Funktionen für die Darstellung
Seitenpfad
Was war der Unterschied zwischen SED und MfS?
J. aus Westberlin hat im AK 350 anhand des "Falles Croissant" eine "grundsätzliche Positionsbestimmung von Vergangenheit und Gegenwart der westdeutschen Linken" gefordert. Das nahezu vollständige Schweigen der Linken zu dem Fall, die eiskalte oder träge Verweigerung von Solidarität, die sich gelegentlich zur schrillen Schadenfreude steigert (TAZ-Kommentare), nahm J. zum Ausgangspunkt, um grundsätzliche Überlegungen zur Funktion der DDR als "Bündnispartnerin" der Linken und über die legitimen Verteidigungsinteressen dieses Staates vorzutragen.
Diesen Ansatz von J., vom "Fall" im ganz engen und konkreten Sinn wegzukommen und die offensichtlich bestehenden Probleme in einem allgemeineren Kontext zu diskutieren, fand ich beim ersten Lesen sympathisch und politisch sinnvoll. Nach den Gegenstellungnahmen von he. und mehr noch von Claudia Gohde im AK 351 scheint mir das jedoch zweifelhaft. Real hat diese Verschiebung der Fragestellung offenbar dazu geführt, die Haltung zum konkreten "Fall Croissant" unklar werden zu lassen. Soll heißen, es ist jetzt nicht mehr davon die Rede, was Klaus Croissant selbst tatsächlich getan hat, sondern was er vielleicht getan haben könnte oder getan hätte, wenn er den Überlegungen von J. - so wie he. und Claudia sie interpretieren - gefolgt wäre.
Um sich für die Freilassung von Klaus Croissant einzusetzen und um darüber hinaus sein damaliges Handeln für legitim zu halten, bedarf es meiner Ansicht nach keiner "grundsätzlichen Positionsbestimmung", keiner Definition der DDR als "Bündnispartnerin" und nicht einmal eines speziellen linken Politikverständnisses. Das geht schon daraus hervor, daß das gleiche "Delikt", wegen dem jetzt Croissant angeklagt ist, auch von Gewerkschaftsfunktionären, Sozialdemokraten, von parteipolitisch desinteressierten Wissenschaftlern usw. begangen wurde. (Zur Veranschaulichung nebenstehend eine Fall-Liste, die ich für einen AK-Artikel im Jahr 1980 zusammengetragen hatte)
Der Straftatbestand der "Geheimdienstlichen Agententätigkeit" (§ 99 StGB) setzt im Gegensatz zu landläufigen Vorurteilen und Verdächtigungen (siehe wiederum die Berichterstattung und Kommentierung in der TAZ) absolut nicht voraus, daß Staats- oder sonstige Geheimnisse verraten wurden, daß Personen bespitzelt wurden o.ä. Bestraft werden kann, wer "für den Geheimdienst einer fremden Macht eine geheimdienstliche Tätigkeit gegen die Bundesrepublik Deutschland ausübt, die auf die Mitteilung oder Lieferung von Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen gerichtet ist", bzw. sogar schon, wer sich zu einer solchen Tätigkeit bereit erklärt. Welchen geheimdienstlichen Wert die übermittelten Fakten und Gegenstände haben, spielt überhaupt keine Rolle. Es kann sich um Telefonbücher, öffentlich verkaufte Zeitschriften oder theoretisch sogar um Wetterberichte handeln. Entscheidend ist nur, daß die Partner im Auftrag eines fremden Geheimdienstes stehen und daß der Betroffene in der Lage gewesen sein müßte, dies auch zu erkennen.
Das alles mag normalerweise keine großen Probleme aufwerfen, sofern nicht irgendeine Person aus unterschiedlichsten Gründen das spezielle Bedürfnis hat, sich im geheimdienstlichen Milieu zu betätigen. Anders war die Situation jedoch im Fall der DDR, deren Staatsapparat seinerseits allergrößten Wert darauf legte, jeden Kontakt zwischen Menschen der beiden deutschen Staaten genauestens und vollständig zu kontrollieren, und der selbst harmloseste Begegnungen zielstrebig auf die Pfade des MfS zu ziehen versuchte. Wer in irgendeiner politischen Funktion mit Leuten aus der DDR sprach, hatte deshalb vermutlich immer ganz schnell das MfS mit am Tisch sitzen. Sei es nun in der Form, daß Berichte über den Gesprächsverlauf geschrieben wurden, Persönlichkeitsprofile festgehalten, Anwerbemöglichkeiten untersucht wurden, oder sei es auch in der Form, daß mindestens einer der Gesprächspartner selbst IM oder ein Mensch mit engen Beziehungen zum MfS war.
Für Politiker aus der SPD, CDU/CSU oder FDP war das im allgemeinen nicht riskant. Daß beispielsweise Herr Stolpe, an den man sich immer wieder gern wandte, wahrscheinlich mehr in Stasi-Wohnungen als auf Kirchentagen anzutreffen war, werden seine Gesprächspartner aus dem Westen wohl mehr oder weniger "geahnt" haben. Selbstverständlich minderte das seinen Wert überhaupt nicht. Im Gegenteil: man wollte doch sicher sein, daß Botschaften und politische Signale, auf deren Übermittlung man großen Wert legte, auch wirklich präzis und zuverlässig bei den richtigen Stellen ankamen. Ähnlich lagen die Dinge, wenn Herr Strauß sich mit Herrn Schalck austauschte - der eine lieferte dann seinen Rapport beim MfS ab, der andere beim BND. Das hatte nicht unbedingt mit der "Zusammenarbeit zwischen westlichen und östlichen Geheimdiensten" zu tun, von der sich heute mancher wohl doch etwas übertriebene Vorstellungen macht. Es war ganz einfach die Funktionsweise der zwischenstaatlichen Beziehungen in der Ära des Kalten Krieges, wozu noch die spezifische Kompliziertheit der "deutsch-deutschen Beziehungen" hinzukam. (Beispielsweise, daß die BRD die DDR nie als gleichberechtigten fremden Staat akzeptierte, aber dennoch ein dichtes Netz von Beziehungen angestrebt wurde.)
Der § 99 StGB hat auf der anderen Seite aber die Kontakte "von unten" sehr erschwert, ja mit einem generellen Kriminalisierungsrisiko belastet, sie zumindest durch permanentes Mißtrauen und Verdächtigungen vergiftet. Insofern kann er in seinen Intentionen und Auswirkungen teilweise mit einem Kontaktverbot verglichen werden. Aus dem, was ich oben gesagt habe, ergibt sich bereits, daß ich für diese Situation keineswegs nur die Strafgesetzgebung der BRD verantwortlich mache. Der § 99 hätte ohne die vom MfS angestrebte Allgegenwart und Funktionalisierung aller Kontakte eben nicht in der beschriebenen Weise funktionieren können. Er könnte im "Fall Croissant" nicht so praktiziert werden, wie es der Genosse nun seit Monaten erlebt, wenn die SED ihm nicht die demütigende und riskante Hintertür über das MfS zugemutet hätte, sondern mit ihm so umgegangen wäre wie mit Besuchern aus der DKP.
Damit wären wir nun bei der schweren Mitverantwortung der SED-Spitze für Croissants Situation. Die SED hätte Westlinke nicht in derartige Situationen bringen dürfen, und es bestand dafür tatsächlich nicht die geringste objektive Notwendigkeit. Wenn die SED sich über die BRD-Linke, die Grünen usw. informieren wollte, hätte sie ihrer Abteilung für Beziehungen zu ausländischen Parteien einen entsprechenden Diskussionsauftrag geben sollen. Statt dessen die "Abteilung Terrorabwehr" des MfS als einzige Kontaktmöglichkeit anzubieten, war in jeder Hinsicht eine Unverschämtheit - zeigte es doch auch, daß man sich von der kriminalistischen Sicht auf die radikale Linke der BRD partout nicht trennen wollte, daß man sie insgesamt als tendenzielle Gefährdung der DDR-Gesellschaft und nicht als Dialogpartner sah.
Es wäre meiner Ansicht nach eine Pflicht der PDS gewesen, die ja in vielerlei Hinsicht die Nachfolge der SED angetreten hat, sich öffentlich bei Klaus Croissant zu entschuldigen. Auch etwas mehr politisches Engagement zugunsten des Angeklagten wäre sicher kein Fehler gewesen. Daß Klaus Croissant ein sehr kritisches und aus Sicht der Parteioberen vermutlich "nerviges" Mitglied der PDS ist, hätte eigentlich kein Gegenargument, sondern eher ein zusätzlicher Grund sein müssen, sich deutlicher für ihn einzusetzen.
Klaus Croissant hatte, wie er im "Spiegel"-Gespräch (29.10.92) erläuterte, politischen Kontakt zur SED, nicht etwa zum MfS, gesucht. Man war anfangs so taktvoll, dem Westlinken die Illusion zu lassen, mit jemandem vom Zentralkomitee zu sprechen. Als die Sachlage dann klarer wurde, gab sich Croissant damit zufrieden, daß es keinen Unterschied mache, ob er nun wirklich direkt mit der SED oder lediglich mit denen "Schild und Schwert", dem MfS, zu tun hatte. Ich unterstelle, daß der Genosse die Vorgänge wahrheitsgemäß schildert, weil der KB einmal Ende der siebziger Jahre beim Versuch, mit der SED ins Gespräch zu kommen, die gleichen Erfahrungen gemacht hat - mit dem alternativen Resultat jedoch, daß wir dann auf Fortsetzung verzichteten. Im Unterschied zum Tenor der Stellungnahmen von he. und Claudia meine ich jedoch, daß Fortsetzung oder Abbruch der Gespräche unter den gegebenen Bedingungen gleichermaßen legitime Handlungsmöglichkeiten darstellten. Das Argument, daß es - rein funktional betrachtet, Emotionen und Risikoabwägung einmal beiseite gelassen - zwischen Gesprächen mit der SED einerseits und dem MfS andererseits - keinen bedeutenden Unterschied gab, würde ich im wesentlichen auch unterschreiben.
He. billigt in seinem Diskussionsbeitrag der SED das Recht zu, sich über die westdeutschen Linken zu informieren, nur hätten sie das eben nicht auf geheimdienstlichen Wegen tun sollen und ja in Wirklichkeit auch gar nicht tun müssen. Denn "fast alle Linken der 70er Jahre" (abgesehen von Ausnahmen wie KBW und KPD/ML) "hätten politische Gespräche mit der SED nicht abgelehnt. Im Gegenteil gab es mit Gründung der neuen Linken vielfache Versuche, mit der SED in eine politische Auseinandersetzung zu treten." Das sei jedoch in erster Linie an der Haltung der SED gescheitert. Tatsächlich akzeptierte diese ja aus der radikalen Linken ausschließlich die DKP als Gesprächspartner, während sie ansonsten nach reinen Opportunitätserwägungen auswählte, also auch schon mal prominente Grüne empfing und für SPD-Politiker selbstverständlich jederzeit ansprechbar war.
Den Ausführungen von He. entnehme ich, daß er Gespräche mit der SED für legitim und politisch richtig gehalten hätte. Wer das aus der radikalen Linken ausprobierte, landete jedoch unfehlbar beim MfS, und sich darauf eingelassen zu haben, hält he. für einen "Irrtum". Warum? Weil sich damit das Risiko verband, einen Strafprozeß an den Hals zu kriegen und ein paar Jahre Knast absitzen zu müssen? Oder weil es aus politischen und/oder moralischen Gründen anrüchig war? Was machte, abgesehen vom persönlichen Risiko und von den postpubertären Versteckspielereien, den politisch und moralisch relevanten Unterschied zwischen den beiden Gesprächsebenen aus?
Einerseits: Wer als westdeutscher Linksradikaler mit MfS-Leuten sprach, hatte vor sich wahrscheinlich die kompetentesten und aufgeschlossensten Leute, die es in der SED überhaupt zu diesem Themenkreis gab. Die Sache war nun einmal so, daß für diesen Bereich nicht etwa eine Abteilung des ZK zuständig war, wie es sich zweifellos für eine sozialistische Partei "gehört" hätte. Selbstverständlich wäre es für "normale" SED-Mitglieder, selbst im höheren Funktionärsrang, schwierig gewesen, sich authentische Informationen über die Westlinke zu verschaffen. Auch der AK war in der DDR nicht zu beziehen und wurde anhand einer ellenlangen Schwarzen Liste beim Grenzübertritt konfisziert. Andererseits unternahm die zuständige Abteilung des MfS dann selbst groteske Anstrengungen, um solche Zeitschriften durch Kuriere - so eben beispielsweise auch Croissant - an den eigenen Grenzwächtern vorbeischmuggeln zu lassen, da man ja auf dem Laufenden bleiben wollte und mußte. Tatsächlich eben nicht nur mußte, sondern auch subjektiv wollte. Denn der Umstand, daß diese Leute ständig mit einer Menge fremder, ja "feindlicher" Informationen und Standpunkte konfrontiert waren, was den meisten Parteifunktionären ja weitgehend erspart blieb, ermöglichte anscheinend auch das Aufkommen von subjektiver Interessiertheit und einer gewissen Toleranz im Umgang, wenigstens bei einem Teil der mit diesen Kontakten Befaßten.
Jedenfalls wäre das Klischee völlig falsch, man hätte es bei Kontakten zum MfS nur mit subalternen Dummköpfen zu tun gehabt, die zum Verständnis politischer Inhalte gar nicht in der Lage waren. Im Gegenteil war eher die Annahme berechtigt, daß ein SEDler, der zu DDR-Zeiten oder auch in den Monaten nach der "Wende" vergleichsweise gut über das gesamte Spektrum der BRD-Linken informiert war und mehr im Blick hatte als bloß immer wieder die DKP, vermutlich in irgendeinem näheren Zusammenhang zum MfS stand. Andererseits: Wenn man etwa um 1980 mit einem SED-Funktionär "direkt" gesprochen hätte, so bedeutete das doch überhaupt nicht, daß man nicht gleichzeitig auch mit einem IM der Stasi sprach. Zumindest ist davon auszugehen, daß das Berichtswesen sehr verbindlich und ausführlich war. Was in solchen Gesprächen gesagt worden wäre, hätte also mit höchster Wahrscheinlichkeit ebenfalls in irgendeiner Form wieder beim MfS ankommen müssen.
Insofern halte ich den Gedanken für absurd, Gespräche mit MfS-Leuten wären per se schmuddelig und anrüchig gewesen, hingegen wären sie mit SED-Leuten - wenn es denn diese direkte Möglichkeit gegeben hätte, es gab sie jedoch nicht! - nicht nur moralisch einwandfrei, sondern sogar wünschenswert gewesen. Das ist die leidige künstliche Trennung zwischen den beiden Instanzen, für die es in der Realität der DDR keine Grundlage gab. Das MfS war wirklich "Schild und Schwert der Partei" in dem Sinne, daß es dieser unterstand und daß diese für das gesamte Treiben ihrer "Organe" voll verantwortlich gemacht werden muß. Deshalb überzeugt mich auch das Argument nicht, das MfS sei ein schlimmes Unterdrückungsinstrument im Inneren der DDR gewesen und hätte deswegen für Linke kein Gesprächspartner sein dürfen. Ja, es war ein Instrument der Repression, der Mundtotmachung jedweder Opposition, aus welcher politischen Richtung auch immer. Aber dann müßte man, konsequent weitergedacht, selbstverständlich auch Gespräche mit der SED generell für falsch halten, denn seit wann ist der Auftraggeber der Repression ehrenwerter als sein ausführendes Instrument?
Wenn wir aber übereinstimmen, daß es dennoch notwendig und sinnvoll war, das Gespräch mit der SED zu suchen - was aus völlig anderer Interessenlage nicht einmal die etablierten Parteien in Abrede stellen -, dann kommt es letzten Endes absolut nicht darauf an, mit wem beispielsweise Klaus Croissant damals sprach, sondern ausschließlich darauf, was er den Leuten mitgeteilt hat. Was man aus politischen und moralischen Erwägungen damals dem MfS nicht hätte erzählen dürfen, das hätte man auch "normalen" SED-Funktionären nicht sagen dürfen, da zumindest die Wahrscheinlichkeit bestand, daß es am Ende auf den gleichen Schreibtischen und in den gleichen Aktenordnern gelandet wäre. Gleiches gilt aber auch umgekehrt: was man guten Gewissens mit der SED hätte bereden können, das hätte auch im Gespräch mit dem MfS keinen Schaden anrichten können.
Fragt sich also, worum es im "Fall Croissant" konkret ging. Der angeklagte Genosse hat bei mehreren Gelegenheiten betont, daß er außer persönlichen Einschätzungen nur Informationen gegeben hat, die öffentlich und allgemein zugänglich waren oder die zumindest keinen speziellen Geheimniswert hatten. Ich meine, daß wir diese Aussagen, sofern nicht schlüssig das Gegenteil bewiesen wird, erst einmal als wahr unterstellen sollten. Das ist noch nicht einmal ein Gebot linker Solidarität, sondern schlichtes bürgerliches Rechtsempfinden. Deshalb halte ich es für unangebracht, wenn Claudia die Frage aufwirft, "ob J. es denn ebenso völlig normal und akzeptabel gefunden hätte, wenn jemand Berichte über Strukturen und Personen des damaligen KB bei der DKP ausgeplaudert hätte." Das suggeriert doch, vielleicht mißverständlich formuliert, daß Croissant etwas annähernd Vergleichbares getan haben könnte. Das wirft ihm jedoch meines Wissens nicht einmal die Anklage vor. Im übrigen war Croissant, der ja außerhalb größerer kollektiver Zusammenhänge stand, zweifelsfrei gar nicht in der Lage, Geheimnisse über die inneren Strukturen irgendeiner Organisation auszuplaudern, selbst wenn er dazu bereit gewesen wäre. Da mußte das MfS sich schon anderweitig informieren, durch Zuträger in den diversen Organisationen selbst, und hat es höchstwahrscheinlich auch getan.
Ebenso geht meiner Ansicht nach Claudias Argument fehl, man könne schließlich überhaupt nicht wissen, "welche politischen Kontakte wegen solcher Berichte (von Croissant beim MfS) nicht zustande kamen, welche Einreiseverbote erteilt wurden". Auch hier verlangt schon das bürgerliche Rechtsempfinden, im Zweifelsfall zugunsten des Angeklagten zu entscheiden. Das heißt, solange nicht einmal ein begründeter Verdacht besteht, daß speziell Croissants Berichte auch nur zu einer einzigen Kontaktverhinderung, zu einem einzigen Einreiseverbot geführt oder wenigstens beigetragen haben, sollten derartige öffentliche Spekulationen nicht angestellt werden.
Es ist überdies wirklich nicht anzunehmen, daß das MfS von Croissant irgendetwas Wesentliches über die "einschlägigen Personen" erfahren konnte, was es nicht eh schon wußte. Gerade die Grünen um Petra Kelly, vor deren Kontakten und Aktivitäten in der DDR die SED und das MfS offenbar die größte Angst hatten, agierten ja überhaupt nicht konspirativ, sondern im Gegenteil wie der Elefant im Porzellanladen, was auch in DDR-Oppositionskreisen kein Entzücken hervorrief. (Detailliert nachzulesen in alten AKs)
Für grundsätzlich falsch halte ich Claudias Ansicht, Croissants Mitteilungen an das MfS seien in jedem Fall "ein Verstoß gegen Vertrauen und gegen das auch von Linken mühselig erkämpfte Recht auf informationelle Selbstbestimmung" gewesen. Politisches Handeln ist natürlicherweise und von vornherein für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt, es strebt diese von sich aus an. Gerade ein politisch agierender Mensch kann sich insofern nicht auf "informelle Selbstbestimmung" berufen, sondern muß damit rechnen, daß sein politisches Verhalten Gegenstand öffentlicher Darstellungen und Erörterungen werden kann, unter Umständen auch gegen seinen Willen.
Beispielsweise haben wir im AK niemals Bedenken gehabt, interne Papiere aus der Grünen Partei oder aus irgendeiner ML-Gruppierung zu publizieren, wenn uns diese als aussagekräftig erschienen. Vermutlich haben wir im AK sehr viel mehr beispielsweise über innergrüne Strukturen und Debatten "ausgeplaudert", als Croissant überhaupt vermocht hätte. Das beinhaltete immer auch die Möglichkeit, daß dies in irgendwelchen geheimdienstlichen Ordnern landete, und das mußte selbstverständlich stets mitbedacht werden.
Allgemein gesprochen gab und gibt es zwei Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Das ist zum einen der Bereich der persönlichen "Intimsphäre", wo es nicht um die politische Seite eines Menschen geht. Das ist zweitens die Rücksicht auf Gefährdungen von Personen: Was jemand juristisch angreifbar machen könnte, was zu beruflichen Nachteilen führen könnte, das darf selbstverständlich nicht publiziert oder in anderer Form weitergegeben werden. Alles andere jedoch unterliegt keiner "Geheimhaltungspflicht".
Soweit stimme ich Uwe Wesel zu, der im "Freitag" (23.10.92) schrieb: "Diese ,nachrichtendienstlichen Tätigkeiten`, von denen sowohl unser Strafgesetzbuch als auch das der DDR spricht, sind im Zeitalter einer Massenkommunikation über Medien, denen nichts verborgen bleibt, vollkommen unsinnig. Nach unserem § 99 ist es ja schon strafbar, wenn man dem Nachrichtendienst eines fremden Landes ,Tatsachen` mitteilt, und das hat Klaus Croissant allerdings getan, aber das Groteske an seiner Geschichte ist, daß diese ,Tatsachen` nun überhaupt keine Staatsgeheimnisse waren - er hat, wie soll ich sagen, die westdeutsche Linke beschrieben. Das taten alle Zeitungen, da hätte das MfS sich besser über die taz informiert als über Herrn Croissant. Die westdeutsche Linke unterliegt nun wahrhaftig nicht der Geheimhaltung (...)." - Nicht nachvollziehbar ist für mich gerade angesichts dieser deutlichen Darlegung, daß Wesel dennoch zum Urteil kommt, "Croissants Taten" seien "moralisch und politisch sehr verwerflich" gewesen.
Ganz ähnlich der Tenor eines TAZ-Kommentars (11.2.93) von Manfred Kriener: "Informationen aus der TAZ (wo Croissants ebenfalls zum MfS Kontakt haltende Freundin Brigitte Heinrich arbeitete) waren derart geheim, daß sie am nächsten Tag in allen Zeitungen standen. Die taz war und ist ein offenes Haus, Fraktionsströmungen und Positionen von Redakteuren sind stadtbekannt. Und auch die Grünen pflegten, wie die gesamte linke Szene, ihre Konflikte mit exhibitionistischer Inbrunst in der Öffentlichkeit auszutragen. Hier war nichts geheim, sondern alles bis zum Erbrechen öffentlich." - Das hält den Kommentator jedoch nicht davon ab, Croissant als "Stasi-Spitzel" zu titulieren, auf dem nun zurecht "das Stigma des Verräters" laste.
Aus der bisherigen Prozeßberichterstattung war meines Wissens nichts zu erkennen, das den Verdacht begründen würde, Croissant hätte Fakten weitergegeben, die nach Lage der Dinge nicht hätten weitergegeben werden dürfen. Formulierungen wie "Croissant bespitzelte Kelly und Vollmer" (TAZ, 12.2.93) sind Glanzleistungen der Infamie, da Croissant selbstverständlich von vornherein nicht in der Lage gewesen wäre, solche Leute zu bespitzeln, selbst wenn er es gewollt hätte, wofür es aber offenbar selbst in der Klageschrift keine Anhaltspunkte gibt. Croissant hat, anders als manche IMs, eben gerade nicht das Vertrauen von ihm scheinbar nahestehenden Menschen mißbraucht, indem er seine wirklichen Ansichten und Absichten verbarg. Es gibt daher - beim jetzigen Stand der Erkenntnisse - aus meiner Sicht keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem politischen Journalismus, wie wir ihn im AK praktiziert haben, und den Mitteilungen, die Croissant einem kleineren Publikum zukommen ließ. Beides waren Versuche, linke Positionen und Einschätzungen zu vermitteln. Beides gleichermaßen legitim, wahrscheinlich gelegentlich auch beides gleichermaßen problematisch.
Wie bereits oben dargestellt: Wer als radikaler Linker Ansichten und Informationen an die SED herantragen wollte, auch um zu einem differenzierteren Bild beizutragen, der hatte nicht die freie Auswahl, sondern wurde zum Lieferanteneingang gewiesen. Man konnte das ablehnen - und damit zwar auf einige bescheidene Darstellungsmöglichkeiten verzichten, aber die politische Würde wahren. Man konnte sich aber auch so entscheiden wie Croissant: daß das wichtige eben die Botschaft war, daß diese auch über das MfS weitervermittelt werden konnte, und daß der Unterschied zwischen den Instanzen des DDR-Systems wirklich nicht erheblich war. Für beide Optionen lassen sich plausible Argumente anführen. Keinesfalls steht es uns meiner Ansicht nach zu, den Genossen in irgendeiner Weise moralisch und/oder politisch zu verurteilen, auch nicht in der Weise, daß man ihm das "Recht auf Irrtum" zuspricht. Aber "Bündnispartnerin DDR"? Nein, wie eine solche hat sich die DDR uns gegenüber, im Verhältnis zur radikalen Linken der BRD insgesamt, nun wahrhaftig nicht verhalten. Und die Begrifflichkeit des "objektiven Bündnispartners" ist nicht weniger fragwürdig als die des "objektiven Gegners". Im AK war das Verhältnis vor sehr vielen Jahren einmal mit der Formulierung umschrieben worden, wir säßen unfreiwillig, aufgrund der gegebenen Situation, mit den Staaten und Parteien des "real existierenden Sozialismus" in einem Boot. Wohlgemerkt, selbstverständlich mit jenen als Steuermann. In einer solchen Lage muß man den Schicksalspartner nicht mögen, um doch zu akzeptieren, daß man aufs engste mit ihm verbunden ist und sich wünscht, daß er durchhält, daß er die "gemeinsame" Sache nicht durch vermeidbare Fehler und Uneinsichtigkeit aufs Spiel setzt.
Ja, wir waren sehr daran interessiert, daß die DDR nicht scheiterte, und ich beklage ihren Untergang nicht nur wegen seiner Form, sondern auch als solchen. Aber das in die Formulierung zu kleiden, die DDR sei "der bessere deutsche Staat" gewesen, würde ich nachträglich doch für eine überflüssige, inhaltlich zwiespältige und fragwürdige Überhöhung eines primär pragmatischen Problems halten. Sie war der "bessere" Staat unter manchen Gesichtspunkten, unter anderen jedoch wiederum nicht. Daß man unsere politischen Auffassungen im "schlechteren" deutschen Staat insgesamt relativ problemlos publizieren konnte, während im "besseren" der AK nur in wenigen exklusiven Archiven im Giftschrank lagerte, ja daß sogar unsere antifaschistischen Dokumentationen (z.B. "Russell-Reihe") an der Grenze stur nach Liste beschlagnahmt wurden, rechne ich beispielsweise nicht zu den Pluspunkten der DDR.
Die Frage, ob die DDR nun "Bündnispartnerin" war oder nicht, impliziert eine einfache Antwort auf eine Realität, die nur ein "Einerseits-Andererseits" zuläßt. Diese Frage ist aber für unsere Einstellung zum "Fall Croissant" meiner Ansicht nach überflüssig. Zwar legt der Genosse selbst in seinen Äußerungen großen Wert darauf, er halte die DDR auch rückblickend immer noch für den "besseren deutschen Staat". Dennoch mußte man nicht so unbedingt und gradlinig dieser Meinung sein, um hinsichtlich der Notwendigkeit von Gesprächs- und Informationskontakten zur SED - auch unter Inkaufnahme von Umwegen - zu ähnlichen Schlußfolgerungen wie Klaus Croissant zu gelangen. Auch wenn ich, siehe oben, Croissants Entscheidung nicht für die einzig richtige halte, so war sie doch mehr als nur legitim, nämlich auch verdienstlich, indem sie unter persönlichem Risiko sich einem besonders schändlichen Paragraphen des Strafgesetzbuchs widersetzte.
Knut Mellenthin
analyse & kritik, 10. März 1993