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Der Massenmörder und die Biedermänner

„Viele Ideen von Anders Behring Breivik sind gut, einige sogar sehr gut. Er wurde instrumentalisiert. Es ist der Einwanderer-Invasion anzulasten, dass seine Ideen dann zur Gewalt geführt haben.“ - Zur Erläuterung seiner Wertschätzung für die Weltanschauung des norwegischen Massenmörders führte Mario Borghezio, Europaabgeordneter der italienischen Lega Nord, an: „Das 'Nein' zur multi-rassischen Gesellschaft, die harte Kritik an der Feigheit eines Europas, das vor der islamischen Invasion kapituliert zu haben scheint, die Notwendigkeit einer identitären und christlichen Antwort im Tempelritter-Stil auf die Überflutung mit globalistischen Ideen, sind bereits gemeinsames Vermächtnis der Europäer.“ Mit „identitär“ ist in diesem Zusammenhang eine Ideologie und Politik gemeint, die die nationale und kulturelle Identität einzelner Völker und Volksgruppen – im Gegensatz zu multikulturellen Formen des Zusammenlebens – hervorhebt.

Nachdem die Führung seiner Partei sich von ihm distanziert hatte, rückte Borghezio von seinen Äußerungen teilweise ab, indem er hervorhob, dass Breivik „ein Wahnsinniger“ sei. Inzwischen hatte sich aber schon sein Parteifreund und Kollege im Europaparlament, Francesco Speroni, mit Borghezio solidarisiert und seinerseits erklärt, dass Breiviks Vorstellungen „im Dienst der Verteidigung der westlichen Zivilisation“ stünden.

Die Lega Nord, die schon mehrfach direkt an rechten Regierungskoalitionen beteiligt war und Minister stellte, ist militant einwandererfeindlich und chauvinistisch. Darüber hinaus tritt die Partei führ die Lostrennung Norditaliens vom Rest des Landes ein. Ihre besondere Feindschaft richtet sich gegen Angehörige der islamischen Glaubensgemeinschaft. Immer wieder führt die Lega Kampagnen gegen die Errichtung von Moscheen. Eine häufig eingesetzte Aktionsform ist dabei das demonstrative Führen von Schweinen über vorgesehene Bauflächen, um diese rituell zu verunreinigen.

Abgesehen von wenigen Ausreißern ist das internationale Spektrum antimoslemisch orientierter Parteien, Organisationen und Autoren bemüht, Breivik als exzentrischen Spinner darzustellen, mit dessen „wirrer Ideologie“ man absolut nichts zu tun habe und für dessen verbrecherische Taten man in keiner Weise verantwortlich sei. Dahinter steht offen oder nur notdürftig verhüllt der Wunsch, möglichst schnell wieder zur propagandistischen Tagesordnung überzugehen und weiterzumachen, als wäre nichts geschehen.

Einer der heftigsten Agitatoren in Springers WELT, Richard Herzinger, schrieb geradezu idealtypisch am 31. Juli auf seiner Website: „Während hierzulande sogenannte 'Islamkritiker' (…) pauschal als geistige Anstifter des Massenmörders von Oslo und Utøya angeprangert werden (…), gehen draußen in der wirklichen Welt von unserer redundanten 'Debattenkultur' weitgehend unbeachtete, aber für unsere Zukunft einschneidende Dinge vor sich. Der Vormarsch des radikalen Islamismus nimmt nicht nur in Ägypten, sondern auch in Tunesien immer bedrohlichere Formen und Ausmaße an.“ Überschrift: „Nachricht aus der wirklichen Welt: Der Islamismus ist auf dem Vormarsch.“

Auf SPIEGEL Online empörte sich Jan Fleischhauer, die kritische Auseinandersetzung mit den geistigen Wurzeln von Breiviks Weltanschauung diene nur dazu, „die Diskursräume zu verengen, Publikationsgehege abzustecken“. Der Norweger sei „ein verwirrter Geist, der sich eine Wahnwelt zusammengezimmert hat“. Tatsächlich aber hat der Massenmörder an seiner Weltanschauung sehr wenig selbst gezimmert. Viel mehr bewegte er sich in Wahnvorstellungen, die seit Jahren auf überwiegend englischsprachigen Websiten verbreitet werden. Die wichtigsten international beachteten Autoren und Seitenbetreiber heißen Bat Ye'or, Robert Spencer (jihadwatch.org., FrontPage Magazine), Pamela Geller (atlasshrugs2000.typepad.com) und Bruce Bawer. Im skandinavischen Raum genießt außerdem der nur unter seinem Pseudonym bekannte norwegische Blogger „Fjordman“ geradezu Kultstatus. Von ihm hat Breivik für sein 1500-Seiten-Manifest lange Passagen wörtlich übernommen. Fleischhauers Argument, der Massenmörder habe Autoren wie Henryk Broder und Thilo Sarrazin „nachweislich nie gelesen, weil er kein Deutsch kann“, geht auf jeden Fall an der Tatsache vorbei, dass Breivik deren Äußerungen durch Übersetzungen „Fjordmans“ und anderer Quellen bekannt waren. (Ob er wirklich kein Deutsch kann, ist ungewiss.)

Breiviks Weltanschauung folgt weitgehend den „Eurabia“-Thesen der unter ihrem Künstlernamen Bat Ye'or bekannten Britin Gisèle Littman. Innerhalb des breiten Spektrums antimoslemischer Agitation und Propaganda stellt der „Eurabia“-Komplex eine besonders aggressive, ideologisch geschlossene Variante dar. Die Autorin hat den Begriff „Eurabia“ zwar nicht erfunden, wohl aber dessen Anwendung als Schimpfwort für die herbeiphantasierte „Islamisierung“ Europas. Sie behauptet, dass es aufgrund der sogenannten Ölkrise von 1973-74 zu einer äußerst geheimen Verschwörung zwischen den europäischen und arabischen Eliten gekommen sei. Europa habe sich dadurch vom Bündnis mit den USA gelöst, sei „in den arabisch-islamischen Einflussbereich übergewechselt“, habe „vor der Islamisierung kapituliert“ und führe einen „versteckten Krieg gegen Israel“.

Die in dieser Szene herrschende Geisteshaltung zeigt sich in reißerisch-wahnhaften Artikelüberschriften wie „How Europe Died“, „While Europe Slept“, „Londonistan: How Britain is creating a terror state within“, „Europe's Suicide?“, „The Slow Death of Europe“, „Eurabia is no Fairytale“, „The Rapid Islamization of Europe“, „Eurabian Nightmares“, „Goodbye Europe, Hello Eurabia“, „The Muslim Brotherhood's Conquest of Europe“ oder „Why Al-Qaeda Will Dominate the European Union“. Im Hintergrund der so propagierten Weltanschauung steht die im 19. Jahrhundert entstandene vulgärdarwinistische Theorie vom ewigen Kampf der Rassen und Kulturen, in dem die Schwachen untergehen und die Stärkeren über kurz oder lang die Weltherrschaft an sich reißen. Die selbe Theorie lag auch dem historischen Antisemitismus und dem von Adolf Hitler entwickelten Nationalsozialismus zugrunde.

Die Grundstimmung, die von den maßgeblichen Autoren der moslemfeindlichen Szene vermittelt und auf hunderten von Webseiten und Blogs breitgetreten wird, ist paranoisch, hysterisch und aggressiv. Der vermeintlichen existentiellen Gefährdung Europas, die angeblich durch die Selbstaufgabe der herrschenden Eliten kampflos hingenommen und sogar noch kollaborierend vorangetrieben wird, setzen die Vordenker der „Eurabia“-Ideologie eine Kreuzzugs-Propaganda, und zwar durchaus im wörtlichen Sinn entgegen. Die Beziehungen zwischen der islamischen Welt und Europa werden als bis in die Gegenwart und Zukunft reichende Kette gewalttätiger Konfrontationen zusammengefasst, die mit der arabischen Invasion der iberischen Halbinsel beginnen. Die Reihe führt weiter über die Reconquista und die Kreuzzüge zur letzten Belagerung Wiens durch ein türkisches Heer (1683). Als aktuelle Phase dieses „Clash of Civilizations“ wird der „demographische Jihad“ interpretiert. Gemeint ist die Einwanderung von Menschen aus islamisch geprägten Staaten nach Europa und ihre höhere Geburtenrate.

Der öffentlich zur Schau gestellten Sympathie für den Staat Israel kommt in diesem politisch-ideologischen System – ebenso wie auch in Breiviks Manifest - besondere Bedeutung zu. Für rechtspopulistische Parteien, zumal wenn sie durch rechtsextreme oder gar pro-nazistische Traditionen belastet sind, stellt das Bekenntnis zu Israel eine Eintrittskarte in den Club salonfähiger, also tendenziell auch regierungsfähiger Politiker dar. Darüber hinaus verkörpert Israel aber jenseits opportunistischen Kalküls gerade für radikale Verfechter der Kreuzzugs-Ideologie auch das Vorbild einer militärisch wehrhaften Gemeinschaft und damit das Gegenmodell zur unterstellten Kapitulation und Kollaboration der multikulturellen, liberalen und dekadenten europäischen Gesellschaften.

Seit dem Antritt von Benjamin Netanjahu als Chef einer Koalition von Rechten und Ultrarechten Ende März 2009 ist Israel zum Wallfahrtsort rechtspopulistisch-moslemfeindlicher europäischer Politiker geworden. Im Dezember 2010 reiste eine Delegation an, der Heinz Christian Strache von der österreichischen FPÖ, René Stadtkewitz von der neugegründeten deutschen Partei Die Freiheit, Filip Dewinter vom belgischen Vlaams Belang und Kent Ekeroth von den Schwedischen Demokraten angehörten. Einlader war ein früherer Abgeordneter der an der Regierung beteiligten Ultrarechts-Partei Jisrael Beitenu.

In einer gemeinsamen „Jerusalemer Erklärung“ der vier Politiker war die Rede davon, dass die Menschheit „einer neuen weltweiten totalitären Bedrohung“ in Gestalt des „fundamentalistischen Islam“ gegenüberstehe und dass man selbst „an vorderster Front des Kampfes für die demokratische westliche Wertegemeinschaft“ stehe. Der Islam sei „ein totalitäres System mit dem Ziel der Unterwerfung der Welt“.

Der eigentliche Star der Szene, Geert Wilders von der niederländischen Partei für die Freiheit, war einen Tag vor dem Quartett in Tel Aviv angekommen, achtete aber demonstrativ auf Distanz. Das ist nicht weiter verwunderlich, da seine Beziehungen nach Israel sehr viel älter, emotionaler und nicht vom Verdacht eines modischen Opportunismus belastet sind. Während die Vier sich mit israelischen Politikern dritter Ordnungs als Gesprächspartner begnügen mussten, wurde Wilders von Außenminister Avigdor Lieberman empfangen. Und während jene zum Teil auf pro-palästinensische Sympathien in ihren Parteien Rücksicht nehmen mussten, verkündete der Niederländer gerade heraus: Kein Rückzug aus der besetzten Westbank, „Juden müssen Judea und Samaria besiedeln“, „ohne Judea und Samaria kann Israel Jerusalem nicht schützen“. Er setzte hinzu: „Wenn Jerusalem fällt, sind Amsterdam und New York als nächste dran.“

Knut Mellenthin

Neues Deutschland, 9. August 2011