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Am Rande des Zusammenbruchs

Untersuchungskommission kritisiert Vorherrschaft des Militärs in Pakistans Staat und Gesellschaft.

Der pakistanische Staat ist funktionsunfähig und weist ein „Government Implosion Syndrome“ auf. Mit diesem zwar schwer zu übersetzenden, aber trotzdem anschaulichen Begriff kennzeichnet eine Regierungskommission die Lage. Sie war zur Untersuchung der Umstände um den Tod Bin Ladens in Abbottabad eingesetzt worden und wird meist nach diesem Ort in Nordpakistan, 85 Kilometer von der Hauptstadt Islamabad entfernt, benannt. Eine mit vier Hubschraubern eingeflogene Spezialeinheit der US-Streitkräfte hatte dort in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 2011 den Gebäudekomplex überfallen, in dem Bin Laden seit August 2005 gelebt haben soll,und ihn, obwohl er keine Gegenwehr leistete, sofort erschossen. Seine Leiche wurde später ins Meer geworfen. Das ist zumindest die offizielle Darstellung.

Die einige Wochen nach dem Überfall eingesetzte Abottabad-Kommission sollte zum einen klären, wie es geschehen konnte, dass die amerikanische Spezialeinheit ungehindert und angeblich sogar unbemerkt nach Pakistan eindringen und das Land wieder verlassen konnte – ein Vorgang, der insgesamt ungefähr drei Stunden dauerte. Die von einem Richter geleitete fünfköpfige Arbeitsgruppe sollte aber auch der Frage nachgehen, warum Bin Laden, seine Familie und seine Begleitung sich jahrelang in Pakistan aufhalten konnten, ohne dass es anscheinend jemand aufgefallen war. Dabei ging es auch um den Verdacht, dass der Vielgesuchte Helfer im pakistanischen Staatsapparat, insbesondere in den Sicherheitskräften, gehabt haben könnte.

Herausgekommen ist ein 336 Seiten starker Bericht, der aufgrund von rund 200 Zeugenaussagen nicht nur Bin Ladens Aufenthaltsorte in Pakistan und den Ablauf der knapp 40 Minuten dauernden Kommandoaktion nachzeichnet, sondern auch eine äußerst scharfe und offene Kritik der pakistanischen Staatsstrukturen liefert, wie man sie in dieser Form bisher nur von einzelnen Intellektuellen hören und lesen konnte.

In den Ereignissen jener Nacht seien eine ganze Reihe von Fällen der Ignoranz und mangelhafter Politik zusammengetroffen, heißt es da. Die Fehler lägen in erster Linie auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik und hätten ihre Wurzeln „in politischer Verantwortungslosigkeit und in einer militärischen Ausübung der Macht und des Einflusses in Politik und Verwaltung“. Für diese Art der Machtausübung – durch die Führung der Streitkräfte und deren Geheimdienst ISI - gebe es „weder eine verfassungsmäßige oder gesetzliche Grundlage noch die notwendige Erfahrung und Kompetenz“. Die Personen, die von Rechts wegen für die Gestaltung der Politik verantwortlich wären, seien „tatsächlich sogar noch inkompetenter als das Militär“, weil es „über einen sehr langen Zeitraum hin“ keine zivile Teilhabe am nationalen Entscheidungsprozess gegeben habe. „Alle Aspekte der nationalen Politik, einschließlich der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, müssen unter repräsentativer ziviler Kontrolle formuliert und umgesetzt werden.“ Anderenfalls würde Pakistan auch künftig „Demütigungen“ wie am 1.-2. Mai 2011 erleiden, die unter Umständen sogar seine Existenz gefährden könnten.

Die Kommission kritisiert auch die US-Regierung, deren Kommandoaktion in Abbottabad „eine Kriegshandlung gegen Pakistan“ gewesen sei. Von der amerikanischen Botschaft in Islamabad heißt es, dass sie mit ihren Aktivitäten gegen die diplomatischen Normen und Traditionen verstoße. Pakistan müsse sich vorbehalten, die Zusammenarbeit mit dem US-Auslandsgeheimdienst CIA zu unterbrechen, „bis dieser sein Verhalten überprüft“. Die Beziehungen zu den USA im Bereich der Sicherheitspolitik müssten über „offizielle Kanäle“ abgewickelt werden, statt sie dem Militär und dem ISI zu überlassen.

Der Bericht lag intern schon seit einiger Zeit vor. Der ausdrücklichen Aufforderung der Kommission, ihn zu veröffentlichen, wollte die Regierung jedoch offenbar nicht nachkommen. Das besorgte stattdessen der Sender Al-Jazeera, der das Dokument am Montag ins Netz stellte.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 12. Juli 2013