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Chaos in Libyen
West und Ost hofieren Warlord Haftar. Der droht mit der Vernichtung aller Gegner.
Die Spaltung Libyens hat sich in der vorigen Woche weiter vertieft und verhärtet. Die international anerkannte „Einheitsregierung“, die seit dem 30. März 2016 in Tripoli residiert, hat im Land kaum Autorität und fühlt sich wegen der vielen rivalisierenden Milizen der Hauptstadt immer noch im Marinestützpunkt Busetta am sichersten. Aber auch dorthin drangen am Freitag bewaffnete Kräfte vor, die ihren Ärger über Premierminister Fayiz as-Sarradsch kundtun wollten. Dem Politiker blieb nichts anderes übrig, als eine neue Erklärung zu unterschreiben, mit der er eine wenige Stunden vorher veröffentlichte Stellungnahme widerrief, durch die er sich den Zorn einiger Milizen zugezogen hatte.
Indessen sind sich die meisten ausländischen Regierungen, die in Libyen eine Rolle spielen wollen, einig, dass es ohne Einbeziehung des ostlibyschen Warlords Khalifa Haftar keinen Fortschritt geben könne. Am eifrigsten und offensten bemüht sich Russland um die Gunst des 73Jährigen, der sich vor einigen Monaten vom General zum Feldmarschall befördert hat. Zwei Mal war Haftar im vorigen Jahr auf Besuch in Moskau und wurde, obwohl er keine staatliche Funktion hat, von Außenminister Sergej Lawrow und Verteidigungsminister Sergej Schoigu empfangen. Im Januar 2017 war Haftar auf dem russischen Flugzeugträger Admiral Kusnetzow zu Gast, der in der Nähe der Stadt Bengasi ankerte, wo der Chef der „Libyschen Nationalarmee“ (LNA) sein Hauptquartier hat.
Aber auch Großbritannien, Frankreich und Italien sind mit Haftar in ständiger Verbindung. Anders als Moskau bevorzugen sie die diskretere Botschafterebene. Der UN-Sonderbeauftragte Martin Kobler aus Deutschland verbirgt ebenfalls kaum, dass er der „Einheitsregierung“ keine Chance mehr gibt, wenn sie keine Einigung mit dem Feldmarschall zustande kriegt. Sarradsch war vor einigen Wochen fast schon so weit. Aber bei den indirekten Gesprächen, die im Februar in Kairo stattfanden, verweigerte Haftar eine persönliche Begegnung. Das überraschte und verärgerte sogar die ihm sehr wohlgesonnenen ägyptischen Gastgeber.
Jetzt steht Haftars Privatarmee wieder einmal im Mittelpunkt schwerer Vorwürfe. Sie verdeutlichen, warum es in Libyen vermutlich mit dem Feldmarschall noch weniger eine Einigung geben wird als ohne ihn. Die LNA beendete in der vorigen Woche eine lange bewaffnete Konfrontation mit islamisch-fundamentalistischen Kräften im Westen Bengasis. Haftar pflegt alle libyschen Milizen, sofern sie nicht mit ihm kooperieren, unterschiedslos als „Terroristen“ zu bezeichnen und ihnen die „totale Vernichtung“ anzudrohen. Wie schon bei früheren Feldzügen erschoss und erschlug die LNA jetzt in Westbengasi eine noch unbekannte Zahl gefangener Kämpfer und Zivilisten. Haftars Leute gruben außerdem mehrere Tote aus und fuhren die halbverweste Leiche eines gegnerischen Kommandeurs, der fünf Tage zuvor ums Leben gekommen war, in einem Spott-Umzug durch die Stadt.
Am vorigen Freitag forderte Haftar alle Milizen in Tripoli auf, ihre Waffen niederzulegen und die Stadt zu verlassen. Anderenfalls werde er mit seinen Truppen erscheinen und „alle Tyrannen und Terroristen“ vernichten. Vorausgegangen war nach dem Freitagsgebet eine Demonstration von etwa 2.000 Menschen, darunter auch lautstarke Haftar-Anhänger, für den Abzug der Milizen aus der Hauptstadt. Eine der rivalisierenden Gruppen schickte daraufhin mehrere gepanzerte Fahrzeuge und vertrieb die Menge durch Warnschüsse. Sarradsch kritisierte dieses Vorgehen als Unterdrückung der Meinungsfreiheit. Das wiederum führte dazu, dass empörte Milizangehörige das Hauptquartier des Premierministers im Marinestützpunkt Busetta zu stürmen versuchten.
Die „Einheitsregierung“ hat keine eigenen Streitkräfte und ist daher vollständig auf Kompromisse mit den konkurrierenden Milizen angewiesen, deren stärkste aus der Stadt Misrata kommen, die etwa 190 Kilometer östlich von Tripoli liegt.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 23. März 2017