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Zwangsvertreibung mit Anti-Terror-Zertifikat

Pakistan ist seit Ende voriger Woche dabei, Zehntausende afghanische Flüchtlinge und deren Nachkommen gewaltsam aus dem Land zu treiben. Die brutale Aktion, die international weithin ignoriert wird, gilt als pakistanischer Beitrag zum „Krieg gegen den Terror“.

Am Morgen des 3. Oktober – Freitag voriger Woche – hatten die regionalen Behörden alle im Bezirk Bajaur lebenden Menschen afghanischer Herkunft aufgefordert, Pakistan innerhalb von drei Tagen zu verlassen. Die Frist lief am Sonntagabend ab. Bis dahin hatten nur 15.000 von schätzungsweise 50.000 bis 80.000 Betroffenen „freiwillig“ den Weg nach Afghanistan angetreten. Die meisten zu Fuß in langen Zügen, mit wenigem Eigentum und zusammen mit ihrem Vieh. Seit Montag wird die Vertreibung mit offenem Zwang intensiviert und beschleunigt.

Bajaur ist die kleinste, aber am dichtesten besiedelte Verwaltungseinheit unter den sieben sogenannten Agenturen der Bundesstaatlich Verwalteten Stammesgebiete (FATA) im Nordwesten Pakistans. Bajaur ist seit über zwei Monaten Schauplatz extremer Formen der Aufstandsbekämpfung, mit denen die pakistanische Regierung sich dem zunehmenden Interventionsdruck der US-Regierung zu entziehen versucht. Auch die Vertreibung der Afghanen wird nun mit der unbewiesenen Behauptung gerechtfertigt, viele von ihnen würden bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte unterstützen.

Die meisten dieser Menschen stammen ursprünglich aus der angrenzenden afghanischen Provinz Kunar. Sie flüchteten in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts vor dem Bürgerkrieg nach Pakistan, sind dort inzwischen längst sesshaft geworden und haben Familien gegründet, viele von ihnen betreiben kleine Läden. Es handelt sich um Menschen, die in die übrige Bevölkerung integriert leben, denn die letzten Flüchtlingslager wurden in Bajaur schon 2005 aufgelöst. Nicht wenige sind durch Heirat mit pakistanischen Familien verbunden.

Die jetzt eingeleitete Massenvertreibung muss daher auch mit Gewaltmaßnahmen gegen die pakistanische Bevölkerung durchgesetzt werden. Schwere Strafen drohen allen Pakistanis, die Wohnungen oder Läden an Afghanen vermietet haben und die jetzt nicht bei deren Vertreibung mitwirken, sowie überhaupt allen, die jetzt noch den aus Afghanistan stammenden Menschen Unterschlupf gewähren, sie verstecken oder mit ihnen Geschäfte machen. Alle Läden im Besitz von Afghanen wurden inzwischen versiegelt. Viele Betroffene wurden in Abschiebehaft genommen. Die verlassenen und geräumten Häuser werden mit Bulldozzern zerstört, um eine Rückkehr der Bewohner zu verhindern. In Peschawar, der Hauptstadt der nordwestlichen Grenzregion, wurden Ausnahmeregelungen und scharfe Polizeimaßnahmen angeordnet, um Vertriebene fern zu halten. An allen nach Peschawar führenden Straßen wurden zusätzliche Kontrollstationen eingerichtet. Die Polizei der Stadt macht Jagd auf Afghanen, die sich angeblich illegal dort aufhalten.

Darin deutet sich bereits an, dass Bajaur vermutlich kein Einzelfall bleiben wird, sondern als Modell dienen soll. Der Minister für die Grenzregionen, Nadschmuddin Khan, forderte am Dienstag die „internationale Gemeinschaft“ auf, Pakistan bei der „Repatriierung“ der Flüchtlinge aus Afghanistan zu helfen, deren aktuelle Zahl er mit drei Millionen angab. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, hat allerdings nur 1,8 Millionen Afghanistan-Flüchtlinge in Pakistan registriert.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 9. Oktober 2008