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"Überzogene Israelkritik" oder Antisemitismus?
Erinnert man sich noch an den Antisemitismus-Streit in der Linken? Am 7. Juni vorigen Jahres verabschiedete die Bundestagsfraktion der Partei eine Resolution, in der sie sich von allen Vorstellungen eines gemeinsamen jüdisch-arabischen Staates, von Boykottaufrufen gegen israelische Produkte und von der Unterstützung der Hilfsschiffs-Aktionen für das Gaza-Gebiet distanzierte. Diese politische Festlegung wurde ausdrücklich als verbindlich und verpflichtend gekennzeichnet: „Wir erwarten von unseren persönlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Fraktionsmitarbeiterinnen und Fraktionsmitarbeitern, sich für diese Positionen einzusetzen.“ Anderenfalls drohte, wie die parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion, Dagmar Enkelmann, explit verkündete, die Entlassung.
Die Resolution enthielt zusätzlichen Sprengstoff dadurch, dass sie mit dem Satz eingeleitet wurde: „Rechtsextremismus und Antisemitismus haben in unserer Partei heute und niemals einen Platz.“ Damit waren die verurteilten Positionen zur Nahostpolitik offensichtlich entsprechend abgestempelt, auch wenn das nachträglich viele Betreiber dieser merkwürdigen Entschließung nicht mehr wahrhaben wollten.
Vorausgegangen war diesem von nackter Angst diktierten, beispiellosen Schritt ein Allparteien-Tribunal im Bundestag, das am 25. Mai stattgefunden hatte. Dessen Grundlage wiederum war ein 16seitiges Pamphlet, das in sämtlichen Mainstream-Medien als erhellende und aufklärende „Studie“ über die Dominanz antisemitischer Positionen und Verhaltensweisen in der Partei Die Linke bejubelt worden war. Verfasser des Papiers waren Sebastian Voigt und Samuel Salzborn, ersterer ein Gründungsmitglied des Bundesarbeitskreises (BAK) Shalom.
Der Streit in der Partei, zum Teil scharf ausgetragen, verlief sich nach kurzer Zeit im Sande. Aus unterschiedlichen Gründen scheinen alle Beteiligten froh zu sein, wenn die damit immer noch verbundenen Meinungsverschiedenheiten nicht angerührt werden. Vor kurzem haben jedoch Peter Ulrich und Alban Werner das Thema wieder aufgegriffen. Ihr Aufsatz unter dem Titel „Ist DIE LINKE antisemistisch? Über Grauzonen der 'Israelkritik' und ihre Kritiker“ ist in der Ausgabe 4/2011 der Zeitschrift für Politik erschienen. Die Mainstream-Medien und anscheinend auch die Partei nahmen von dem neuen Diskussionsbeitrag kaum Notiz.
Nicht wirklich überraschend kommen Ulrich und Werner zur Feststellung, dass das Voigt-Salzborn-Papier „in verschiedener Hinsicht grundlegenden wissenschaftlichen Kriterien nicht genügt“ und „methodisch mangelhaft“ sei. Es sei „logisch an mehreren wichtigen Stellen inkonsistent und weist eine äußerst selektive und reduktionistische Behandlung von Stellungnahmen und Ereignissen auf“. Von wenigen „anekdotisch präsentierten“ Einzelfällen hätten die Verfasser Schlüsse „auf die Partei als Ganzes“ gezogen, die alles andere als sachlich gerechtfertigt seien.
Tatsächlich sind das grobe, den Leser geradezu anspringende Schwächen der „Studie“ von Voigt und Salzborn. An diesem Punkt stellt sich allerdings die Frage, ob Ulrich und Werner mit ihrem Versuch, das Pamphlet nach den Kriterien einer wissenschaftlichen Schrift zu bewerten, überhaupt die richtige Ebene gewählt haben. In Wirklichkeit handelte es sich bei der „Studie“ um politische Agitation, und zwar von der schmutzigsten, unredlichsten Sorte. Das Bemerkenswerteste daran ist der Erfolg, den eine derartig primitive Kampfschrift in den Mainstream-Medien und bei den Politikern der etablierten Parteien haben kann – sofern sie deren Ziele bedient. In diesem Fall waren es gleich zwei: Das Heruntermachen der Linken mit allen Mitteln und die Förderung einer auf die vermeintlichen Interessen Israels zentrierten Nahostpolitik.
Was setzen Ulrich und Werner dagegen? In ihrem Fazit schreiben sie: „Es gibt innerhalb der bundesdeutschen und europäischen Gesellschaften ein manifestes Problem mit Antisemitismus, der sich als weltbildhafter, verschwörungstheoretischer Antizionismus und in Form von unangemessener und überzogener 'Israelkritik' tatsächlich auch innerhalb linker Zusammenhänge zeigen kann (…) Ein Großteil der Phänomene erscheint jedoch weniger als manifester Antisemitismus, sondern eher als eine breite Grauzone des Übergangs von Kritik zu Ressentiment. Die Phänomene in dieser Zone müssen zweifelsohne noch genauer untersucht und begrifflich gefasst werden (…).“
Genau darin liegt offenbar das Problem: Die Übergänge sind nicht mit wissenschaftlichen Methoden zu definieren und einzugrenzen. Das Thema „Antisemitismus“ ist heute in erster Linie Schauplatz von heftig und oft unsachlich ausgetragenen Auseinandersetzungen. Im Vordergrund stehen dabei grundsätzliche ebenso wie tagespolitische Meinungsverschiedenheiten über die Nahostpolitik, die tendenziell alles einschließen, was als „israelische Interessen“ gelten kann: die türkische Außenpolitik, die gesellschaftlichen Veränderungen in Ägypten oder die Kampagne gegen Irans Atomprogramm. Ab welchem Punkt oder welcher Linie Kritik an der israelischen Politik als „unangemessen und überzogen“ betrachtet wird, ist nicht objektivierbar, sondern steht immer in Relation zu den eigenen Standpunkten. Gerade diese Frage ist aber heute fast immer der Kern von Antisemitismusvorwürfen.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 28. Januar 2012