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Gar nicht gemerkt

Obama lastet eigene Wahrnehmungsdefizite seinen Geheimdiensten an.

Wenn man den Schlagzeilen des Mainstream glauben würde, hat Barack Obama gerade ein Geständnis abgelegt, das tief blicken lässt: Seine Regierung habe das Anwachsen und die Ausbreitung des „Islamischen Staats“ (IS) im Irak und in Syrien lange Zeit unterschätzt. Die Sensationsmeldungen beziehen sich auf ein rund einstündiges Interview des Präsidenten mit dem US-Sender CBS, das am Freitag ausgestrahlt wurde.

Es empfiehlt sich generell, dem Mainstream zu misstrauen, denn im Original lesen sich solche Geschichten oft etwas anders. Was als Schlagzeile aus dem Gespräch herausgegriffen wurde, bestand in Wirklichkeit lediglich aus zwei Sätzen. In denen äußerte Obama noch nicht einmal seine eigene Meinung, sondern zitierte den Chefkoordinator der 17 US-amerikanischen Nachrichten- und Geheimdienste, Jim Clapper. Allerdings sinnentstellend.

Tatsächlich gesagt hatte Clapper am vorigen Mittwoch in einem Telefoninterview mit der Washington Post: Die Dienste hätten sowohl über die Entwicklung des IS und ihrer Vorläufer wie auch über deren militärische Fähigkeiten korrekt berichtet. Auch die „Defizite“ des irakischen Militärs seien analysiert worden. Was man jedoch nicht richtig eingeschätzt habe, sei der Kampfwillen beider Seiten. Das sei schon immer ein Problem gewesen, auch während des Vietnamkriegs.

Obama verkürzte und verfälschte das im Gespräch mit CBS zur Behauptung, die Dienste hätten die Vorgänge in Syrien unterschätzt. Der das Interview führende Journalist, Steve Kroft, versäumte es leider – nicht nur an diesem Punkt – offensiv nachzufragen. Tatsächlich hatte sich Clapper, zumindest nach der von der Washington Post veröffentlichten Wiedergabe des Gesprächs, gar nicht auf Syrien, sondern nur auf den Irak bezogen.

Immerhin hatte Kroft zu einem früheren Zeitpunkt seines Interviews den Präsidenten mit dessen gerade einmal zwei Jahre alten Äußerungen konfrontiert. Damals hatte Obama damit geprahlt, den „Krieg gegen den Terrorismus“ bereits gewonnen zu haben. Al-Kaida – von den militärisch sehr viel bedeutenderen IS-Vorläufern pflegte er gar nicht zu sprechen – sei „dezimiert“ und „auf der Flucht“. Diesem Hinweis war Obama ausgewichen, ohne dass Kroft nachgesetzt hätte. 

Die Nachrichten- und Geheimdienste der USA sind die effektivsten der Welt. Zusätzlich vergeben sie Auftragsarbeiten an die zahlreichen privaten „Think Tanks“, deren Zahl nach dem 11. September 2001 stark zugenommen hat. Selbstverständlich haben sie das Erstarken der extremen Islamisten im Irak und auch in Syrien ganz genau beobachtet. Abgesehen davon hätte zumindest für den Irak sogar ein Team von fünf Mitarbeitern, das nicht mehr zu tun bräuchte, als die englischsprachigen internationalen Pressemeldungen zu verfolgen, schon ausgereicht, um sich ein Bild von der Entwicklung zu machen.

Das zentrale Wahrnehmungsdefizit liegt nicht bei den Diensten, sondern bei den Vorstellungen und Wünschen des Präsidenten und seiner Umgebung. George W. Bush und mehr noch sein umtriebiger Vize Dick Cheney sorgten vor dem Einmarsch in den Irak im Frühjahr 2003 dafür, dass interne Berichte der CIA, die sich skeptisch über die Existenz irakischer Massenvernichtungswaffen äußerten, unterdrückt oder völlig neu „bearbeitet“ wurden.

Obamas Probleme sind anders motiviert: Er ist süchtig danach, den „Krieg gegen den Terrorismus“ als seine ganz persönliche Erfolgsgeschichte darzustellen. Das verträgt sich schlecht mit der Realität. Also wurde diese jahrelang den Bedürfnissen des Präsidenten angepasst. Statt wirkliche militärische und politische Entwicklungen zu reflektieren, rühmte sich Obama der getöteten Führer  des Gegners. 80 Prozent der Kommandeure des „Islamischen Staats“ im Irak seien getötet oder gefangen, hieß es triumphierend im Juni 2010. Aber offensichtlich kommt es auf andere Dinge an.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 30.9.2011  

Transkript und Video von Obamas Interview mit CBS:

http://www.cbsnews.com/news/president-obama-60-minutes/