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Im Schatten der Kaukasus-Krise: Humanitäre Katastrophe in Pakistan

Während Russlands Reaktion auf die georgische Aggression gegen Südossetien seit einer Woche zentrales Thema der Medien ist, spielen sich kaum beachtet im Nordwesten Pakistans menschliche Tragödien von noch größerem Umfang und nicht weniger großer politischer Tragweite ab. Am neunten Tag einer militärischen Strafexpedition gegen den Bezirk Bajaur in den sogenannten Stammesgebiete befanden sich über 100.000 Menschen auf der Flucht. Die genaue Zahl weiß niemand, worin sich zugleich die Tatsache widerspiegelt, dass es keine organisierte Betreuung der Flüchtenden und Vertriebenen gibt. Die englischsprachige pakistanische Tageszeitung The News sprach am Freitag von „Hundertttausenden“ auf der Flucht. Die Nachrichtenagentur AP gab die Zahl unter Berufung auf den Gouverneur der Nordwestprovinz, in deren Hauptstadt Peschawar sich Zehntausende geflüchtet haben, mit rund 219.000 an.

Viele haben ihre Häuser und fast ihren gesamten Besitz verlassen, weil die „Sicherheitskräfte“ bei ihrem Feldzug gegen mutmaßliche Aufständische immer wieder schwere Artillerie, Hubschrauber und Kampfflugzeuge gegen Ortschaften einsetzen. Noch mehr sind Opfer systematischer Vertreibung. Von Hubschraubern aus werden Flugblätter abgeworfen, in denen die Bevölkerung aufgefordert wird, sofort bestimmte Gebiete zu räumen. Die Blätter enthalten genau Verhaltensanweisungen, bei deren Nichtbeachtung das Risiko tödlicher Angriffe der „Sicherheitskräfte“ droht: Keine Fahrzeugbewegungen nach Sonnenuntergang. Autos dürfen nicht unter Bäumen, also im Schatten, geparkt werden. Beim Auftauchen von Hubschraubern müssen alle Flüchtlinge die Fahrzeuge verlassen und sich mit erhobenen Händen aufstellen. Wer kein Flugblatt bekommen hat oder nicht lesen kann – und das ist dort die Mehrheit der Bevölkerung – befindet sich in Lebensgefahr. Luftangriffe auf Flüchtlingskonvois sind keine Seltenheit. Viele Familien sind zu Fuß unterwegs. Eine Versorgung der Flüchtenden und Vertriebenen mit Lebensmitteln und medizinische Betreuung gibt es kaum. Zehntausende übernachten im Freien.

Bajaur ist einer von mehreren Bezirken, in denen in den letzten Monaten solche Strafexpeditionen stattfanden. Zuvor wüteten die „Sicherheitskräfte“ schon auf ähnliche Weise in den Bezirken Swat und Hangu, die nicht zu den Stammesgebieten, sondern zur Nordwestprovinz gehören. Wie pakistanische Medien am Freitag meldeten, flüchten jetzt auch schon Tausende aus dem südlich an Bajaur angrenzenden Bezirk Mohmand, weil vermutet wird, dass die „Sicherheitskräfte“ dort als nächstes zuschlagen werden.

Dabei sind diese Militäraktionen nicht einmal im Sinn der Aufstandsbekämpfung zweckmäßig und effektiv. Ihre Funktion besteht im Wesentlichen darin, der immer aggressiver drängenden Regierung in Washington zu demonstrieren, dass Pakistan die Dinge im Griff hat und kein Anlass für eine amerikanische Intervention besteht.

Knut Mellenthin
Junge Welt, 16. August 2008