschienenen Ausgabe (die aber das Datum 9. Mai trägt) in einer Kurzmeldung von zehn Sätzen berichtet. Es ging dabei um eine Reihe von Vorfällen, wobei das Hinunterspülen des Korans in der Toilette nur einen Halbsatz ausmachte. Die Zeitschrift berief sich dabei auf nicht näher bezeichnete "Quellen".
Tatsächlich handelte sich offenbar nur um eine einzige Quelle, nämlich einen langjährigen, als sehr verlässlich eingeschätzten Kontaktmann im Regierungsapparat. Den Entwurf der von zwei sehr erfahrenen Journalisten formulierten Kurzmeldung legte die Redaktion zwei Kontaktleuten im Pentagon vor, die keinen Einspruch erhoben. Bemerkenswerterweise kam vom Verteidigungsministerium auch nach Erscheinen der Newsweek kein Protest gegen die Darstellung. Erst rund eine Woche später, nach mehreren Tagen heftiger Demonstrationen in vielen afghanischen Städten, meldete sich das Pentagon bei der Chefredaktion des Magazins, um die Meldung zu dementieren.
Das Blatt fragte daraufhin beim langjährigen Kontaktmann im Regierungsapparat an. Und der war sich - offenbar auch wegen der in diesem Ausmaß nicht erwarteten Auswirkungen in der islamischen Welt - plötzlich seiner Sache nicht mehr so sicher: Gelesen habe er über den Vorfall mit dem Koran in irgendeinem offiziellen Papier, aber er wollte sich nicht mehr darauf festlegen, ob das wirklich der genannte Untersuchungsbericht der für Guantanamo zuständigen Militärbehörde war.
Nur darauf also bezog sich die Entscheidung des Newsweek-Chefredakteurs Mark Whitaker, die Kurzmeldung mit einer aus einem Satz bestehenden Erklärung als in dieser Form nicht mehr haltbar zurückzunehmen: "Gestützt auf das, was wir jetzt wissen, ziehen wir unsere ursprüngliche Story, dass eine interne militärische Untersuchung die Misshandlung des Korans in Guantanamo aufgedeckt habe, zurück."
Es kann davon ausgegangen werden, dass es keine Maßregelung der beteiligten Journalisten, schon gar nicht Entlassungen geben wird, wie sie die britische BBC im vergangenen Jahr in einem sehr ähnlichen Fall vornahm. Auch damals hatte eine Insiderquelle nachträglich einen Rückzieher gemacht, der nicht die Substanz der Meldung - in jenem Fall die Kriegslügen von Tony Blair und anderen Regierungspolitikern - betraf. Obwohl der verantwortliche Journalist keinen schwerwiegenden professionellen Fehler gemacht hatte und in der Hauptsache völlig korrekt berichtet hatte, ließ die BBC ihn fallen wie eine heiße Kartoffel.
Die vergleichsweise regierungskritischen, den Demokraten nahestehenden Medien der USA - dazu gehören neben der Newsweek auch die im selben Verlag erscheinende Tageszeitung Washington Post sowie die New York Times - scheinen fest entschlossen, sich nicht den schwarzen Peter für das auf einem Tiefpunkt befindliche Ansehen des Landes in der islamischen Welt zuschieben zu lassen. Statt eines "Rückziehers" in der Sache kann man in diesen Medien derzeit mehr Berichte über die Misshandlung der Gefangenen in den US-Lagern lesen als jemals zuvor. Eine Rundreise von Mark Whitaker durch die moslemischen Metropolen als Kronzeuge der Bush-Administration scheint nicht auf der Tagesordnung zu stehen. Möge es so bleiben!
Knut Mellenthin
Junge Welt, 20. Mai 2005