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Hunderttausende auf der Flucht

Pakistanische Stammesälteste verweigern Aufruf zur Rückkehr

Ein Jahr nach Beginn der Großoffensive der pakistanischen Streitkräfte gegen die sogenannten Stammesgebiete im Nordwesten des Landes leben immer noch 1,3 Millionen Menschen als Flüchtlinge. Das geht aus einem Bericht des Hilfswerks der Vereinten Nationen, UNHCR, hervor, der am 30. April veröffentlicht wurde. Viele wurden in den letzten Jahren durch die brutal und rücksichtslos durchgeführten Militäraktionen mehrmals aus ihrer Heimat vertrieben. Die Flüchtlinge aus dem Bezirk Bajaur leben laut UNHCR schon seit 18 Monaten in Lagern oder bei Verwandten. Aus den Bezirken Orakzai und Kurram wurden allein im April 85.000 neue Flüchtlinge registriert.

Aufgrund der anhaltenden Unsicherheit weigern sich viele Menschen auch nach der offiziellen Beendigung der Kämpfe, der Anweisung der Armee zur Rückkehr in ihre Dörfer Folge zu leisten. Um dennoch eine Erfolgsbilanz vorweisen zu können, verstärken Militär und Behörden den Druck auf die Stammesältesten: Sie sollen gezwungen werden, die Flüchtlinge zur Rückkehr aufzurufen. Wie die pakistanische Presse Ende April berichtete, verweigern sich die Ältesten der Mehsud diesem Befehl. Die Mehsud sind ein in Südwasiristan lebender und dort vorherrschender Stamm. Gegen diesen Bezirk waren die Streitkräfte im Herbst vorigen Jahres vorgegangen. Dabei sollen 600 angebliche Aufständische und 93 Soldaten getötet worden sein. Die „Säuberungsaktion“ war so gründlich, dass ein Drittel aller Häuser zerstört wurden und nach UN-Schätzungen 290.000 Menschen aus den Kampfgebieten flüchteten. Von ihnen ist bisher fast niemand zurückgekehrt, wie die Nachrichtenagentur AP am 29. April berichtete.

Für die Weigerung der Mehsud-Ältesten, ihren Einfluss geltend machen, um die Flüchtlinge zur Rückkehr zu bewegen, gibt es eine Reihe plausibler Gründe. Dazu gehört die Forderung des Militärs, eine regierungstreue Miliz aufzustellen. Die Streitkräfte verlangen außerdem, dass die Ältesten 372 namentlich genannte angebliche Taliban-Unterstützer aus ihrem Stamm festnehmen und ausliefern sollen. Die Ältesten behaupten jedoch, nicht einmal zu wissen, wo sich diese Männer derzeit aufhalten. Außerdem befürchten sie mit Grund, dass sie persönlich haftbar gemacht werden könnten, falls die Auslieferung der Gesuchten nicht möglich ist. Nach den nur für die „Stammesgebieten“ geltenden Sondergesetzen ist die Verhängung von Kollektivstrafen möglich. Die Mehsud-Ältesten fordern außerdem, dass vor einer Rückkehr die Frage der Entschädigung der Flüchtlinge und der staatlichen Hilfe beim Wiederaufbau geklärt werden müsse.

Viele von ihnen fürchten auch um ihr Leben, falls sie sich auf eine Zusammenarbeit mit dem Militär und den Behörden einlassen. In den Bezirk Swat, den die Streitkräfte im vorigen Juli nach einem wochenlangen Feldzug als „gesäubert“ bezeichneten, sind inzwischen die Taliban zurückgekehrt. Sie haben mehrere Mitglieder sogenannter Friedenskomitees ermordet, die im Auftrag der Behörden und des Militärs arbeiten.

Auf der anderen Seite wurden in Swat seit der „Befreiung“ über 300 angebliche Taliban oder Taliban-Unterstützer illegal festgenommen und ermordet, wie Menschenrechtsorganisationen berichten. Mindestens 2500 „Verdächtige“, die während der Kämpfe gefangen genommen wurden, befinden sich, wie die New York Times am 22. April meldete, an unbekannten Orten in unbefristeter Haft. Sie können weder von Verwandten noch von Rechtsanwälten und Rot-Kreuz-Vertretern besucht werden.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 5. Mai 2010