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Anmerkungen über eine DDR-typische Tätigkeit

Mit dem "Fall Jutta Braband" hat das Grübeln und Streiten um die "MfS-Problematik" eine neue Dimension und Spannung bekommen. Hier war jemand erst "Täterin", bevor sie zum "Opfer" wurde. Über die auf der PDS-Liste in den Bundestag gelangte unabhängige DDR-Linke Jutta Braband wußte man bisher, daß sie schon seit den siebziger Jahren in der Opposition aktiv war. 1979-80 war sie deswegen neun Monate lang im Gefängnis. Zweifellos hat sie auch viele andere Beschwernisse und Nachteile in Kauf genommen, mit denen man in der DDR jede Art von Opposition klein und leise zu halten versuchte.

Nun hat sie uns mit dem verspäteten Geständnis überrascht, daß sie ungefähr im Zeitraum 1969/70 bis 1974/75 Inoffizielle Mitarbeiterin (IM) der Stasi war, bevor sie sich oppositionell engagierte. Die Übergänge waren anscheinend ein bißchen fließend und undefinierbar. Daß sie durch ihre Mitteilungen an das MfS auch FreundInnen aus der Opposition gefährdet hat, will Jutta nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen. Aber es scheint sich, wenn man ihr Bekenntnis liest - dokumentiert im letzten AK -, der gnädige Mantel der Amnesie über jene sündhafte Episode zu breiten. Daß sie jemals eine Verpflichtungserklärung unterschrieben oder Geld vom MfS erhalten hat, verneint Jutta nur mit dem Vorbehalt "meines Wissens". Auch den Zeitraum ihrer IM-Tätigkeit kann oder will sie nicht aufs Jahr genau eingrenzen. Was für Informationen sie weitergegeben hat, erfahren wir aus ihrem Geständnis nur äußerst vage und allgemein. Daß wir gerade auf diese Dinge besonders neugierig sind, weiß Jutta selbstverständlich. Aber leider: alle interessanten Details hat sie erfolgreich verdrängt. Dafür ist ihr der Deckname von einem der für sie zuständigen "IM-führenden Mitarbeiter" noch in Erinnerung: Engelhardt nannte er sich. So genau wollten wir es nun wiederum gar nicht wissen.

He. hat im letzten AK versucht, allseitig und fair zum "Fall Jutta Braband" Stellung zu nehmen, hat sich dabei aber m.E. in der auch von ihm konstatierten "Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit" der Sache verfangen. Einerseits hebt he. die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der Motivation sowie des Charakters und des Ausmaßes der Zusammenarbeit mit dem MfS hervor. Andererseits ist sein politisch-moralisches Urteil aber doch sehr streng: Juttas Verfehlung sei zwar "erklärbar, aber eben nicht absolutierbar". Auch Juttas Motiv, "Verteidigung eines vermeintlichen Sozialismus", rechtfertige "keine Absolution". Den Aspekt der Läuterung der Sünderin durch tätige Reue, auf den Gregor Gysi sein Plädoyer für Jutta ausschließlich abstellt - ebenfalls im letzten AK nachzulesen -, hat he. anscheinend nicht gebührend mit in Betracht gezogen.
Ein objektiv vermeidbarer Fehler?

Mitarbeit beim MfS war, schreibt he., auf jeden Fall "ein Fehler, und zwar ein (objektiv) vermeidbarer Fehler". Denn: "Wer als MitarbeiterIn der Stasi gearbeitet hat, hat nicht nur abstrakt zur Aufrechterhaltung des Systems beigetragen, sondern selbstverständlich auch zur Niederhaltung oppositioneller Gedanken, Strömungen und unangepaßten Denkens". Und: "Die Begründung, man habe nur die Verteidigung des Sozialismus im Auge gehabt, muß sich gefallen lassen, daß die Erkenntnis, daß es sich nicht um Sozialismus gehandelt hat, sehr spät kommt (während andere wegen genau dieser Erkenntnis und ihrem daraus resultierenden Handeln schon im Knast saßen oder gesellschaftlich ausgegrenzt wurden)."

Das scheint mir nun doch, entgegen der von he. an anderer Stelle verdeutlichten Absicht zur Differenzierung, sehr ins Kategorische abgeglitten zu sein. Die zentrale Frage, über die zu sprechen wäre, scheint mir zu sein: War es per se und generell ein Fehler, zur "Aufrechterhaltung des Systems" der DDR freiwillig und bewußt beizutragen? Falls es so gewesen wäre, sollte dennoch damit Schluß gemacht werden, auf die IM und anderen Mitarbeiter des MfS als HauptsünderInnen mit angespitztem Finger zu deuten. Den qualitativ gleichen "Fehler" hätten dann nämlich alle DDR-Menschen begangen, die eine staatliche Funktion hatten, die bei der NVA waren, die mehr als nur nominell Mitglied der SED waren, die als KünstlerInnen oder SportlerInnen das "internationale Ansehen der DDR" mehrten, die Kaderfunktionen in der Produktion hatten, oder die sich einfach nur bemühten, ihre Arbeit gut zu machen.

Mir scheint, daß Juttas Lebenslauf, als Ganzes genommen, manchen "anständigen" PDSler beschämen müßte, der bis zuletzt an irgendeiner leitenden Stelle für seinen Staat tätig war und der nun (ungewollt) in die Rolle des Richters über eine Frau gerät, die unter den negativen Aspekten des DDR-Systems sicher weit mehr und vermutlich länger gelitten hat als er selbst. Wenn PDSler zum "Fall Braband" lieber schweigen und hoffen, daß möglichst bald niemand mehr darüber spricht, ist das in der gegebenen Situation nachvollziehbar, denn die Möglichkeiten der PDS, am Punkt MfS "in die Offensive zu gehen", sind etwa gleich Null.
Ein Problem der gesamten DDR-Gesellschaft

Selbstverständlich ist das eigentlich kein spezifisches PDS-Problem, sondern betrifft viel breitere Kreise der alten DDR-Gesellschaft. Der Beitrag der IM Jutta Braband für die "allseitige Stärkung" der DDR war naturgemäß viel geringer als der, den ein Betriebsleiter, ein international erfolgreicher Leistungssportler, ein Bürgermeister oder ein Kulturfunktionär leisteten. (Und es ist noch nicht einmal gesagt, daß nicht etliche von denen auch brav Berichte fürs MfS abgeliefert haben.)

Daß jetzt jede Tätigkeit für das MfS über alle Maßen dämonisiert wird, hat sicher einen Grund: Die Menschen, die das DDR-System primär als repressiv und entmündigend wahrnahmen, und das war eben doch die Mehrheit der DDR-Bevölkerung, identifizieren das MfS mehr als irgendeine andere Institution mit Kontrolle und Unterdrückung. Wer für das MfS tätig war, gilt als geächtet. Zu fragen wäre, wieweit damit viele DDR-Menschen auch die Tatsache "abarbeiten", daß sie sich mit ihrem Staat, mit der SED, vielleicht sogar auch mit der Stasi doch weiter eingelassen hatten, als sie heute noch wahrhaben möchten.

Die Medien der BRD, die den NSDAPler Kiesinger als Bundeskanzler klaglos ertragen hatten, heizen den Haß und die Diskriminierung gegen ehem. MfS-Mitarbeiter kräftig an. Das bringt die PDS als Nachlaßverwalterin der SED zweifellos unter beträchtlichen Druck und provoziert opportunistische Reaktionen. Andererseits ist den meisten Mitgliedern und Kadern der PDS vermutlich bewußt, wie unfair und heuchlerisch es wäre, heute der relativ kleinen Zahl der erkannten oder bekennenden IM anzulasten, was auf die eine oder andere Weise die meisten von ihnen gleichfalls gewollt haben: den Staat DDR erhalten, ihn stärken, trotz Kritik und auch durch Kritik.

Mehr noch: Viele, vielleicht sogar die meisten PDS-Mitglieder müßten wahrscheinlich, falls sie bewußt mit den Dingen umgehen, eingestehen, daß sie irgendwann und irgendwie in ihrem Leben in einer zuarbeitenden Beziehung zum MfS waren. In einer Gesellschaft, wo das MfS viele Tätigkeiten an sich zog, die in parlamentarisch-demokratischen Ländern überhaupt nicht zu den geheimdienstlichen Aufgaben gehören, konnten diese Beziehungen natürlich viele Formen annehmen. Dieses Thema wäre einer gründlicheren Bearbeitung durch "Sachverständige" wert. Es sei zur Verdeutlichung daran erinnert, daß in der DDR das MfS beispielsweise allgemeine Informationen beschaffen mußte, die eine kapitalistische Demokratie ganz offen und ehrenwert - und sogar sehr viel besser - durch Meinungsforschung aller Art, freie Wahlen, Leserbriefe usw. zusammenträgt. Bereiche der wissenschaftlich-politischen Arbeit waren dem MfS zugeordnet, beispielsweise im Bereich der Außenpolitik, die normalerweise keinen explizit geheimdienstlichen Charakter haben. Für Beobachtung der linken und grünalternativen Szenen der BRD und damit verbundene Kontaktpflege war nicht eine SED-Abteilung, sondern wiederum das MfS zuständig. Primär ging es dabei aber nicht um die Ausforschung von Personen, sondern um die Gewinnung differenzierterer politischer Vorstellungen - auch wenn dies leider von platter Bespitzelung nicht immer absolut getrennt war.

Um das Bild abzurunden: Es gab MfS-Mitarbeiter, die sich vorwiegend mit Pannen in der Produktion zu beschäftigen hatten. Ausgehend von der ursprünglichen Fragestellung, ob die Panne möglicherweise auf "Sabotage" zurückzuführen sei, wurde mancher MfS-Mitarbeiter zum Experten für alltägliche Schwierigkeiten des betrieblichen Ablaufs. Es gab auch MfS-Mitarbeiter, die das rechtsextreme Spektrum zu beobachten hatten, und es fragt sich, was wir denen vorwerfen wollen - außer vielleicht, daß sie nicht gut genug hingesehen und nicht scharf genug draufgeschlagen haben? Und dann natürlich die Leute von der HVA, oder die Menschen, die sich darum kümmerten, daß ausländische Hochtechnologie ins Land kam, die der Westen der DDR durch Boykott-Maßnahmen vorenthalten wollte. Haben sie alle einen "objektiv vermeidbaren Fehler" gemacht?

Trotz allem "der bessere deutsche Staat"?

Der Kritikansatz von he., der den Einsatz für den Erhalt und die "allseitige Stärkung" der DDR kategorisch als verwerfliches Ziel beurteilt, und der die Tätigkeit für das MfS als eine besonders schlimme Spielart dieser Zielsetzung einordnet, widerspricht seinem an anderer Stelle im gleichen Text geäußerten Vorschlag, differenziert zu bewerten, worin die betreffende Tätigkeit konkret bestanden hat.

Ein pauschalisierender Ansatz liefe - vom Autor zweifellos so überhaupt nicht gemeint - darauf hinaus, die PDS als "TäterInnen-Gemeinschaft" anzusehen, selbstverständlich nicht im strafrechtlichen, wohl aber im politisch-moralischen Sinn. Zwar: mancher der dort heute Ausharrenden hatte etwas früher erkannt, wie der Hase lief, mancher etwas oder sehr viel später. Mancher hat mutige und weitreichende Konsequenzen gezogen, mancher eher zaghafte. Mancher kann sich seinen Lebenslauf heute noch an die Wand hängen, mancher wird das lieber bleiben lassen. Mancher hat für "unbequemes" Verhalten Nachteile in Kauf genommen, während manch anderer für DDR-Verhältnisse ganz gut gelebt hat, ohne sich total an die Parteispitze verkaufen zu müssen. - Insgesamt aber gilt: Wer im Herbst 1989 noch in der SED war, und das waren über 95% der PDS-Mitglieder, muß wohl noch irgendeine Hoffnung gehabt haben, in dieser Partei und in diesem Staat DDR von innen heraus etwas bewirken zu können.

Das ist bekanntermaßen die politische Ausgangsbasis der PDS gewesen, und vor diesem Hintergrund muß sie von uns akzeptiert oder abgelehnt werden. Ich fände es eher erschreckend und abstoßend, wenn die GenossInnen einfach ganze Abschnitte ihres Lebens, bei denen es sich zum Teil um mehrere Jahrzehnte handelt, pauschal und ausschließlich als Irrtum und Fehler beiseite legen würden. Denn: Für die Auffassung, die DDR sei trotz allem "der bessere deutsche Staat" und müsse gegen die Begehrlichkeiten und Einmischungen des großen Bruders im Westen verteidigt werden, gab es Gründe, die wir zumindest nicht außer Diskussion stellen sollten.

Mir scheint, daß uns genau diese Frage, als eine unter den wesentlichen, seit Aufnahme unserer politischen Arbeit immer als Herausforderung begleitet hat. Welche Antworten haben wir im Laufe der Jahre darauf gegeben? Waren wir wirklich so meilenweit entfernt von dem, was Jutta in ihrem Bekenntnis über ihre positive Grundeinstellung zum Sozialismus Marke DDR sagt? Gewiß, sehr viel kritischer haben wir von hier aus alles in der DDR gesehen, aber kamen wir uns in der Kernfrage "besserer deutscher Staat" nicht doch auch nahe? Lag uns nicht zumindest der Erhalt dieses Staates irgendwie am Herzen, und sei es nur, weil die Alternative fast zwangsläufig "Wiedervereinigung" hieß?

Vor dem Hintergrund der Entwicklung seit Herbst 1989 erscheint das Argument erst recht plausibel, daß die Verteidigung der DDR zwar nicht hinreichende, aber notwendige Bedingung jeder Politik sein mußte, die nicht das Großdeutschland mit seinen Folgen wollte. Zumal es zu dem Versuch, unter den gegebenen Bedingungen aus der DDR "das Beste zu machen", was Entfaltung von Kritik allerdings einschließen mußte, jahrzehntelang überhaupt keine reale Alternative gab: Da die DDR extrem mit den Sicherheitsinteressen der UdSSR verbunden war, war der Spielraum für eine autonome Demokratisierung sehr gering.

Nein, Sozialismus war es wirklich nicht, was in der DDR "herrschte". Man mußte schon sehr naiv oder erziehungsmäßig sehr stark konditioniert sein, um die DDR als leuchtendes Ideal mit kleinen Flecken anzusehen, wie es Jutta von sich selbst (als damals Zwanzigjährige) beschreibt. He. hat recht, daß andere dies früher als Jutta erkannten und dafür große persönliche Nachteile in Kauf nahmen. Dennoch könnte es wohl sein, daß aus unserer politischen Sicht die Motive und Argumente mancher DDR-Dissidenten, gegen ihren Staat zu sein, "falscher" waren als die Fehler, die Jutta mit der Unterstützung dieses Staates gemacht hat. Die Dissidenten waren nicht per se die besseren Menschen, und die mit ihrem Staat Solidarischen nicht per se die schlechteren.

Über persönliche Beweggründe zu sprechen, wie He. vorschlägt, wäre zweifellos interessant, wäre vielleicht sogar ein entscheidender Schlüssel zu einer differenzierten politischen Beurteilung. Leider entzieht sich naturgemäß aber kaum ein Aspekt so sehr wie dieser der Offenlegung und Erörterung. Das gilt schon für normale Tätigkeiten, bei denen es "eigentlich nichts zu verbergen" gibt. Erst recht wird man auf die Frage, warum jemand für das MfS gearbeitet hat, nur subjektive, durch zahlreiche innere und äußere Zensuren gefilterte und entstellte Antworten bekommen.

Ein erstaunliches Phänomen besteht gerade darin, daß quer durch das gesamte heutige Spektrum der "neuen Bundesländer" ex-IM's in unüberschaubarer Menge vertreten sind - sogar in der Nazi-Szene -, und daß ebenso allgemein verbreitet die Amnesien sind, mit denen persönliche Vergangenheit verdrängt wird. Selbst wenn jemand als ex-IM "erwischt" wird oder den inneren Druck nicht mehr aushält, wird er zwar in der Regel recht bewegend Asche auf sein Haupt streuen, aber mit konkreten Schilderungen, was er nun eigentlich wirklich wann gemacht hat, äußerst wortkarg bleiben. Fast alles vergessen, nur noch Dunstschleier im Kopf. Menschen, die angeblich vergessen hatten, daß sie irgendwann eine Verpflichtungserklärung unterschrieben haben! Menschen, die sich nicht mehr erinnern können, ob sie jemals eine Erklärung unterschrieben haben! Menschen, die nicht einmal die Jahre angeben können, in denen sie für das MfS tätig waren!

Vermutlich war in der DDR-Gesellschaft Arbeit für das MfS tatsächlich so normal und selbstverständlich, daß die beteiligten Menschen dies nicht als einen besonderen Vorgang und Abschnitt in ihrem Leben vermerkten. Insofern mag ein Großteil der Gedächtnisschwächen sogar echt sein. Dennoch bleibt bei uns Wessis wohl oft der Eindruck, man wolle uns für dumm verkaufen, wenn man so ein "Bekenntnis" liest, in dem wieder einmal kaum ein konkretes Detail zu finden ist. Eine andere Form des Umgangs und der Debatte wäre reizvoller. Aber das würde, wie Gregor Gysi zutreffend hervorhob, einen relativ angstfreien Raum voraussetzen. Diesen zu schaffen, liegt im wesentlichen nicht bei uns. Es liegt aber vielleicht auch bei uns.

Knut Mellenthin

analyse & kritik, 21. Oktober 1991