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Palästina-Israel: Ungewissheit und Ungeduld wachsen

Seit dem 4. Juni steht offiziell fest, was sich schon seit über zwei Monaten abzeichnete: Die auf den 17. Juli angesetzte Neuwahl des palästinensischen Parlaments ist ohne Festlegung eines neuen Termins verschoben worden. Noch am 20. Mai hatte Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas während eines Besuchs in Indien versichert, die Wahl werde wie geplant stattfinden.

Die verfassungsmäßige Amtszeit des 1996 gewählten Parlaments endete schon vor vier Jahren, eine Neuwahl ist also seit langem überfällig. Die islamistische Hamas hatte 1996 die Wahl boykottiert. Im laufenden Jahr hat sie mit großen Erfolgen an den Kommunalwahlen teilgenommen und will auch zur Parlamentswahl antreten. Diese soll jetzt frühestens im nächsten Januar stattfinden - und jedenfalls wohl erst nach Abschluss des israelischen Abzugs aus dem Gaza-Gebiet, von dem niemand genau weiß, ob und wann er überhaupt kommen wird.

Bei den bisher abgehaltenen Kommunalwahlen im Dezember, Januar und Mai hat Hamas sehr gut abgeschnitten, auch wenn ein genauer Vergleich der Ergebnisse nicht möglich ist und sowohl Fatah als auch Hamas sich als Sieger bezeichnen. Sicher ist, dass Fatah vor allem in kleinen Orten mit weniger als 4.000 Stimmberechtigten gewonnen hat, während Hamas in den Städten zumeist vorn liegt. So in Qalqilyah auf der Westbank sowie in Rafah, Beit Lahia und im Flüchtlingslager Bureij im Gaza-Streifen. Im mehrheitlich christlichen Bethlehem gewann Hamas fünf der sieben für Moslems reservierte Ratssitze.

In den großen Städten wie Gaza, Nablus, Hebron, Ramallah, Jenin und Tulkaram, wo Abbas offenbar Siege der Hamas befürchtet, fanden bisher noch keine Kommunalwahlen statt. Mehr noch: dort steht bisher nicht einmal ein Wahltermin fest.

Erster Fatah-Kongress seit 1989 verschoben

Am 5. Juni wurde ein weiteres Ereignis abgesagt, das bei der demokratischen Reform der palästinensischen Strukturen eine zentrale Rolle spielen sollte: Der Kongress der Fatah, der größten und einflussreichsten Organisation innerhalb der PLO, wird nicht wie seit langem angekündigt am 4. August stattfinden, sondern zu irgendeinem späteren Zeitpunkt, der noch bekannt gegeben werden soll.

Der letzte ordentliche Fatah-Kongress fand 1989 in Tunis statt. In der seither vergangenen Zeit hat sich ein riesiger Diskussions-, Entscheidungs- und Handlungsbedarf aufgebaut. Dazu gehören die Auseinandersetzung zwischen den Fraktionen der Organisation und die Behandlung der Korruptionsvorwürfe gegen die "alte Garde", die dem Ansehen der Fatah in der palästinensischen Bevölkerung großen Schaden zufügen.

Ein Problem, das sich in den letzten Monaten sehr verschärft hat, sind die Konsequenzen, die sich aus der von der US-Regierung aufgenötigten und kontrollierten "Reform der Sicherheitskräfte" ergeben. In der Praxis bedeutet das Zerschlagung der bestehenden Strukturen, Personalwechsel in Führung und Offizierkorps, sowie Massenentlassungen und Arbeitslosigkeit für viele Betroffene. Immer wieder ist es deswegen, seit Abbas im Januar zum Präsidenten gewählt wurde, zu Meutereien von Fatah-Angehörigen gekommen. Das reichte von bewaffneten Demonstrationen bis zur Erstürmung von Polizei- und Regierungsgebäuden, und in einem Fall sogar zu Schüssen auf den Präsidentensitz in Ramallah.

Zeitplan für Israels Abzug unklar

Die unbefristete Verschiebung von Parlamentswahl und Fatah-Kongress zeigt den Druck und die Legitimationsschwierigkeiten, unter denen Abbas und sein Führungskreis stehen. Mehrere Faktoren wirken dabei zusammen.

Zum einen hat die Verzögerung des israelischen Abzugs aus dem Gaza-Gebiet erwartungsgemäß auch den Zeitplan der palästinensischen Seite durcheinander gebracht. Ursprünglich sollten israelische Polizei und Armeekräfte am 25. Juli mit der Räumung der 21 Siedlungen im Gaza-Streifen beginnen. Dann hätte die palästinensische Parlamentswahl im Zeichen der angelaufenen Vorbereitungen stattgefunden, und der Fatah-Kongress wäre genau in die Zeit der Räumungsaktionen gefallen. Das hätte Mahmud Abbas und der Fatah-Führung ermöglicht, mit vorzeigbaren Erfolgen in die Auseinandersetzung mit der Opposition sowohl in den eigenen Reihen wie auch seitens der islamistischen Organisationen zu gehen.

Stattdessen sollen jetzt die Räumungsaktionen, bei denen mit militantem Widerstand vieler Siedler und ihrer Unterstützer aus ganz Israel gerechnet wird, erst am 16. oder 17. August beginnen. Angegebener Grund der Verschiebung: Die Räumung würde sonst auf hohe jüdische Feiertage fallen, während denen nach dem Gutachten eines Oberrabbiners strenggläubige Juden nicht den Wohnsitz wechseln dürfen. Die Begründung ist durchaus plausibel. Fragwürdig ist jedoch, warum die Regierung diesen Punkt in ihrer Planung nicht früher berücksichtigt hatte. Über den Abzug aus dem Gaza-Streifen spricht Scharon schon seit Herbst 2003. Im April 2004 gab er seinen Plan anlässlich eines Treffen mit US-Präsident Bush offiziell bekannt. Danach ließ die israelische Regierung rund ein Jahr ohne ernsthafte Abzugs- und Räumungsvorbereitungen verstreichen, um dann einen Zeitplan vorzulegen, der bestenfalls als dilettantisch zu bewerten war.

Der für die Räumungsaktionen einkalkulierte Zeitraum wurde inzwischen von anfänglich vier bis sechs Wochen auf zehn Wochen verlängert. Würde der Abzug, wie derzeit offiziell geplant, Mitte August beginnen, würde die Räumungen voraussichtlich mit den hohen jüdischen Feiertagen im Oktober (Neujahr, Jom Kippur und Laubhüttenfest) kollidieren. Das könnte erneut Anlässe für Verzögerungen bieten.

Kein Abzug bei Hamas-Wahlsieg?

Anfang Mai, als die Neuwahl des palästinensischen Parlaments noch auf den 17. Juli terminiert war, hatte Israels Außenminister Silvan Schalom eine unbefristete Aussetzung des Abzugplans befürwortet, falls die islamistische Hamas die Wahl gewinnen sollte. Von der palästinensischen Regierung forderte Schalom, die Teilnahme der Hamas an der Wahl zu verhindern.

Der Außenminister ist als wortstarker Hardliner bekannt. Verteidigungsminister Schaul Mofaz teilte umgehend mit, dass der Abzug unabhängig vom Wahlergebnis der Hamas durchgeführt werde. Geklärt ist die Frage damit aber offenbar noch keineswegs. Am 22. Mai berichtete die israelische Tageszeitung Ma'ariv, dass führende israelische Militärs eine Verschiebung des Abzugs um bis zu sechs Monaten befürworten. Begründet werde das, so Ma'ariv, zum einen mit mangelhaften Vorbereitungen und zum anderen mit der zunehmenden Stärke der Hamas. Die Zeitung zitierte Militärs mit der Einschätzung, dass sich die Opposition in Armeekreisen gegen den Abzugsplan noch erheblich verschärfen werde, falls es in den besetzten Gebieten zu einer Eskalation kommt.

Dass die Frage des Abzugs immer noch nicht definitiv entschieden ist, machte Anfang Juni Minister Danny Naveh deutlich: "Die richtigste Antwort auf den Terrorismus wäre derzeit die Entscheidung, die Vorbereitungen für den Abzug zu unterbrechen", zitierte ihn die Tageszeitung Ha'aretz am 8. Juni. Naveh gehört der Likud-Partei Scharons an und ist für die Verbindung zwischen Regierung und Parlament zuständig.

Im selben Artikel berichtete Ha'aretz, dass nach Ansicht einiger Funktionäre der Armee und des Inlandgeheimdienstes Schin Bet vor Beginn des Abzugs ein "Zerstörungsschlag" gegen Hamas geführt werden sollte. Sollte sich diese Tendenz durchsetzen, wäre mit heftigen Reaktionen, nicht nur der Hamas, zu rechnen, und es könnte eine Situation entstehen, in der sich der Abzug gegen den Widerstand breiter israelischer Bevölkerungskreise nicht mehr durchführen lässt. Ob Scharon vielleicht gerade dies von Anfang an vorausgesehen und angestrebt hat, weiß vielleicht nicht einmal er selbst ganz sicher.

Zustimmung in Israel zum Abzug sinkt

Die britische Tageszeitung Guardian erwähnte am 9. Juni eine Meinungsumfrage des israelischen Rundfunks, wonach in der Bevölkerung die Unterstützung für den Abzugsplan auf 50 Prozent gesunken ist. Vor wenigen Monaten hatte sie bei 68 Prozent gelegen. Seit dem 17. März, als es Abbas gelang, 13 palästinensische Organisationen auf die Wahrung einer Waffenruhe zu verpflichten, ist kein Israeli mehr bei einem Anschlag oder Angriff ums Leben gekommen. Im selben Zeitraum wurden mehr als 30 Palästinenser von israelischen Streitkräften getötet. Viele von ihnen durch völlig unverhältnismäßigen Waffeneinsatz. So die drei Jugendlichen, die im April erschossen wurden, weil sie beim Fußballspiel "zu nah" an die israelischen Grenzbefestigungen gekommen waren. Die militanten palästinensischen Organisationen haben diese Asymmetrie des Terrors mit erstaunlicher Zurückhaltung ertragen. Umgekehrt ist aber zu befürchten, dass der erste Anschlag, bei dem es wieder israelische Tote gibt, die Stimmung in Israel zum Umkippen gegen den Abzugsplan bringen könnte.

Gleichzeitig wächst auf palästinensischer Seite die Ungeduld. Ob und wann sich Israel aus dem Gaza-Gebiet zurückzieht, ist derzeit völlig ungewiss. Die unbefristete Verschiebung der Parlamentswahl frustriert die Hoffnung von Hamas, sich in einen demokratischen politischen Prozess integrieren zu können. Ob es Abbas in erster Linie darum geht, die Regierungen in USA und Israel zufrieden zu stellen, oder ob die Furcht vor einer Wahlniederlage seiner Fatah überwiegt, ist schwer zu beantworten und seinen Gegnern wohl auch ziemlich gleichgültig. Die eine wie die andere Begründung für sein Verhalten kann seinem Ansehen nur großen Schaden zufügen. Besonders schwer wiegt, dass der Präsident mit der Aussetzung der Wahlen sein Wort gebrochen hat.

Wortbrüchiger Präsident

Hamas wirft Mahmud Abbas vor, dass er in zwei zentralen Punkten gegen die Kairoer  Vereinbarungen vom 17. März zwischen den palästinensischen Organisationen verstoßen hat. Auf diesem Abkommen beruht auch die Waffenruhe gegenüber Israel, an die sich die Militanten seither im Wesentlichen gehalten haben, auch wenn sie das Recht auf Reaktion gegen israelische Angriffe für sich in Anspruch nehmen.

In der Kairoer Erklärung wurde bekräftigt, als Teil eines umfassenden Demokratisierungsprozesses die Parlamentswahl und die Kommunalwahlen zu den festgelegten Zeitpunkten durchzuführen. Dass dies ausdrücklich schriftlich festgehalten wurde, zeigt, wie groß das Misstrauen gegen Abbas schon damals war.

Der zweite Punkt, an dem Abbas nach Ansicht von Hamas die Kairoer Vereinbarungen gebrochen hat, betrifft die Strukturen der palästinensischen Dachorganisation PLO. Die fundamentalistischen Organisationen Hamas und Islamischer Dschihad hatten in der Vergangenheit die PLO-Gremien boykottiert, sind aber seit einiger Zeit um Annäherung und Integration bemüht. In der Kairoer Erklärung bekennen sich die Unterzeichnenden zu der Absicht, die PLO zu einem Verband zu entwickeln, der sämtliche Kräfte und Fraktionen einschließt. Zu diesem Zweck sollte ein Komitee gebildet werden, in dem (unter anderem) sowohl die Mitglieder des PLO-Exekutivkomitees als auch die Generalsekretäre aller palästinensischen Organisationen vertreten sind. Die Hamas wertet es als Verstoß gegen diese Einigung, dass das PLO-Exekutivkomitee im April tagte, ohne die anderen Organisationen einzuladen.

Moderate Reaktion von Hamas

Hamas hatte früher damit gedroht, bei einer Verschiebung der Parlamentswahl die Kairoer Vereinbarungen insgesamt in Frage zu stellen, also auch und vor allem die Waffenruhe gegenüber Israel. Davon ist jetzt nicht mehr die Rede. Überhaupt ist die Reaktion der Hamas auf die Verschiebung sehr moderat ausgefallen. Offenbar waren die Drohungen nur ein Bluff, und Abbas hat das wohl auch vorausgesehen oder auf Grund interner Kontakte sogar gewusst. Ein Bruch der Waffenruhe würde die Grundsatzentscheidung der Hamas-Führung, dass ihre Stärke derzeit in der politischen Legalität und in der Forderung nach demokratischen Reformen liegt, großen Risiken aussetzen.

Sehr überzeugend ist die Bestätigung der Waffenruhe, die sich Abbas in der vorigen Woche von Hamas und Islamischem Dschihad holte, dennoch nicht ausgefallen. Schon die Tatsache, dass die Führer beider Organisationen sich weigerten, persönlich zum Treffen zu erscheinen, und nur ihre "zweite Garnitur" in die Verhandlungen schickten, wurde allgemein als deutlicher Affront gegen den Präsidenten interpretiert. Der Hamas-Sprecher im Gaza-Gebiet, Sami Abu Zuhari, erläuterte nach dem Treffen die Position seiner Organisation: Hamas habe "ein ernsthaftes Problem" mit Abbas, da er sich nicht an die gemeinsamen Abmachungen und den vereinbarten Zeitplan halte. "Hamas betrachtet sich als frei, auf jede Verletzung der Waffenruhe durch Israel zu antworten. Es besteht kein Widerspruch zwischen der Waffenruhe und dem Recht auf Selbstverteidigung gegen die Übergriffe des Feindes."

Gemeint ist damit vor allem der Abschuss von Kleinraketen gegen Siedlungen im Gaza-Streifen, die im allgemeinen höchstens Sachschaden anrichten, sofern sie überhaupt etwas treffen. Abbas hatte bei dem Treffen die Militanten vergeblich beschworen, auch bei Übergriffen Israels vollständig auf alle Angriffe zu verzichten. Das würde einen absolut einseitigen, bedingungslosen Waffenstillstand der palästinensischen Seite bedeuten. Genau das ist es offenbar, was Mahmud Abbas schon seit längerem vorschwebt, wenn er das Ende der bewaffneten Intifada propagiert, auch wenn er weiß, dass dieses Programm derzeit nicht durchzusetzen ist.

Mit seinen außenpolitischen Verlautbarungen, für die Entwaffnung alles palästinensischen Organisationen sorgen zu wollen, und seinen innenpolitischen Versprechungen, dieses Ziel keinesfalls gewaltsam durchzusetzen, befindet sich der Präsident in einem Widerspruch, der ihn immer stärker in Schwierigkeiten bringt. Die israelische Regierung konstatiert, sachlich zutreffend, dass Mahmud Abbas nicht "liefert", also mit der Entwaffnung der Organisationen keinen Schritt vorankommt.

Entwaffnung in Fatah und PLO umstritten

Gleichzeitig ist das Ziel des Präsidenten innerhalb von Fatah und PLO offen umstritten. Außenminister Nasser al-Qidwa, ein Neffe des verstorbenen PLO-Chefs Arafat, schloss am vergangenen Sonnabend im palästinensischen Fernsehen eine Entwaffnung aus, solange Israel palästinensisches Land besetzt hält. "Unsere Waffen zu behalten ist eine strategische Option." "Die Auflösung der bewaffneten Organisationen steht nicht auf der Tagesordnung, denn Waffen sind rechtmäßig, solange die Besetzung andauert."

Ihm widersprach am Sonntag der Vorsitzende des Rechtsausschusses im Palästinenserparlament, Ziad Abu Ziad: Abbas verstehe die Notwendigkeit, alle nicht dem Gewaltmonopol seiner Regierung unterstehenden Waffen einzusammeln. Israel sollte aber nicht erwarten, dass sich das im Handumdrehen erledigen lässt. "Jahre der Anarchie kann man nicht in 24 Stunden beenden", sagte Ziad.

Der stellvertretende israelische Regierungschef Ehud Olmert - ein Likud-Politiker, der von 1993 bis 2003 Bürgermeister von Jerusalem war - reagierte am Wochenende sehr hart auf die Äußerungen von Nasser al-Qidwa. Sie zeigten, so Olmert, dass die palästinensische Regierung weder fähig noch bereit sei, sich mit der "terroristischen Bedrohung" zu befassen. Die Weigerung, die Waffen der Organisationen zu beschlagnahmen, sei "eine Splitterbombe in einem Prozess, der zum Dialog und zur Ruhe führen könnte". "Einfach gesagt: Entweder sie selbst bekämpfen den Terror, oder wir werden es tun."

Spräche Olmert, der als "Falke" bekannt ist, nur für sich selbst, müsste man diese Drohung nicht sehr ernst nehmen. Das Spektrum derjenigen in Israel, die so denken und von denen vermutlich vielen auch jede Provokation Recht ist, um den Abzug aus Gaza scheitern zu lassen, ist jedoch sehr breit. Jede weitere Verzögerung des Abzugs- und Räumungsbeginn wird die Spannung auf beiden Seiten anheizen.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 13.6.2005