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Verbrecherischer Egoismus

EU-Staaten „ertüchtigen“ Libyen zum Einfangen von Flüchtlingen, aber lehnen Verantwortung für die Folgen ab.

In Libyen nimmt der Widerstand gegen Italiens neue Militärmission zu. Fathti Madschbri, einer der vier Stellvertreter von Regierungschef Fajes Serradsch, verurteilte die geplanten Operationen italienischer Kriegsschiffe in libyschen Hoheitsgewässern als Verletzung der Souveränität seines Landes. Madschbri forderte eine Dringlichkeitssitzung des Kabinetts und rief die UNO, die Arabische Liga und die Afrikanische Union zum Eigreifen auf.

Zuvor hatten sich schon das Abgeordnetenhaus in der ostlibyschen Hafenstadt Tobruk und der von diesem autorisierte Führer der sogenannten „Libyschen Nationalarmee“, Khalifa Haftar, gegen die italienischen Pläne ausgesprochen. Haftar hat seiner Truppe befohlen, jedes Schiff anzugreifen, das ohne seine Erlaubnis in den libyschen Territorialgewässern fährt; nur Handelsschiffe sind davon ausgenommen. Praktisch ernst zu nehmen ist diese Ankündigung jedoch nicht: Erstens sind Haftars Kräfte viel zu gering, um eine militärische Konfrontation mit Italien zu riskieren. Zweitens wird der Warlord sich hüten, seine guten Kontakte zu Frankreich, Großbritannien, Russland und nicht zuletzt auch Italien durch abenteuerliche Aktionen aufs Spiel zu setzen. Aber dass Italiens Politik die inneren Widersprüche Libyens verschärft, ist offensichtlich. 

Das römische Parlament hat die geplante Militärmission, mit der die Abwehr von Flüchtlingen im zentralen Mittelmeer verstärkt werden soll, am Mittwoch mit großer Mehrheit gebilligt. Wenige Stunden später fuhr das italienische Kriegsschiff „Commandante Borsini“ in die libyschen Hoheitsgewässer ein. Sein Ziel war der Marinestützpunkt im Hafen von Tripoli, wo das Schiff nun für längere Zeit stationiert bleiben soll. An Bord befand sich eine Gruppe von Führungsoffizieren der italienischen Streitkräfte, die die neue Militärmission vorbereiten soll. 

Indessen meldete die Regierung in Rom am 1. August einen starken Rückgang der Flüchtlingszahlen: Im Juli seien nur 10.781 Menschen über das Mittelmeer in Italien angekommen, nicht einmal halb so viele wie im gleichen Monat des Vorjahres. Als wesentlichen Hintergrund dieser erstaunlichen Entwicklung sehen italienische Medien die bessere Ausstattung der libyschen Küstenwache und deren intensivere Koordination mit der EU-Marinemission EUNAVFOR Med. Italien hat in diesem Jahr bereits vier Patrouillenboote nach Libyen geliefert, sechs weitere sollen in den nächsten Monaten folgen. Dadurch kann die Küstenwache sehr viel mehr Flüchtende „aufgreifen“ und aufs Festland zurückbringen. Allein am Sonnabend sollen 800 Migranten davon betroffen gewesen sein. Diesen Trend zu fördern, ist ein Ziel der neuen italienischen Mission. 

Für die Folgen scheinen sich die EU-Regierungen nicht verantwortlich und rechenschaftspflichtig zu fühlen. Die Situation in den libyschen Internierungslagern ist bekanntermaßen jetzt schon menschenunwürdig, Verbrechen gegen die dort gefangen gehaltenen und ausgebeuteten Menschen sind an der Tagesordnung. Außerdem befinden die Lager sich an der Obergrenze ihrer Kapazität. Die „Repatriierung“ von „gestrandeten“ Flüchtlingen in ihre Heimatländer, die nach Lage der Dinge nicht freiwillig ist, bleibt hinter dem Zuwachs weit zurück. Der Dienstleister für solche Aufgaben, die IOM (International Organization for Migration), will bis Jahresende maximal 10.000 Menschen aus Libyen „repatriieren“.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 7. August 2017