Funktionen für die Darstellung
Seitenpfad
Jugoslawien: Sechs Finger sind keine Faust
1990 haben in allen sechs Teilrepubliken Jugoslawiens mehr oder weniger freie Wahlen stattgefunden. Weniger frei besonders in Serbien, wo die albanische Minderheit von über 1,5 Millionen Menschen aller kollektiven Rechte beraubt ist und fast geschlossen den Wahlgang verweigerte. Die Wahlen ergaben in den nördlichen Republiken Slowenien und Kroatien, die am intensivsten Anschluß ans Europa der Monopole suchen, klare "bürgerliche" Mehrheiten. In Serbien und Montenegro wurde die Herrschaft der "realsozialistischen" Staatsparteien bestätigt. In Bosnien-Herzegowina und Makedonien ist eine parlamentarische Patt-Situation entstanden, die das Regieren schwer machen wird und vielleicht zu Neuwahlen führen könnte.
Die Wahlen in den sechs Republiken haben gezeigt, daß heute in Jugoslawien von einer einheitlichen Parteienlandschaft keine Rede sein kann. Jede Republik hat ihr eigenes Spektrum, und es gibt derzeit nur eine einzige Partei, die in allen sechs Gebieten organisatorisch vertreten und parlamentsfähig ist. Das ist der im Juli 1990 von Ministerpräsident Markovic ins Leben gerufene Bund der Reformkräfte. Seine Zielsetzung, außer dem Festhalten an der staatlichen Einheit Jugoslawiens, ist nebulös. Landesweit könnte der Reformbund auf etwa 10% der Stimmen kommen. Die traditionelle Staatspartei, der Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ), existiert seit dem Februar/März 1990 nicht mehr als einheitliche Organisation. Seine sechs Republik-Verbände haben sich selbständig gemacht und firmieren alle, mit Ausnahme Montenegros, unter neuen Namen, wie beispielsweise Partei der Demokratischen Erneuerung (Slowenien) oder Sozialistische Partei (Serbien).
Anstelle des praktisch aufgelösten alten BdKJ ist im November ein dubioses Gebilde namens Bund der Kommunisten - Bewegung für Jugoslawien getreten. Die Parteigründer gehören fast durchweg den höchsten Rängen der Militärführung Jugoslawiens an, einschließlich des Verteidigungsministers Kadijevic. Ergänzt wird dieser wenig vertrauenserweckende Kreis durch Politiker, die sich in der Vergangenheit durch ihren Hang zum "alten Denken" und zum engen Schulterschluß mit der serbischen Führung ausgezeichnet haben. Diese Phantom-Partei hat sich bei Wahlen bisher noch nicht präsentiert - sie hätte es theoretisch tun können in Serbien und Montenegro - und scheint eher ein prophylaktisches Alibi für einen eventuellen Staatsstreich darzustellen.
Betrachten wir die Wahlergebnisse im Einzelnen. Außer in Montenegro wurde in zwei Durchläufen gewählt. Beim ersten Gang galt als gewählt, wer in seinem Bezirk die absolute Mehrheit der Stimmen erreichte. Wo auf diese Weise das Mandat nicht vergeben werden konnte, gab es zwei Wochen später eine Stichwahl, bei der der Kandidat mit den meisten Stimmen den Sitz erhielt.
Dieses System führt zu stark verzerrten Verhältnissen, wie das Beispiel Serbiens zeigt: die regierende Sozialistische Partei bekam rund 45% der Stimmen, aber fast 80% der Parlamentssitze. (Zusätzlich zum Wahlsystem kam ihr noch der Boykott der Albaner im Kossovo zugute).
Slowenien. Gewählt wurde im April; wahlberechtigt waren nicht ganz 1,5 Millionen Menschen. Klarer Sieger war die Vereinigte Demokratische Opposition/DEMOS, ein Bündnis von sieben Parteien. Mit 55% der Stimmen gewann DEMOS 47 der 80 Sitze in der wichtigsten Kammer des slowenischen Parlaments. Die frühere KP, jetzt in Partei der Demokratischen Erneuerung (SKS-SDR) umbenannt, bekam 17% der Stimmen und 14 Mandate. Damit wurde sie stärkste Einzelpartei. Es folgten die Liberale Partei (14%; 12 Sitze), die Christdemokraten (13%; 11 Sitze), der Bauernbund (12,6%; 11 Sitze), die Grünen (8 Sitze) und die Sozialdemokratische Partei (5 Sitze).
Präsident Sloweniens wurde der KP- Chef Milan Kucan, der in der Stichwahl seinen sozialdemokratischen Konkurrenten mit 58,4% gegen 41,6% hinter sich ließ. Wie sich in diesem Achtungserfolg des populären "Reformsozialisten" schon andeutet, bewirkte der Regierungswechsel in Slowenien keinen totalen Bruch und keine Ausgrenzung der SKS- SDR. Im Gegenteil werden wesentliche Elemente der slowenischen Politik gemeinsam getragen. Slowenien hat den Vorteil, daß es in seinen Grenzen keine relevante Minderheit hat und so von den nationalen Streitereien, die im übrigen Jugoslawien eine äußerst destruktive Rolle spielen, verschont geblieben ist.
Kroatien, mit knapp 3,5 Millionen Wahlberechtigten, wählte Ende April und Anfang Mai. Überragende Siegerin wurde die Kroatische Demokratische Union (HDZ), die sich erst im Februar formal konstituiert hatte. Von 365 Parlamentssitzen gewann die HDZ 193, die ex-KP (jetzt SKH-SDP) 81 und die KNS, die sich als Partei der "nationalen Mitte" bezeichnete, 11 Sitze. Die HDZ hält also im Parlament die absolute Mehrheit, hat allerdings "nur" 41% der Stimmen bekommen. Die SKH-SDP ist mit ihrem Ergebnis von 25% sehr zufrieden. Ihr kamen viele Stimmen aus der serbischen Volksgruppe (etwa 12% der kroatischen Bevölkerung) zugute, während die einzige Partei, die explizit als serbisch kandidierte, die "bürgerliche" SDS, nur auf ein klägliches Resultat kam. Die KNS wurde von 14% gewählt.
Die HDZ wird von der katholischen Kirche und von rechtsextremen Exil- Kroaten unterstützt. Im Wahlkampf gab sie sich militant antikommunistisch und chauvinistisch. Neben dem Versprechen, "das kommunistische System zu stürzen" und die "großserbischen Imperialisten" in ihre Schranken zu weisen, wurden auch Erinnerungen an "die historischen Grenzen Kroatiens" laut, die jedenfalls irgendwo weit außerhalb der heutigen Linien liegen sollen. Vergleiche der HDZ mit der faschistischen Ustascha, die während des Weltkriegs einen Marionetten- Staat von Deutschlands Gnaden mit Mord und Terror "regierte", waren nicht nur in der serbischen Propaganda zu vernehmen. Dennoch kann bisher festgestellt werden, daß in Kroatien doch nicht ganz so heiß gegessen wird, wie es von der HDZ vor der Wahl gekocht wurde. Der Wahlsieg und die komplizierte Realität Kroatiens im Vielvölkerstaat Jugoslawien scheinen fürs erste eine gewisse Mäßigung der HDZ zur Folge gehabt zu haben.
In Makedonien konnten 1,3 Millionen Menschen im November wählen. Erstmals trat hier auch der im Juli gegründete Bund der Reformkräfte an. Es war vorausgesagt worden, daß der Reformbund, zusammen mit der ex-KP, die Wahl klar gewinnen würde. Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs schienen die Prognose zu bestätigen. Allerdings war das überhaupt nicht aussagekräftig, denn am 11.11. konnten nur 13 der 120 Sitze definitiv vergeben werden.
Am Ende lag die radikal-nationalistische VMRO mit 38 Sitzen vor der ex-KP (jetzt: Partei für demokratische Umgestaltung) mit 30 und dem Reformbund mit 18 Sitzen. 25 Mandate fielen an die Partei der Demokratischen Prosperität, die vor allem die albanische Minderheit (fast ein Viertel der Bevölkerung Makedoniens) vertritt. Die VMRO (Partei für die nationale Einheit) tritt für einen Zusammenschluß mit den mehr als 1 Million Makedonen in Bulgarien und Griechenland, eventuell im Rahmen einer "Balkanföderation", ein. Im Wahlkampf zeichnete sie sich durch besonders haßerfüllte Attacken gegen die ohnehin diskriminierte albanische Volksgruppe aus und forderte das Verbot der Prosperitäts-Partei.
In Makedonien scheint etwas anderes als eine Minderheitsregierung von ex-KP und Reformbund, oder aber Neuwahlen, nicht möglich. Eine solche Minderheitsregierung müßte sich entweder auf die VMRO oder auf die albanischen Abgeordneten stützen. Beides ist schwer vorzustellen, denn das Programm der VMRO wirkt allzu abenteuerlich, und die Albaner wurden bisher auch in Makedonien benachteiligt und schikaniert, wofür an erster Stelle die ex-KP verantwortlich ist.
In Bosnien-Herzegowina besteht ein seltsames Gleichgewicht zwischen den Nationalitäten. Hauptgruppe sind die Muslim, also im Grunde gar keine spezielle Nationalität, mit fast 40%. An zweiter Stelle stehen die Serben mit 32% und an dritter die Kroaten mit gut 18%. Gewählt wurde am 18. November und 2. Dezember, wahlberechtigt waren rund 3,2 Millionen Menschen.
Das Wahlergebnis entspricht ungefähr der Zusammensetzung der Republik. Mit 38% und 86 von 240 Parlamentsmandaten liegt die Muslim-Partei SDA vor. Die "bürgerliche" Demokratische Serbische Partei (SDS) kam auf 30% und 70 Sitze, die kroatische HDZ auf 16% und 45 Sitze. Abgeschlagen landeten die ex-KP (10%; 19 Sitze) und der Bund der Reformkräfte (12 Sitze).
Die nationalen Parteien SDA, SDS und HDZ hatten vor der Wahl angekündigt, sie wollten sich um einen Konsens bemühen und die Bildung einer Dreier-Koalition anstreben. Das wäre zwar in Jugoslawien absolut einmalig, läge aber in der Tradition der Republik, die mehr auf Vermittlung als auf Polarisierung zwischen den Volksgruppen aufbaute. Dennoch ist eine solche Koalition auf Dauer schwer zu verwirklichen und wird durch gegenseitiges Mißtrauen belastet, zumal die Nationalismen aus den Nachbar-Republiken Serbien und Kroatien natürlich nach Bosnien-Herzegowina hineinwirken.
Montenegro, die kleinste Republik Jugoslawiens (etwa 400.000 Wahlberechtigte), wählte am 9. Dezember. Von den zu vergebenden 125 Mandaten fielen 83 an die KP, die sich hier immer noch ganz aufrecht Bund der Kommunisten nennt. 17 Sitze gewann der Bund der Reformkräfte; 13 bekam die Demokratische Koalition, die die Muslim und Albaner Montenegros vertritt. 12 Mandate fielen an die Volkspartei, die für den Anschluß Montenegros an Serbien eintritt. Einem solchen Schritt ist allerdings auf längere Sicht vermutlich auch der Bund der Kommunisten Montenegros nicht abgeneigt, der sich bisher schon engstens an die Politik Serbiens anlehnte.
Präsident Montenegros wurde der BdK- Chef Momir Bulatovic, der bei der Stichwahl am 23. Dezember mit 186.000 gegen 54.000 Stimmen seinen Gegner aus dem Lager der "Reformer" weit hinter sich ließ.
In Serbien (größte Republik Jugoslawiens mit über 5,5 Millionen Wahlberechtigten) wurde am 9. und 23. Dezember gewählt. Vorausgegangen waren heftige Auseinandersetzungen zwischen der regierenden Sozialistischen Partei und der überwiegend rechtsbürgerlichen Opposition sowie der albanischen Volksgruppe. Bis 14 Tage vor der Wahl hatte die Parteien der Opposition wegen Behinderungen, Demokratie-Defiziten und mit Hinweis auf die Lage im Kossovo zum Boykott aufgerufen. Diese angeblich "unveränderliche" Position ließen sie dann aus taktischem Kalkül fallen, so daß nur noch die Albaner boykottierten. Das allerdings mit beeindruckender Geschlossenheit: von etwa 750.000 wahlberechtigten Albanern im Kossovo gaben nur 2.000 ihre Stimme ab! Unerwünschter Nebeneffekt war, daß die Mandate des Kossovo so an die sozialchauvinistische SP des Demagogen Milosevic fielen.
Mit 194 von 250 Parlamentssitzen ist die SP absoluter Sieger der Wahl, auch wenn sie "nur" 45% der Stimmen gewann. Die rechtsbürgerliche Konkurrenz tut es der SP an großserbischem Chauvinismus und Haß gegen die albanische Minderheit mindestens gleich. Unterscheidungsmerkmal ist lediglich ihr fanatischer Antikommunismus, der kaum mit eigenen programmatischen Vorstellungen verbunden scheint. Dies wurde von den Wählern nicht honoriert. Die stärkste Oppositionspartei, die Erneuerungsbewegung des Vuk Draskovic, gewann nur 19 Mandate, 7 Sitze fielen an die Demokratische Partei und 5 an Vertreter der ungarischen Minderheit in der Provinz Vojvodina.
Die gleichzeitige Präsidentenwahl gewann SP-Chef Milosevic ganz klar mit 65% gegen Draskovic (16,4%) und einen Kandidaten des Bundes der Reformkräfte (5,5%). In Kleinstädten und Dörfern stimmten gar zwischen 70 und 80% für den Nationaltribun.
Wie Regierungschef Markovic im Juli ankündigte, sollten noch im Jahre 1990 die ersten freien Wahlen zum jugoslawischen Bundesparlament stattfinden. Diese sind jedoch vorerst im übereinstimmenden Interesse aller sechs Teilrepubliken auf die lange Bank geschoben worden. Alle haben einer Mandatsverlängerung für das Bundesparlament zugestimmt.
Ob überhaupt noch einmal ein gesamtjugoslawisches Parlament gewählt werden wird? Und falls Ja, unter welchen Umständen? Es fehlt an Parteien von gesamtjugoslawischer Geltung, und das würde dazu beitragen, der von Montenegro unterstützten sozialchauvinistischen SP Serbiens von vornherein eine dominierende Rolle in der zersplitterten Parteienlandschaft eines künftigen Bundesparlaments zu sichern. Solange überdies die Albaner des Kossovo ihre Bürgerrechte nicht haben, also Milosevic deren Stimmen (und Mandate) en bloc "kassiert", wird es keine wirklich freie und repräsentative Wahl zu einem neuen Bundesparlament geben können, und darauf werden sich zumindest Slowenien und Kroatien wohl keinesfalls einlassen.
Das slowenische Parlament hat am 2. Juli fast einstimmig (drei Gegenstimmen, zwei Enthaltungen) eine "Deklaration über die Souveränität des Staates Slowenien" verabschiedet. Slowenien erhebt damit den Anspruch, seine Außen-, Verteidigungs-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Finanzpolitik selbst zu bestimmen. Diese Deklaration wurde am 23. Dezember durch eine Volksabstimmung in der Republik bekräftigt. Bei einer Beteiligung von ungefähr 85% stimmten mehr als 88% zu, daß Slowenien ein "selbständiger und unabhängiger Staat" sein soll.
Das bedeutet, beteuert die slowenische Regierung, noch nicht die Abspaltung der Republik vom Bundesstaat, sondern soll eine autonome Grundlage für Verhandlungen über eine Neuformierung Jugoslawiens als Föderation souveräner Republiken sein. Sie trägt damit der Tatsache Rechnung, daß sie wirtschaftlich auf die Verflechtung mit Jugoslawien angewiesen ist, und daß die westeuropäischen Mächte einem Ausscheren aus dem jugoslawischen Staatsverband bisher eher ablehnend als ermutigend gegenüberstehen.
Andererseits hält sich Slowenien aber die Option offen, relativ schnell und gut vorbereitet seine absolute Unabhängigkeit auszurufen, falls sich die Tendenz der serbischen Führung verschärft, den jugoslawischen Staat mit Gewalt zusammenzuhalten oder auf dem Wege der gewaltsamen Konfrontation ein Großserbien zu erzwingen.
Sloweniens Voraussetzungen für einen staatlichen Sonderweg sind vergleichsweise gut, da die Republik national homogen ist und mit dem Europa der Monopole, speziell Österreich und Italien, schon durch eine fundierte regionale Zusammenarbeit verbunden ist. Weit schwieriger hätte es Kroatien, das einen ähnlichen Sonderweg anstrebt: Es hat eine regional konzentrierte serbische Minderheit von 12%, die örtliche Mehrheiten bildet und bereits ihre Autonomie erklärt hat. Für Kroatien wie für das ganze übrige Jugoslawien, mit Ausnahme Sloweniens, gilt, daß der Staat keinesfalls in die bestehenden Teilrepubliken auseinanderfallen kann, da deren Grenzen nicht der nationalen Zusammensetzung des Landes entsprechen. Die Alternative wäre, solange die Verhältnisse in Serbien konstant bleiben, ein Zusammenhalten Jugoslawiens unter dem Damoklesschwert der Militärdiktatur und unter großserbischer Hegemonie. Ohne Bewegung in Serbien sind Konflikte, auch gewaltsamer Art, wohl unvermeidlich.
Knut Mellenthin
analyse & kritik, 14. Januar 1991