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Folter nach der Befreiung
UNO klagt Menschenrechtsverletzungen in Libyen an. Warfala-Stamm trotzt den Rebellen-Milizen.
Das Fehlen einer zentralen staatlichen Autorität in Libyen begünstigt ein Klima, in dem Folter und Misshandlungen praktiziert werden. Zu dieser Feststellung kam die Menschenrechts-Verantwortliche der Vereinten Nationen, Navi Pillay, am Mittwoch in einem Bericht. Nach den Erkenntnissen ihrer Abteilung werden in dem von der NATO „befreiten“ Land ungefähr 8500 Menschen in mehr als 60 örtlichen Haftzentren gefangen gehalten. Viele dieser Einrichtungen werden von konkurrierenden Milizen betrieben, die sich immer öfter auch gegenseitig mit den reichlich vorhandenen Schusswaffen bekämpfen. Die Mehrheit der Gefangenen sind nach Angaben der südafrikanischen UN-Menschenrechtlerin Menschen, denen vorgeworfen wird, dass sie Gaddafi-Anhänger gewesen seien. Unter ihnen sei eine große Anzahl Bürger anderer afrikanischer Staaten. Pillay rief den Nationalen Übergangsrat (NTC) der Rebellen auf, die Kontrolle über die inoffiziellen Gefängnisse zu übernehmen, alle Fälle zu überprüfen und mit den Gefangenen unter einem gesetzlichen Rahmenbedingungen umzugehen.
Indessen hat sich die Lage in dem südlich von Tripolis gelegenen Bani Walid nach Auskunft des NTC wieder beruhigt. Die Stadt war am Montag von rund 150 schwerbewaffneten, offenbar gut ausgebildeten Kämpfern übernommen worden, nachdem sie in mehrstündigen Gefechten die dort stationierte Rebellenmiliz in die Flucht geschlagen hatten.
Der örtliche Übergangsrat der Rebellen, praktisch die Stadtverwaltung, bezeichnete die Angreifer als „Anhänger des alten Regimes“. Die Rede war von Hochrufen auf Muammar Gaddafi und von grünen Fahnen – die frühere Staatsflagge -, die auf mehreren Gebäuden gehisst worden seien. Dieser Darstellung widersprachen jedoch sowohl der NTC als auch Beobachter der UNO und die neuen Herren der Stadt. Journalisten, die am Dienstag nach Bani Walid kamen, berichteten, dass zwar an manchen Mauern Pro-Gaddafi-Parolen zu sehen seien, aber dass die neue rot-grün-schwarze Staatsflagge vorherrschend sei.
Tatsächlich war Bani Walid eine der letzten Städte gewesen, deren Verteidiger sich im Oktober vorigen Jahres den Rebellen ergaben – und auch das erst nach einer sechswöchigen Belagerung. Die Mehrheit der Bewohner gehört den Warfala, dem größten Stamm des Landes, an. Viele Warfalas hatten tatsächlich Gaddafi unterstützt. Bei der aktuellen Auseinandersetzung scheint es aber nicht darum zu gehen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, sondern lokale Autonomie gegen die aus anderen Landesteilen zusammengekommenen Rebellenmilizen durchzusetzen.
Am Mittwoch kam der Verteidigungsminister der Rebellenregierung, Osama al-Juwali, nach Bani Walid, um mit den Stammesältesten der Stadt und ihrer Umgebung über eine politische Lösung zu verhandeln. Er soll dabei, so jedenfalls die Darstellung der Warfalla, den am Dienstag gebildeten neuen Stadtrat anerkannt haben. „Wir haben ihm gesagt, dass wir den Frieden im gesamten Land erhalten wollen und dass die nationale Einheit unsere Priorität ist“, erläuterte ein Vertreter des Ältestenrats des Stammes. Ein Vertreter des Verteidigungsministeriums bestätigte grundsätzlich, dass Juwali die neue Stadtverwaltung anerkannt habe, wollte die Vorgänge aber nicht näher kommentieren.
Ob diese Einigung aber auch von allen Rebellenmilizen akzeptiert wird, erscheint noch ungewiss. Berichten zufolge haben die von den Warfala aus Bani Walid vertriebenen Rebellen inzwischen Verstärkung durch mehrere hundert Kämpfer aus anderen Landesteilen erhalten. Sie sollen einen Belagerungsring um die Stadt gezogen und bewaffnete Kontrollposten in deren Umgebung eingerichtet haben.
Ein angespannter Waffenstillstand herrscht derzeit auch zwischen den rund 70 Kilometer südlich von Tripolis gelegenen Städten Assabia und Gharyan am Rande der Nafusa-Berge. Zuvor hatten sich örtliche Milizen drei Tage lang unter Einsatz von Mörsern und Raketenwerfern erbittert bekämpft. Der Militärrat von Gharyan behauptete, die verfeindete Stadt werde von über 1000 Gaddafi-Anhängern beherrscht. In Assabia wurde diese Darstellung entschieden bestritten. Dafür warf man der Gegenseitige willkürliche Festnahmen und brutale Folterungen vor. Der Streit wurde durch Vermittlung führender Mitglieder des NTC und der Rebellenregierung vorläufig geschlichtet, kann aber nach Einschätzung von Beobachtern jederzeit erneut entbrennen.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 27. Januar 2012