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Ballast-Existenzen
Deutschland wird immer dümmer: Die Tatsache, dass sein Antimoslem-Buch schon vor dem Erscheinen außerordentlich hohe Verkaufszahlen aufweist, scheint zumindest auf den ersten Blick die These von Thilo Sarrazin zu bestätigen. Rassistischer, biologistischer und pseudo-darwinistischer Blödsinn kommt an, weil er einem großen Teil der Bevölkerung und der politischen Klasse „aus dem Herzen“ spricht. Zur Breitenwirkung seiner ebenso bösartigen wie zutiefst dummen Ausführungen hat die Springerpresse mit Vorabdruck in der Bild und Zwei-Seiten-Interview in der WELT am Sonntag ebenso beitragen wie unfreiwillig leider auch seine zahlreichen Kritiker. Der Mann, der eigentlich nur noch die Ernte einfährt, wo lange vor ihm schon Henryk Broder, Geert Wilders und andere Rechtspopulisten gesät haben, legt es geradezu darauf an, größtmögliche Aufmerksamkeit durch „Provokation“ zu erreichen. Aber kann man einen solchen Hetzer und Ignoranten deswegen ignorieren?
„Wenn er sich ein bisschen tischfeiner ausdrückt hätte, hätte ich ihm in weiten Teilen zustimmen können“, bekannte Altbundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) ganz offen. Sarrazin spreche „die Integrationsprobleme“ in Deutschland „zwar überspitzt“ an, stimmt auch der Finanzexperte der FDP-Bundestagsfraktion, Frank Schäffler, zu, aber das müsse ja als Methode gar nicht falsch sein. Beifall auch von Necla Kelek, die sich geradezu zwanghaft einstellt, wenn irgendwo Stimmung gegen „die Moslems“ gemacht wird. „Ich teile Sarrazins Sorge um Deutschland.“
Sarrazin hat ausgerechnet, dass in 90 Jahren die jährliche Geburtenzahl bei 200.000 bis 250.000 liegen werde und dass höchstens die Häfte davon Nachfahren der 1965 in Deutschland lebenden Bevölkerung sein würden. Auf diese Weise würden sich die Deutschen selbst abschaffen. 1933 war es der nazistische Innenminister Wilhelm Fricke, der sich ganz ähnliche Sorgen machte: „Bei seiner heutigen Geburtenziffer“ sei das deutsche Volk „nicht mehr imstande, sich aus eigener Kraft zu erhalten“. Die deutschen Frauen müssten um 30 Prozent höhere „Gebärleistungen“ erbringen, „um den Volksbestand in der Zukunft zu sichern“.
Ebenso wie Sarrazin hatte es Hitlers Innenminister neben der abnehmenden Geburtenzahl auch „die Güte und Beschaffenheit unserer deutschen Bevölkerung“ angetan. Die sah er allerdings anders als Sarrazin nicht durch Migranten – die es damals noch nicht in nennenswerter Zahl gab – und angeblich genetisch „minderintelligente“ Unterschichtsangehörige gefährdet, sondern durch „Erbkranke“ und „Schwachsinnige“. Wie man sich später die sogenannten „Ballast-Existenzen“ - ein Begriff, der durchaus auch bei Sarrazin stehen könnte, wenn er nicht historisch allzu belastet wäre – vom Halse schaffte, ist bekannt. So weit würde selbstverständlich heute niemand mehr gehen.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 30. August 2010