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Kriegsschauplatz Irak
Seit dem Frühjahr hat die Zahl der Terroranschläge und ihrer Opfer stark zugenommen. Regierung in Bagdad setzt auf Härte und Hilfe der USA.
Im Irak sterben an manchen Tagen mehr Menschen durch politisch motivierte Bomben als in den USA in den gesamten zwölf Jahren seit dem 11. September 2001 zusammengerechnet. Dabei hat der Irak aber nur ein Zehntel der Einwohnerzahl der USA. Im September wurden nach Angaben der UN-Mission im Irak (UNAMI) 979 Iraker bei Terroranschlägen getötet. Darunter waren 887, die in der Statistik als „Zivilisten“ bezeichnet werden. Die Opferzahlen sind seit Frühjahr angestiegen und liegen erheblich über denen von 2012. Seit Jahresanfang starben mehr als 6.000 irakische „Zivilisten“ als Opfer des Terrors. Im Vorjahr waren es insgesamt rund 3.100.
Die meisten Anschläge im Irak werden von sunnitischen Fanatikern gegen die schiitische Mehrheit verübt. Angriffsobjekte sind Moscheen zur Zeit des Gottesdienstes und andere Menschenansammlungen wie Pilgerzüge, Märkte, Einkaufsstraßen und Bushaltestellen, in einigen Fällen sogar Schulen während des Unterrichts. Das Ziel besteht offenbar darin, möglichst viele Menschen zu töten und Gegenreaktionen zu provozieren, um einen allgemeinen Bürgerkrieg auszulösen. Indessen sind Terrorangriffe gegen Sunniten sehr viel seltener, und es kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die Täter wirklich immer Schiiten, und nicht etwa sunnitische Provokateure waren.
Ähnliche Anschläge gegen die schiitische Bevölkerung wie im Irak gibt es auch in Pakistan. Aber obwohl dieses Land sechs Mal so viele Einwohner hat wie Irak, ist die Zahl der Opfer dort erheblich niedriger. Der Irak ist, nach dem Nachbarland Syrien, der am zweitschwersten betroffene Schauplatz eines grenzüberschreitenden Krieges sunnitisch-fundamentalistischer Regime und von ihnen bewaffneter und finanzierter Terrorbanden gegen die Schia und den Iran.
Dennoch liegt die Zahl der Anschläge und ihrer Opfer gegenwärtig immer noch weit unter dem Höhepunkt der politisch, religiös und ethnisch motivierten Gewalttaten in den Jahren 2006 und 2007. Zwischen Herbst 2006 und Frühjahr 2007 wurden mehrere Monate hintereinander jeweils über 3.000 „Zivilisten“ getötet. Aufgrund verschiedener Faktoren, zu denen nicht zuletzt die Verstärkung der US-Besatzungstruppen und gezielte militärische Kampagnen gehörten, fielen die Opferzahlen seit Anfang 2007 steil ab und lagen seit Ende 2007 konstant unter 1.000, seit Sommer 2009 auch unter 500.
Der erneute Anstieg der Attentate und der Zahl getöteter und verletzter „Zivilisten“ seit diesem Frühjahr wird in den Medien meist mit dem gewalttätigen Vorgehen des Militärs gegen ein sunnitisches Protestlager in der nordirakischen Stadt Hawija am 23. April in kausalen Zusammenhang gebracht. Dabei wurden bis zu 50 Demonstranten getötet. Die Darstellungen des Militärs einerseits und der Organisatoren des Protests sowie sie unterstützender Stämme andererseits liegen sehr weit auseinander. Unbestritten scheint, allen Berichten zufolge, dass anschließend sowohl Protestführer als auch Stammesoberhäupter zum bewaffneten Widerstand aufriefen. Im folgenden Monat Mai wurde 963 getötete „Zivilisten“ gezählt; im März waren „nur“ 229 gewesen.
Die Regierung in Bagdad setzt im Kampf gegen die Terroranschläge vor allem auf äußerste Härte. Allein in der zweiten Oktoberwoche wurden 42 Todesurteile durch Erhängen gegen angebliche Terroristen vollstreckt. Dadurch stieg die Zahl der Hinrichtungen im laufenden Jahr auf 132. Im gesamten Vorjahr waren es 129 gewesen. Fast alle Todesurteile wurden aufgrund von Terrorismus-Anklagen verhängt. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navy Pillay, kritisiert, dass „zahlreiche Verurteilungen auf Geständnissen beruhten, die unter Folterungen und Misshandlungen abgegeben“ worden seien.
Presseberichten zufolge bemüht sich die irakische Regierung, von den USA Drohnen für die Luftüberwachung zu erhalten. Außenminister Hoschjar Sebari deutete bei seinem Besuch in Washington Mitte August sogar die Möglichkeit an, bewaffnete US-amerikanische Drohneneinsätze zu gestatten.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 14. Oktober 2013