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Zwischen Haftlagern und "freiwilliger Rückkehr"
Die EU will sich von den internationalen Fluchtbewegungen freikaufen. Über 5000 Flüchtlinge ertranken 2016 im Mittelmeer.
Die Flüchtlingsabwehr der EU-Staaten macht Fortschritte. Ein Sprecher der libyschen Küstenwacht meldete am Sonnabend, dass seit Donnerstag 431 „illegale Migranten“ festgenommen wurden, die mit Schlauchbooten auf dem Weg nach Europa waren. Unter ihnen seien viele Frauen und Kinder. Schauplatz waren die Territorialgewässer vor Sabratha, das rund 70 Kilometer westlich der Hauptstadt Tripoli liegt. Im selben Seegebiet waren nach Angaben des Sprechers schon am 27. Januar drei Holzschiffe aufgebracht worden, in denen sich etwa 700 Flüchtlinge befanden.
Aufgrund der Vereinbarungen mit der EU werden Flüchtlinge, die von der libyschen Küstenwache gefasst werden, in scharf bewachten Lagern interniert, bis sich eine Gelegenheit zur „freiwilligen Rückkehr“ bietet. Praktisch handelt es sich dabei um Massenabschiebungen von jeweils mehreren hundert Menschen. Meist werden sie von der International Organization for Migration (IOM) durchgeführt, die seit Jahrzehnten weltweit tätig ist. Neben humanitären Aktivitäten hat sich die IOM zum Dienstleister für das Organisieren von Abschiebungen entwickelt. Seit dem Sturz und der Ermordung von Muammar al-Gaddafi im Herbst 2011 hat die IOM nach eigenen Angaben mehr als 11.000 „illegalen Migranten“ zur „freiwilligen Rückkehr“ aus Libyen verholfen.
Die Betroffenen werden oft als „Gestrandete“ bezeichnet, was die Massenabschiebungen geradezu als Rettungsaktion aus akuter Not darstellt. In Wirklichkeit signalisiert aber genau diese Wortwahl, dass es sich um Menschen handelt, denen keine andere Alternative als die kollektive „Heimkehr“ offensteht. Das gilt besonders in Libyen, wo die in den Lagern gefangen Gehaltenen allen Formen körperlicher und psychischer Misshandlung, einschließlich Vergewaltigungen, ausgesetzt sind. Betrieben werden die meisten dieser Lager von Milizen, die auch an der Organisierung der Fluchtboote beteiligt sind. Oft werden internierte Flüchtlinge als Zwangsarbeiter eingesetzt oder „vermittelt“, um das Geld für die Weiterreise aufzubringen.
Seit vorigem September ist die IOM, deren Status bis dahin ungeklärt war, der UNO angegliedert. Einem entsprechenden Beschluss hatte die Vollversammlung am 25. Juli 2016 zugestimmt. Die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen dürfen sich nach ihren eigenen Grundsätzen nicht an Massenabschiebungen beteiligen, sondern können nur bei Flüchtlingsumsiedlungen mitwirken, die „freiwillig und in Würde“ erfolgen. Tatsächlich ist aber sogar das Flüchtlingshilfswerk der UNO, UNHCR, im Namen einer pragmatischen Menschlichkeit dazu übergegangen, bei der Massenvertreibung von Flüchtlingen in ihre früheren Heimatländer, insbesondere durch Kenia und Pakistan, mitzuwirken.
Die EU strebt die Schaffung oder Erhaltung von Internierungslagern vor allem in Nordafrika und anderen Teilen des Kontinents an. Durch finanzielle Beteiligung und unterschiedliche Leistungen an die betroffenen Länder will sich die Union auf längere Sicht aus der Aufnahme von Flüchtlingen herauskaufen. Die Ausbildung und technische Unterstützung nationaler Grenzschützer wie der libyschen Küstenwache soll dazu führen, Fluchtbewegungen möglichst weit von den EU-Grenzen entfernt aufzufangen.
Als erster europäischer Staat hat Italien am vorigen Donnerstag mit der international anerkannten, aber im eigenen Land umstrittenen Regierung in Tripoli eine allerdings nicht rechtsverbindliche Vereinbarung abgeschlossen, die ausdrücklich die Unterstützung von Internierungslagern auf libyschem Boden vorsieht. Diese Lager sollen „unter ausschließlicher Kontrolle des libyschen Innenministeriums“ stehen. Das ist angesichts der Schwäche der Zentralregierung illusorisch, impliziert aber, dass Italien und die EU dort keine Rechte und gleichzeitig auch keine Verantwortung haben. Als Zweck der Lager wird in der Vereinbarung beschrieben, dass die Flüchtlinge dort „bis zur Repatriierung oder der freiwilligen Rückkehr in ihre Ursprungsländer“ bleiben sollen. Der Unterschied zwischen beidem ist nicht klar.
Einen Tag später versicherten die Staats- und Regierungschefs der EU bei einem Gipfeltreffen auf der Insel Malta, dass die Union die italienisch-libysche Einigung begrüße und bereit sei, deren Umsetzung zu unterstützen. Weiter heißt es in der gemeinsamen Abschlusserklärung, dass die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache fortgesetzt und verstärkt werden soll. Zusammen mit dem UNHCR und der IOM wolle die Union für „angemessene Aufnahmekapazitäten“ auf libyschem Boden sorgen. Die IOM soll auch mit dem Ziel unterstützt werden, ihre Aktivitäten zur „freiwilligen Rückkehr“ von Flüchtlingen „wesentlich zu steigern“.
Nach Angaben der EU sank 2016 die Zahl der in Europa ankommenden Schutzsuchenden und Migranten gegenüber dem Vorjahr auf ein Drittel. Hauptgrund ist die fast vollständige Sperrung der Fluchtwege über das östliche Mittelmeer. Die IOM meldete, dass im vergangenen Jahr mindestens 5.083 Menschen auf der Flucht nach Europa ertrunken seien. Das ist ein trauriger neuer „Rekord“.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 6. Februar 2017