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Kosovo: Gehe zurück auf LOS!

Die jugoslawische Krise ist dorthin zurückgekehrt, wo sie vor zehn Jahren begann: in den Kosovo. Damals, im Herbst 1988, erzwang die serbische Regierung den Rücktritt mehrerer prominenter albanischer Partei- und Staatsführer des Gebiets, das damals noch den Status einer autonomen Provinz innerhalb der jugoslawischen Teilrepublik Serbien hatte. An die Stelle der ausgeschalteten Politiker wurden willige Statthalter des serbischen Parteichefs Milosevic gesetzt.

Die albanische Bevölkerung des Kosovo antwortete auf die faktische Beseitigung ihrer Autonomie mit tagelangen Massendemonstrationen, vor allem in der Provinzhauptstadt Pristina. Die serbische Führung unter Milosevic organisierte daraufhin die erste Mega-Demo in Belgrad; von da an machte sie aus diesen Aufmärschen ein zentrales Mittel ihrer auf die Hegemonie im nach-titoistischen Jugoslawien zielenden Politik. Die Zahl der Teilnehmer, die aus allen Teilen Serbiens kamen, wurde mit 1,3 bis 1,5 Millionen angegeben. Milosevic und andere Redner sprachen von einem Völkermord der Kosovo-Albaner an der serbischen Minderheit und heizten die Pogrom-Stimmung weiter an mit der Behauptung, die Albaner würden systematisch serbische Frauen und sogar Kinder vergewaltigen. Die aufgeputschte Menge reagierte mit Sprechchören wie "Tod den Albanern!", "Albaner raus!", "Gebt uns Waffen!" und "Auf in den Kosovo!"

In den folgenden Monaten entwickelte sich im Kosovo eine breite Streikwelle, die sämtliche Betriebe, Verkehrsmittel und Handelsunternehmen erfaßte und praktisch den Charakter eines Generalstreiks annahm. Milosevic ließ diese Protestbewegung mit polizeilicher und militärischer Gewalt, Massenverhaftungen usw. niederwerfen.

Im März 1989 schränkte die serbische Führung die Autonomierechte der Provinzen Kosovo und Vojvodina (wo es eine ungarische Minderheit gibt) ein. Im Juli 1990 erklärte Milosevic das Parlament des Kosovo für ausgelöst und stellte die Provinz unter Zwangsverwaltung, nachdem die albanische Abgeordnetenmehrheit die "Unabhängigkeit" des Kosovo (gemeint war damals noch: als gleichberechtigte Republik innerhalb der jugoslawischen Föderation) proklamiert hatte. Ende September 1990 schließlich wurde durch eine neue serbische Verfassung die Autonomie des Kosovo und der Vojvodina vollständig aufgehoben. Ironischerweise nur drei Tage nach dieser Maßnahme, mit der die jugoslawische Verfassung an einem entscheidenden Punkt ausgehebelt wurde, erklärten die Serben in Kroatien mit Unterstützung Belgrads ihre Autonomie und proklamierten ihre Republik Krajina. Vom eigenwilligen Humor der serbischen Führung zeugte auch, daß sie weiterhin die Sitze des Kosovo und der Vojvodina in den jugoslawischen Bundesgremien für sich beanspruchte, obwohl deren Vertretung selbstverständlich nur in Zusammenhang mit dem Autonomiestatus Sinn machte und gerechtfertigt war. Die Tatsache, daß die Vojvodina, wo es keine nennenswerten Proteste gegeben hatte, ebenso behandelt wurde wie der Kosovo, widerlegt im übrigen das beliebte pro-serbische Argument, die Kosovo-Albaner hätten die Kassierung ihrer Autonomie durch ihren maßlosen Separatismus selbst provoziert.

Nationalismus als Rettungsanker

In Wirklichkeit sind die Gründe für das Vorgehen der serbischen Führung auf zwei Ebenen zu suchen, die beide mit der Situation Jugoslawiens nach Titos Tod (1980) in Zusammenhang standen:

 

  • 1.) Jugoslawien sah sich Anfang der 80er Jahre, wie etliche andere Staaten auch, hoffnungslos in der imperialistischen "Schuldenfalle" gefangen. Das Land war absolut zahlungsunfähig und vermochte sich nur noch mühsam von einem Schuldenmoratorium der internationalen kapitalistischen Institutionen zum nächsten zu schleppen. Als Gegenleistung mußte es eine vom internationalen Kapital diktierte Austerity-Politik durchführen, die in kürzester Zeit zu einer ungeheuren Verschlechterung der gesamten wirtschaftlichen und sozialen Situation der Bevölkerung führte. Die Folge waren Massenproteste, insbesondere Streiks. Als erster maßgeblicher jugoslawischer Politiker entwickelte Milosevic, der 1987 die Führung der serbischen KP übernahm, die Strategie einer chauvinistischen Ab- und Umlenkung der aufgebrachten Massen. Das schon seit Gründung Jugoslawiens brisante Kosovo-Problem bot sich als Thema Nummer 1 für kollektive nationalistische Haßausbrüche an. Stimmungsmache gegen die Strukturen Jugoslawiens, die angeblich permanent und überall die Serben - als eigentlich stärkste Teilnation - benachteiligten, kam als weiterer wichtiger Punkt der Agitation hinzu.
  • 2.) Die völlige politische Entrechtung der albanischen Bevölkerungsmehrheit des Kosovo diente außerdem unmittelbar dem Ziel, die Geschäftsgrundlage des jugoslawischen Bundesstaates in Frage zu stellen und das bisherige, sehr komplizierte Gleichgewicht einer Vielzahl von Kräften durch eine eindeutige serbische Hegemonie zu ersetzen. Wie schon erwähnt, brachte die Aufhebung der Autonomie des Kosovo und der Vojvodina der serbischen Führung zwei sichere zusätzliche Stimmen in den Bundesgremien. Eine dritte Stimme verschaffte Milosevic sich, indem er durch inszenierte Demonstrationen die Regierung der Republik Montenegro stürzen und durch ihm genehme Personen ersetzen ließ.

Während in der Vergangenheit die Repression gegen die Kosovo-Albaner von allen Teilrepubliken mitgetragen worden war, wurde sie nun aber zum taktischen Streitthema in dem ohnehin eskalierenden Konflikt zwischen den Nationalitäten. Anfang September 1990 beschloß das slowenische Parlament, alle zentralen politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen zu blockieren, solange die Bevölkerungsmehrheit des Kosovo ihrer Rechte beraubt werde. Ende September 1990 folgte die Übernahme des Kommandos über die Territorialverteidigung der Republik und die Regelung des Wehrdienstes slowenischer Soldaten durch die Regierung in Ljubljana.

Zur Vervollständigung der Chronologie in Kürze:

Am 25. Juni 1991 erklärten Slowenien und Kroatien sich zu selbständigen Staaten. Daraufhin versuchte die Bundesarmee, die Zentralgewalt über Slowenien mit Gewalt wiederherzustellen, zog sich aber nach den ersten Mißerfolgen ganz aus der Republik zurück und griff statt dessen Kroatien an. Am 27. April 1992 verkündeten Serbien und Montenegro ihre Vereinigung zu einer neuen Bundesrepublik Jugoslawien. Im Mai 1992 griff der Bürgerkrieg auf Bosnien-Hercegovina über, das nun zum Hauptschauplatz der Kämpfe wurde, nachdem die Lage in Kroatien seit Februar 1992 weitgehend stabil war. Anfang August 1995 begann die kroatische Armee eine Großoffensive gegen die 1990 auf dem Boden Kroatiens proklamierte serbische Krajina-Republik. Diese Offensive führte innerhalb weniger Tage zur vollständigen Wiederbesetzung des Gebiets und zur Vertreibung oder Flucht der gesamten serbischen Bevölkerung. Im November 1995 mußte Milosevic aufgrund der veränderten militärischen Lage und unter starkem Druck der NATO das Dayton-Abkommen akzeptieren, mit dem der Krieg in Bosnien-Hercegovina beendet wurde.

"Serbischer Kosovo"?

Daß der Kosovo vor 600 Jahren einmal ein Kerngebiet Serbiens war, ist eigentlich das blödeste unter allen Argumenten, die sich zu diesem Streit vorbringen lassen. Er spielt aber in der nationalistischen Agitation der serbischen Führung eine wesentliche Rolle - und verirrt sich auf diesem Weg gelegentlich sogar mal ins "Neue Deutschland" oder in die "Junge Welt". 1389 erlitt Serbien seine entscheidende Niederlage gegen das expandierende Osmanische Reich im Gebiet des heutigen Kosovo. Von da an bis zum Jahr 1912 stand der Kosovo über 500 Jahre lang unter türkischer Herrschaft. Wenn man schon unbedingt in historischen Kategorien diskutieren will, sollte das Gebiet also eigentlich zur Türkei gehören, denn serbisch war es vor der Niederlage von 1389 nur etwa 250 Jahre lang gewesen.

Serbien - das selbst erst 1878 seine volle staatliche Unabhängigkeit erreicht hatte - annektierte den Kosovo (und Makedonien) 1912/13 als Ergebnis eines Koalitionskrieges gegen das Osmanische Reich. Es brachte diese Gebiete als sein Eigentum in das nach dem 1. Weltkrieg gegründete sogenannte Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen ein. Der Name weist darauf hin, daß die Einwohner von Bosnien-Hercegovina und von Makedonien ebenso wie die Kosovo-Albaner und die Ungarn der Vojvodina nicht als Staatsvölker anerkannt waren; auch die Montenegriner kamen als eigenständige Nation nicht vor, sondern galten als Serben.

Im Oktober 1929 wurde der Staat umbenannt in Jugoslawien, d.h. Land der Südslawen. Mit dieser Neubetitelung und mit verwaltungstechnischen Maßnahmen sollte das Streben nach Homogenisierung der staatstragenden Nationalitäten des Landes ausgedrückt und gefördert werden. Tatsächlich gelang es jedoch nicht, insbesondere den kroatisch-serbischen Konflikt zu entschärfen.

Der aus dem 2. Weltkrieg hervorgegangene sozialistische Bundesstaat Jugoslawien erweiterte den Kreis der Staatsvölker von drei auf sechs, indem er Makedonien, Montenegro und Bosnien-Hercegovina zu eigenen Republiken machte und für letztere eine Hauptnationalität "ethnische Moslems" erfand. Der überwiegend von Albanern bewohnte Kosovo blieb Teil Serbiens. Politisch war das von vornherein nicht einsichtig, zumal es in Jugoslawien bald mehr Albaner als Slowenen, Makedonier oder Montenegriner gab. Die offizielle Begründung, die Kosovo-Albaner bräuchten keine eigene Teilrepublik, weil es bereits einen albanischen Staat gab, konnte auch nicht gerade als Muster an Stichhaltigkeit gelten. Tatsächlich manifestierte sich in der Verweigerung einer eigenen Teilrepublik von vornherein eine Ungleichberechtigung und eine slawische Exklusivität des Bundesstaates.

1968 kam es im Kosovo zu Massenprotesten, die in erster Linie im Kontext gleichzeitiger nationaler und "bürgerlich-liberaler" Mobilisierungen in vielen Teilen Jugoslawiens zu sehen sind. In der 1974 verabschiedeten neuen Verfassung Jugoslawiens erhielten der Kosovo und die Vojvodina den Status autonomer Provinzen innerhalb Serbiens. Im Frühjahr 1981 gab es eine erneute Protestwelle der Kosovo-Albaner, die nun die Erhebung ihres Gebiets zu einer eigenen, siebten Teilrepublik der jugoslawischen Föderation forderten. Diese Massenproteste wurde mit harter Gewaltanwendung und scharfer juristischer Repression niedergeschlagen. Hunderte von Albanern wurden in den 80er Jahren wegen rein politischer Delikte wie beispielsweise Teilnahme an einer Demonstration, Verteilen eines Flugblatts oder Zeigens einer albanischen Flagge zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.

Im Juli 1990 proklamierten die albanischen Abgeordneten des Provinzparlaments die Gründung einer Unabhängigen Republik Kosovo. Außer Albanien war bisher aber kein Staat der Welt bereit, diese anzuerkennen. Im Mai 1992 fanden illegal organisierte Wahlen statt, die eine klare Mehrheit für die größte albanische Partei, die "Demokratische Liga des Kosovo" (LDK), ergaben. LDK-Chef Ibrahim Rugova wurde mit mehr als 75% der Stimmen zum Präsidenten des Kosovo gewählt. Es ist in Deutschland von rechts bis links üblich, Rugova als einen "selbsternannten Präsidenten" zu bezeichnen. Das ist unsinnig, da seine Wahl 1992 wie auch seine Wiederwahl im März 1998 als durchaus repräsentativ gelten konnten.

Bewaffneter Kampf

Die UCK, die "Befreiungsarmee des Kosovo", trat erstmals im April 1996 in Erscheinung, ist also erst seit recht kurzer Zeit überhaupt aktiv. Sie hatte bis Ende 1997 rund 30 Anschläge und Überfälle auf einzelne Serben und auch auf Albaner, die sie als Kollaborateure bezeichnete, durchgeführt. Bis zum Frühjahr 1998 beschränkten sich ihre Aktivitäten erkennbar nur auf sporadischen Terrorismus. Die UCK war so wenig faßbar und militärisch so bedeutungslos, daß die LDK zunächst ihre Existenz in Frage stellte und sie sogar verdächtigte, ein Produkt und Werkzeug des jugoslawischen Geheimdienstes zu sein. In diese Richtung hat sich Rugova sogar noch Anfang dieses Jahres geäußert.

So war es einigermaßen erstaunlich, daß die UCK im Frühjahr/Sommer 1998 anscheinend in der Lage war, vorübergehend die Herrschaft in einem geschlossenen "befreiten Gebiet" im Zentralkosovo und in einzelnen Enklaven zu behaupten. Im Juni verkündete sie sogar, sie kontrolliere rund ein Drittel des Kosovo. Hatte man vor einigen Monaten die UCK auf höchstens 1.000 Kämpfer taxiert, sind nun Größenordnungen zwischen 10.000 und 30.000 im Gespräch.

Als normales Wachstum wird man das gewiß nicht ansehen können. Als Erklärung bietet sich an, daß in erster Linie zahlreiche Handfeuerwaffen (großenteils in den letzten Monaten aus Albanien eingeschmuggelt) in Privatbesitz vorhanden sind und daß die Bereitschaft zum spontanen bewaffneten Widerstand sowie zur allseitigen Unterstützung der Kämpfer durch die Bevölkerung ganz breit vorhanden ist. UCK ist dabei vermutlich oft nur ein Name, der diesem Widerstand übergestülpt wird. Die UCK hat selbstverständlich nichts dagegen, denn sie wird auf diese Weise stark aufgewertet. Und für die serbische Propaganda bekommt mit den drei Buchstaben der albanische "Terror" einen allgemeingültigen Namen. Die Repression insgesamt kann auf diese Weise als Abwehrkampf gegen die UCK legitimiert werden.

Außerdem schwächt die Auf- und Überbewertung der UCK diejenigen unter den albanischen Kräften, die immer noch stärker auf eine politische als auf eine militärische Lösung orientiert sind. Eine primär militärische Konfliktaustragung erleichtert der serbischen Regierung das Taktieren gegenüber den europäischen Staaten und den USA. Denn diesen ist weder die militärische Kampfform der UCK noch deren maximalistische programmatische Ausrichtung auf ein "Großalbanien" besonders sympathisch.

Die serbische Polizei hat, mit Armee-Unterstützung, zunächst im März/April und dann in einem zweiten Schub Ende Juni/Anfang August das gesamte Aufstandsgebiet überrollt, alle teilweise blockierten Straßen wieder geöffnet und die bewaffneten albanischen Kräfte aus den von ihnen "gehaltenen" Dörfern und Kleinstädten vertrieben.

Die Angaben, die beide Seiten über die Verluste dieser Kämpfe machen, liegen nicht allzu weit auseinander und deuten auf mehrere Tatsachen hin:

  • 1. Von einem Völkermord im Kosovo zu sprechen, wie es die Sprecher der Albaner tun, ist maßlos übertrieben. Zweifellos haben die Serben in Einzelfällen ganze Großfamilien ermordet, aber das mag umgekehrt auch vorgekommen sein und weist offenbar keine Systematik auf. Nach einem Bericht des albanischen Menschenrechtsausschusses in Pristina haben serbische Einheiten in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 469 Menschen im Kosovo getötet.
  • 2. Das militärische Kräfteverhältnis ist zur Zeit ganz eindeutig. Die UCK und die anderen bewaffneten albanischen Kräfte besitzen weder das Potential für lange Abwehrkämpfe noch für wirkliche militärische Angriffsoperationen. In vielen Fällen sind sie vermutlich nach kurzem Widerstand oder von vornherein ausgewichen. Das heißt aber auch, daß von einer entscheidenden Niederlage überhaupt nicht die Rede sein kann. Wenn die Albaner, die bisher offenbar nur über Handfeuerwaffen verfügen, auch stärkere Waffen bekämen - was letztlich wohl nur eine Frage der Zeit ist -, könnte der Aufstand im Kosovo für Serbien zu einem erheblichen Problem werden.

Die serbische Offensive hat eine Fluchtbewegung der albanischen Bevölkerung ausgelöst, die teilweise das Ergebnis bewußter Maßnahmen der serbischen Seite ist, wie etwa die Zerstörung ganzer Dörfer. Wieviele Menschen inzwischen wirklich ihre Heimat verlassen haben, weiß niemand. Schätzungen bewegen sich zwischen knapp unter 100.000 und 300.000, wobei diese Maximalzahl zumeist in tendenziöser Absicht vorgetragen wird, im Sinne des Genocid-Vorwurfs an die serbische Adresse. Wohl am häufigsten genannt wird die Zahl 200.000, was ungefähr einem Zehntel der albanischen Bevölkerung entspräche. Nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Flüchtlinge und Vertriebenen ist in die Nachbarländer Albanien, Montenegro und Makedonien ausgewichen; die Mehrheit befindet sich immer noch im Kosovo. Den Charakter einer "ethnischen Säuberung", vergleichbar dem serbischen Vorgehen in Bosnien-Hercegovina vor ein paar Jahren oder der Vertreibung der Serben aus der Krajina durch die Kroaten 1995, haben die Vorgänge im Kosovo bisher insgesamt nicht angenommen.

Säbelrasseln der NATO?

Die Politik der NATO und ihrer einzelnen Hauptmächte ist wieder einmal schwer zu entschlüsseln. Die gängige linksradikale Sicht, die immer davon ausgeht, die NATO würde eigentlich lieber heute als morgen in jeden beliebigen Konflikt militärisch eingreifen, geht auch im Fall des Kosovo weit an der Realität vorbei. Die NATO hat weder die Mittel noch ein echtes gemeinsames Interesse, in jedem Bürgerkrieg oder internationalen Konflikt eine Polizeirolle und damit auch die umfassende Verantwortung für die Durchführung und Durchsetzung eines Krisenmanagements zu übernehmen. Tatsächlich läßt sie sich auf solche Unternehmen sogar nur ganz ausnahmsweise ein. Allerdings beansprucht die NATO das hypothetische Recht, sich in jeden Konflikt einmischen und ihre Lösungsvorstellungen diktieren zu dürfen, einschließlich der Drohung mit militärischer Gewalt. Tatsächlich geht es dabei aber in der Regel weitaus mehr um das Prinzip an sich als um seine praktische Anwendung.

Im Fall des Kosovo produzierte die NATO die größte Aufgeregtheit im Frühjahr, während sie auf die umfassende serbische Offensive im Juli vergleichsweise erstaunlich gelassen reagierte. Zwischen Anfang März und Ende Mai war viel davon die Rede, daß Serbien die blutige Unterdrückung der albanischen Bevölkerung im Kosovo sofort beenden müsse. Anderenfalls drohte die NATO, vorweg die USA im Verein mit Deutschland, "schwerste Konsequenzen" an. Drohend war davon die Rede, daß "keine Option" für Militärschläge gegen Serbien "ausgeschlossen" sei. Den USA wurde die Absicht zugeschrieben, sie wollten "notfalls alleine schärfere Strafmaßnahmen gegen Belgrad verhängen". Tatsächlich handelte es sich dabei aber im wesentlichen um unbewiesene Gerüchte und um deutsches Wunschdenken und Zweckpropaganda. In Wirklichkeit kam der größte Lärm nachweislich wieder einmal von den deutschen Politikern, mit Hinweis darauf, daß Deutschland wegen der Gefahr einer neuen "Flüchtlingswelle" eigentlich der Hauptleidtragende einer Eskalation im Kosovo wäre. Das entspricht dem hierzulande vorherrschenden national-larmoyanten Denken, das noch bei der schlimmsten Katastrophe im entlegensten Teil der Erde die bange Frage stellt: "Was bedeutet das für uns?"

Auf der NATO-Frühjahrstagung Ende Mai wurde in sehr vager Form angedroht,man werde "notfalls" militärische Mittel einsetzen, um eine Verschärfung und Ausweitung des Kosovo-Konflikts zu verhindern. Konkret beschlossen wurden NATO-Manöver in Albanien im August und in Makedonien im September. Beiden Nachbarstaaten des Kosovo wurde Unterstützung versprochen, durch die sie besser in die Lage versetzt werden sollen, ihre eigenen Grenzen zu kontrollieren. Sinn macht dieser Beschluß in erster Linie unter dem Aspekt, den Waffenschmuggel in den Kosovo einzudämmen und damit die UCK zu schwächen.

Vor allem der deutsche Verteidigungsminister Rühe setzte gleichzeitig in der NATO durch, daß die Planungsstäbe beauftragt wurden, unterschiedliche militärische Optionen für eine Intervention in den Kosovo-Konflikt zu analysieren. Diese Planspiele sahen teilweise sehr martialisch aus, bis hin zum Einsatz von NATO-Bodentruppen, die überwiegend von Deutschland gestellt werden sollten, und massiven Luftangriffen gegen "Militärziele" in Serbien selbst. Tatsächlich kommt aber, wie Rühe im Juli selbst sagte, ein Einsatz von NATO-Landstreitkräften ausschließlich zur Absicherung einer fertig ausgehandelten und von beiden Konfliktseiten akzeptierten politischen Lösung in Frage.

Was diese angeht, haben alle NATO-Staaten klargemacht, daß sie keinesfalls die staatliche Unabhängigkeit des Kosovo unterstützen würden, sondern nur eine erweiterte Autonomie oder allenfalls einen Status als dritte Teilrepublik (neben Serbien und Montenegro) im Rahmen des neuen jugoslawischen Staates. Diese Position entspricht ihrem Inhalt nach der früheren Forderung der Kosovo-Albaner nach dem Status einer siebten Republik in der alten jugoslawischen Föderation. Inzwischen vertritt aber auch Rugova als Sprecher des "gemäßigten" Teils der Albaner die Forderung nach voller Unabhängigkeit. Die UCK und die meisten Parteien, die in Opposition zu Rugovas LDK stehen, wollen sogar einen vergrößerten Staat, der auch Teile Makedoniens und Montenegros mit mehrheitlich albanischer Bevölkerung einschließen soll. Da für solche Absichten innerhalb der NATO niemand zu haben ist, ist leicht zu verstehen, daß Westeuropa und die USA der serbischen Offensive gegen die UCK im Juli nicht nur schweigend zugesehen, sondern sie insgeheim vermutlich begrüßt haben. Sie befürworten zwar einerseits die Einbeziehung der UCK in Verhandlungen, sind aber andererseits für jede Schwächung der militärischen Komponente der Kosovo-Albaner dankbar, weil das die für eine Verhandlungslösung zur Verfügung stehenden Kräfte stärken könnte.

Aber wie könnte diese Lösung aussehen? Es scheint jenseits der Forderung nach staatlicher Unabhängigkeit keine relevante albanische Position mehr zu geben. Das aber ist mit den ohnehin beschränkten serbischen Verhandlungsoptionen auf gar keinen Fall kompatibel und findet, wie schon gesagt, auch innerhalb der NATO keine Unterstützung. Was überhaupt die Frage von Verhandlungen angeht, so ist Rugova dazu zwar im Prinzip bereit, aber nicht unter den jetzigen Umständen, wie er kürzlich erklärt hat. Die UCK und die radikaleren unter den albanischen Parteien scheinen überhaupt nicht verhandeln zu wollen. Milosevic würde zwar mit Rugova verhandeln - und hat das auch schon getan -, aber nicht mit der UCK.

Allenfalls könnte ein Verhandlungsprozeß damit enden, daß Rugova eine ähnliche Rolle übernimmt wie Arafat: indem er sich als Person zum Repräsentanten eines Kompromisses macht, für den er in der eigenen Bevölkerung nur eine schmale Mehrheit, und vielleicht noch nicht einmal das, besitzt. Dennoch wäre dies sicher die beste aller Möglichkeiten. Denn auf militärischer Ebene besitzen beide Seiten Potentiale, Reserven und Vorteile, die eine sehr blutige und lange Konfliktaustragung ermöglichen würden. Dann wäre auch eine stärkere Einbeziehung Albaniens in diesen Krieg nicht auszuschließen.

Knut Mellenthin

analyse & kritik, 27. August 1998