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Eskalation im Libanon als Hebel zum "Präventivkrieg" gegen Syrien und Iran?

Der amerikanisch-britische Krieg gegen den Irak hat nach Ansicht führender israelischer Militärs ein "Fenster der Gelegenheit" geöffnet, um im Libanon einen "Präventivkrieg" gegen die vom Iran und Syrien unterstützte schiitische Hisbollah zu führen. In diesem Sinn äußerten sich in letzter Zeit übereinstimmend die Generäle Yiftah Ron-Tal, Oberbefehlshaber der israelischen Bodentruppen, und Benny Gantz, Kommandeur der israelischen Nordfront.

Das Thema ist schon seit vergangenem Herbst in der israelischen Diskussion. Damals ging man noch von der Möglichkeit aus, parallel zum absehbar bevorstehenden Irak-Krieg eine eigene Offensive gegen den Libanon zu starten. Nach dem Willen maßgeblicher militärischer und politischer Kräfte Israels bedürfte es lediglich eines ausreichend schweren Anlasses, wie etwa eines Hisbollah-Raketenangriffs auf Nordisrael mit einer größeren Anzahl toter Zivilisten, um eine neuerliche Invasion in Gang zu setzen, die zu einer längerfristigen Besetzung libanesischen Territoriums führen soll. Das würde wahrscheinlich auch eine Eskalation gegenüber Syrien auslösen, das mit Zustimmung der Beiruter Regierung rund 20.000 Soldaten im Libanon stationiert hat.

Die israelische Armee (IDF) war schon 1978 in den Südlibanon einmarschiert, vor allem um palästinensische Stützpunkte zu zerstören und die Zivilbevölkerung der Flüchtlingslager aus diesem Gebiet zu vertreiben. Unter internationalem Druck zog Israel sich etwas später wieder zurück, nur um im Juni 1982 mit einer Großoffensive bis Beirut vorzurücken, wo sich damals das Hauptquartier der PLO befand. Nachdem die bewaffneten palästinensischen Kräfte gezwungen worden waren, Beirut zu verlassen, kam es im September 1982 zu den vom damaligen Verteidigungsminister Scharon begünstigten Massaker christlich-rechtsextremer Milizen in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila.

In mehreren Etappen wurden anschließend die israelischen Truppen wieder aus dem Libanon abgezogen. Seit Juni 1985 waren IDF-Einheiten nur noch in einer "Pufferzone" an der Grenze stationiert. Nach einem für Israel teuren und verlustreichen Kleinkrieg, der vor allem von der schiitischen Hisbollah geführt wurde, ordnete der sozialdemokratische Regierungschef Barak im Mai 2000 den vollständigen Rückzug an. Große Teile der Rechten waren mit dieser Entscheidung nicht einverstanden und strebten von Anfang an danach, sie rückgängig zu machen.

Dabei spricht aus wohlverstandenem israelischem Interesse eigentlich alles für Baraks Schritt. Seit dem Abzug ist die Zahl der sehr effektiven Hisbollah-Angriffe von ca. 1000 im Jahr auf eine Handvoll zurückgegangen. Ihre militärischen Aktivitäten beschränken sich seither konsequent auf das nur 10-15 qkm große Gebiet der Shebaa-Höfe, israelisch Har (Berg) Dov, auf den seit 1973 von den israelischen Streitkräften besetzten Golan-Höhen. Die Aktionen richten sich nahezu ausschließlich gegen Soldaten der IDF, nicht gegen zivile Ziele. Nach übereinstimmender Ansicht der Regierungen in Beirut und Damaskus gehört das Gebiet der Shebaa-Höfe zu Libanon, während Israel es als Teil Syriens betrachtet und darüber erst im Rahmen einer israelisch-syrischen Gesamtlösung verhandeln will.

Die Macht der Hisbollah

Schon vor einem Jahr hatten israelische Geheimdienst- und Militärstellen für internationale Verbreitung der Behauptung gesorgt, Hisbollah habe im Südlibanon über 8.000 Boden-Boden-Raketen, überwiegend iranischer Herkunft, stationiert. Einige hundert davon haben angeblich eine Reichweite, mit der nicht nur grenznahe Dörfer in Nordisrael, sondern auch die Großstadt Haifa getroffen werden könnte.

Die Chancen, dass Hisbollah den IDF durch Angriffe auf zivile israelische Ziele den erwünschten Vorwand zur Rückkehr in den Libanon bietet, stehen jedoch schlecht. Hisbollah hat sich zu einer politischen Organisation entwickelt, die mit neun Abgeordneten im Beiruter Parlament vertreten ist und einen soliden Stand in der schiitischen Bevölkerung des Libanon hat. Die Beschränkung ihrer Angriffe auf militärische Ziele im Gebiet des Har Dov zeigt, dass die Hisbollah-Führung nicht nur politisch klug und verantwortungsbewusst handelt, sondern auch die Autorität und Disziplin besitzt, diese taktische Linie verbindlich durchzusetzen. Ihre starke militärische Präsenz im Südlibanon hindert offenbar auch palästinensische Gruppen, von hier aus Israel anzugreifen.

Hinzu kommt, dass schon im Vorfeld des Irak-Krieges die Regierungen in Teheran und Damaskus ihren Einfluss geltend gemacht haben, um die Hisbollah-Führung zu überzeugen, sich in der angespannten Situation nicht mit den USA und Israel anzulegen. Das war auch der Sinn der Libanon-Reise des iranischen Präsidenten Mohammed Khatami Mitte Mai. Vor 50.000 Schiiten, die sich in einem südlichen Vorort von Beirut versammelt hatten, warnte er, Israel keinen Vorwand für eine Eskalation zu liefern.

Abdallah Kassir, Hisbollah-Abgeordneter im Beiruter Parlament, machte ebenfalls deutlich, dass seine Organisation eine Konfrontation vermeiden will. "Wir wollen keine Quelle von Spannungen in der Region sein und beobachten mit Sorge die Drohungen der USA gegen Libanon. Hisbollah wird im Südlibanon nichts tun, was nicht die Unterstützung aller Libanesen hat. Wir sind schließlich nicht nur eine Guerilla-Bewegung, sondern eine politische Partei mit Parlamentsabgeordneten, die zu einem breiten Themenspektrum von der Rolle der Frauen in der Gesellschaft bis zur Umweltpolitik arbeitet." - Es ist in diesem Zusammenhang auch daran zu erinnern, dass sich die Hisbollah-Führung sofort eindeutig von den Terrorangriffen des 11. September distanzierte.

Die israelische Regierung hat sich in Washington offen und direkt dafür eingesetzt, nach der Besetzung Iraks unverzüglich auch gegen Iran und Syrien militärisch vorzugehen. Das wurde von einigen amerikanischen Regierungsmitgliedern, vor alles aus dem Pentagon, zeitweise massiv durch öffentliche Drohungen unterstützt. Vorläufig hat sich aber in der US-Politik die Linie durchgesetzt, vor allem Damaskus unter erpresserischen Druck zu setzen und abzuwarten, wieweit die sogenannten diplomatischen Mittel Syrien und Iran zu Zugeständnissen zwingen. Eine militärische Eskalation im Libanon, für die aber ein geeigneter Vorwand gegeben sein müsste, könnte aus Sicht israelischer Rechtskräfte und der mit ihnen verbündeten amerikanischen Neokonservativen ein entscheidendes Mittel sein, die Dynamik der Ereignisse zu forcieren und die Initiative zurückzugewinnen.

Der Versuch, Hisbollah zu einem Angriff zu provozieren, um den Vorwand zur Eskalation zu erhalten, macht bei vordergründiger Betrachtung weder für Israel noch für die USA Sinn: Israel hat mit Hisbollah nicht mehr als ein ganz marginales Problem in einem winzigen, ohne weiteres verzichtbaren Teil der seit 1973 besetzten Gebiete. Die USA haben mit Hisbollah derzeit überhaupt kein Problem, auch wenn sie die Organisation auf die Terroristen-Liste gesetzt haben und derzeit Damaskus und Teheran bedrängen, ihre Unterstützung der Hisbollah zu verringern und letztlich ganz einzustellen.

Kettenreaktion und Flächenbrand

Hisbollah herauszufordern und zum Kampf zu stellen, macht nur Sinn im Kontext der von amerikanischen Neocons und israelischen Rechten betriebenen Strategie, durch eine Kettenreaktion einen unkontrollierbaren Flächenbrand im gesamten Nahen und Mittleren Osten auszulösen, der alle arabischen Staaten auf absehbare Zeit ruinieren und destabilisieren soll.

Hisbollah verfügt über ein starkes, derzeit aus politischen Gründen fast völlig still gelegtes militärisches Potential. Auf das Konto der damals gerade erst gegründeten Organisationen gingen eine Reihe schwerer Anschläge, die die Amerikaner und ihre Verbündeten 1984 veranlassten, sich sehr schnell aus dem Libanon zurückzuziehen, in dem sie sich als selbsternannte Schutzmächte langfristig einrichten wollten:

  • Bombenanschlag am 18. April 1983 auf die US-Botschaft in Beirut. 63 Tote, darunter das gesamte Team der CIA für den Nahen Osten, einschließlich dessen Leiter.
  • Bombenanschlag am 23. Oktober 1983 auf das Beiruter Hauptquartier der US-Marines. 241 tote US-Soldaten.
  • Zwei Minuten später werden bei einem Anschlag auf einen nahe gelegenen Stützpunkt französischer Fallschirmjäger 58 Soldaten getötet.
  • Bombenanschlag am 12. Dezember 1983 auf die US-Botschaft in Kuwait. Vier Tote, über 60 Verletzte.
  • Bombenanschlag am 20. September 1984 auf ein Nebengebäude der amerikanischen Botschaft in Beirut. 24 Tote.


Jeder amerikanische oder israelische Angriff auf die Hisbollah, unter welchem Vorwand auch immer, würde voraussehbar nicht nur die Schiiten des Libanon, sondern auch die des Irak und der arabischen Halbinsel - wo sie in einigen Staaten und Regionen Bevölkerungsmehrheit sind - zu militanten Aktionen mobilisieren. Das wiederum würde mit großer Wahrscheinlichkeit einen Überfall der USA auf den Iran als angeblichen Drahtzieher der schiitischen Revolte auslösen.

Schon Ende März hatten führende US-Politiker die Möglichkeit einer Konfliktausdehnung noch während des Irak-Kriegs oder kurz danach angedeutet. Verteidigungsminister Rumsfeld warf Syrien vor, Militärgerät - konkret sprach er lediglich von Nachtsichtgläsern - über die Grenze in den Irak zu schmuggeln. Für diese "feindlichen Akte" werde Syrien "zur Rechenschaft gezogen werden". Den Iran warnte Rumsfeld vor der Unterstützung schiitischer Milizen im Irak.

Außenminister Powell wählte sich als Kulisse eine Veranstaltung des AIPAC, der offiziellen amerikanischen pro-Israel-Lobby, um die Drohungen noch zu verschärfen. In Gegenwart des israelischen Außenministers sagte Powell: "Jetzt muss sich die ganze internationale Gemeinschaft erheben und darauf bestehen, dass Iran seine Unterstützung der Terroristen beendet.(...) Teheran muss aufhören, nach Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen für diese zu streben." - Für Damaskus hielt Powell die Drohung bereit, es stehe ebenfalls vor einer kritischen Entscheidung: Sollte es "seine direkte Unterstützung für Terrorgruppen und für das untergehende Regime von Saddam Hussein fortsetzen", werde es die Folgen tragen müssen.

Nach Beendigung der Kämpfe im Irak ist scheinbar eine Mäßigung der amerikanischen Haltung gegenüber Syrien und Iran eingetreten. Präsident Bush und seine Minister sind sich einig, dass aktuell kein nächster Krieg konkret vorbereitet wird. Das mag missverstehen wer will. Die brüchige "Achse" der Irakkriegs-Kritiker Frankreich, Deutschland und Russland beispielsweise schaut angesichts der amerikanischen Erpressungspolitik gegen Syrien und Iran geflissentlich in die andere Richtung und hütet sich, neuen Streit vom Zaun zu brechen.

Indessen gibt es fast täglich neue Drohungen. Nach den Angriffen auf Wohnanlagen westlicher Ausländer in der saudischen Hauptstadt Rijad Mitte Mai erhebt die US-Regierung nun gegen Iran den Vorwurf, mehrere führende Al-Kaida-Mitglieder zu beherbergen, die für die Planung der Anschläge verantwortlich gewesen seien. Aus diesem Grund wurden die inoffiziellen Gespräche zwischen amerikanischen und iranischen Vertretern in Genf unterbrochen.

Gerüchte und Lügen als Waffe

Ebenfalls Mitte Mai griffen interessierte Kräfte in USA die Behauptung der iranischen Oppositionsgruppe Volksmudschaheddin auf, Teheran habe mit der Produktion von waffenfähigem Anthrax begonnen und arbeite gleichzeitig intensiv an mindestens fünf anderen Krankheitserregern, darunter Pocken. Iran habe im Jahr 2001 ein Geheimprogramm begonnen, mit dem es seine Biowaffen-Kapazität verdreifachen wolle. "Wir können mit Sicherheit sagen, dass das iranische Regime jetzt die Fähigkeit zur Massenproduktion von waffenfähigem biologischem Material hat", erklärte der Sprecher der Volksmudschaheddin in USA. Hinter solchen Äußerungen steht, wie zuletzt auch das irakische Beispiel gezeigt hat, meist nur der Wunsch, sich das Wohlwollen maßgeblicher US-Stellen zu sichern. Als konstruierter Kriegsgrund wären sie aber vermutlich schon jederzeit ausreichend.

Auch Damaskus steht unter dem permanenten Druck gezielter Desinformationen. Dazu gehört das von den Neocons verbreitete Gerücht, Syrien habe einen Großteils des irakischen Arsenals an Biowaffen "geerbt", und mindestens ein Dutzend irakischer Wissenschaftler, die auf diesem Gebiet gearbeitet hätten, würden sich jetzt in Syrien aufhalten. Die Behauptung, irakische Chemie- und Biowaffen seien nach Syrien verlagert worden, bietet außerdem eine nützliche Ausrede, um deren evidentes Nichtvorhandensein im Irak zu erklären.

Das umfangreiche Programm der USA zur Erpressung Syriens ist nachzulesen im Gesetzentwurf zum Syria Accountability Act, der im vorigen Jahr nur knapp die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses verfehlte, weil Präsident Bush sich mit Hinweis auf die Kooperation der Syrer bei der Terrorbekämpfung gegen das Gesetz ausgesprochen hatte. Es liegt nun erneut zur Diskussion und Beschlussfassung vor, mit unverändertem Text, aber mit einem bemerkenswerten neuen Namen: Syria Accountability and Lebanese Sovereignty Restoration Act.

Gefordert wird in der Gesetzesvorlage:

  1. Syrien soll "sofort und bedingungslos" seine Unterstützung für den Terrorismus einstellen, seinen "Verzicht auf alle Formen des Terrorismus" öffentlich erklären und die Büros von Hamas, Hizbollah, PFLP und PFLP-Generalkommando schließen.
  2. Syrien soll sofort seine Bereitschaft erklären, seine Truppen und Sicherheitskräfte aus dem Libanon abzuziehen und für diesen Rückzug einen verbindlichen Zeitplan vorlegen. Die Neocons streben in Beirut die Bildung einer Marionettenregierung unter dem rechtschristlichen Exil-Politiker Michel Aoun an, was aber auf dem Weg demokratischer Wahlen kaum zu realisieren sein dürfte.
  3. Syrien soll die Entwicklung und Aufstellung von Kurz- und Mittelstreckenraketen beenden. - Kein Irrtum: Syrien soll nicht einmal Kurzstreckenraketen besitzen dürfen, die sogar dem Irak nach dem ersten Krieg 1991 noch erlaubt worden waren - mit der Begründung, dass diese Raketen von Syrien aus Israel treffen könnten.
  4. Syrien soll die Entwicklung und Produktion biologischer und chemischer Waffen einstellen. Dass es tatsächlich solche Waffen besitzt oder anstrebt, ist nie bewiesen worden. In einem CIA-Bericht heißt es dennoch, Syrien habe bereits einen Vorrat des Sarin und versuche jetzt, noch giftigere und beständigere Nervengase zu entwickeln. Es sei außerdem "hochwahrscheinlich", dass Damaskus an der Entwicklung biologischer Angriffswaffen arbeitet.


Bei Nichterfüllung der Forderungen soll Syrien als "feindliches Regime" behandelt werden, was bereits nahe an ein Ermächtigungsgesetz zur jederzeitigen Kriegserklärung herankommt. Außerdem ist eine breite Skala von Sanktionen vorgesehen.

Die Liste der Zumutungen ist selbstverständlich nicht auf rein diplomatischem Weg abzuarbeiten. Spätestens bei der Frage der chemischen und biologischen Waffen, deren Besitz Damaskus bestreitet, wird die US-Regierung zur Logik des völkerrechtswidrigen Krieges zurückkehren, der rechtsstaatlich justiziable Beweismittel nicht nötig hat. Bis dahin wäre es freilich wohl noch ein langer Weg - zu langwierig nach Ansicht der amerikanischen und israelischen Flächenbrand-Strategen. Eine Eskalation im Libanon könnte den Prozess entscheidend beschleunigen. Wenn Hisbollah den Vorwand nicht liefert, ist nicht auszuschließen, dass interessierte Stellen ihn künstlich schaffen.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 23.5.2003