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Bürgerkrieg in Jugoslawien

Wie lange noch?

Kämpfe an der dalmatinischen Küste erinnerten Ende Januar daran, daß auch in Kroatien der jugoslawische Teilungskrieg nur vertagt, aber noch nicht durch einen einvernehmlichen Friedensschluß beendet ist.

Zur Erinnerung: Ende Juni 1991 erklärten Kroatien und Slowenien nach einem mehrjährigen Konflikt mit der serbisch dominierten Zentralregierung ihre staatliche Unabhängigkeit. Einheiten der jugoslawischen Bundesarmee wurden in Marsch gesetzt, um die "Separatisten" wieder unter Kontrolle zu bringen. Anscheinend hatte man in Belgrad geglaubt, einige militärisch nicht sehr schwerwiegende Droh-Aktionen würden ausreichen, um den beiden Republiken die Aussichtslosigkeit der militärischen Kräfteverhältnisse vor Augen zu führen und sie zum Einlenken zu veranlassen. In Slowenien mußte sich die Armeeführung aufgrund des Widerstands der einheimischen Miliz schnell vom Gegenteil überzeugen lassen. Nun ihrerseits vor die Frage gestellt, ob der politische Zweck wirklich die Risiken eines größeren militärischen Konflikts rechtfertigen würde, gaben Armee und Bundesregierung in Slowenien innerhalb von wenigen Tagen nach. Die Truppen wurden abgezogen und die Selbständigkeit der nördlichsten Republik als Faktum anerkannt, wenn auch nicht in juristischer und politischer Form.

Völlig anders verlief die Sache in Kroatien. Hier konnte sich die Bundesarmee von Anfang an mit der serbischen Minderheit der Republik verbünden, die sich in einigen Orten und Regionen schon seit Herbst/Winter 1990 im bewaffneten Widerstand gegen die Regierung in Zagreb befand. Vordergründig betrachtet ist der serbische Anteil in Kroatien mit etwa 15 Prozent nicht sehr hoch. Was ihren Kampf dennoch aussichtsreich und im Prinzip auch politisch legitim machte, ist der Umstand, daß die Serben in mehreren Bezirken und Regionen Kroatiens die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bilden. Teilweise mit massiver Unterstützung der Bundesarmee konnten sie sich im Sommer/Herbst 1991 die volle Kontrolle über praktisch sämtliche Gebiete der Republik sichern, auf die das zutrifft. Mehr noch: Serbische Milizen und Armeeeinheiten besetzten auch Landesteile, in denen vor dem Krieg die Kroaten überwogen hatten oder wo die Verhältnisse ungefähr ausgeglichen gewesen waren. Vielfach spielten dabei strategische Überlegungen, wie insbesondere die Kontrolle über wichtige Straßen und Eisenbahnlinien, eine Hauptrolle. Wesentliche Ziele bestanden zum einen darin, das kroatische Territorium möglichst in mehrere nicht mehr miteinander verbundene Teile aufzuspalten, sowie für den jugoslawischen Reststaat und insbesondere dessen serbische Komponente einen Zugang zur Adria zu gewinnen. Serbien selbst ist ein reiner Binnenstaat und sein einziger Zugang zur See ist die Bucht von Kotor, die zu Montenegro gehört. Das brachte außer Mitteldalmatien (zwischen Zadar und Split) auch die süddalmatinische Küste, insbesondere die Region von Dubrovnik, ins Visier der Armee und der Tschetniks. Ideologische Begründungen gab es dafür absolut nicht, da dieses Gebiet niemals zu Serbien gehörte und auch keine relevante serbische Minorität hat.

Was Dubrovnik angeht, scheiterte die serbische Strategie. Erfolgreich war sie aber immerhin darin, daß die Nord-Südverbindung im schmalen kroatischen Küstenstreifen, vor allem in der Höhe von Zadar, weitgehend unterbrochen wurde und die Serben an mehreren Stellen fast bis ans Meer gelangten. Hier wurde offensichtlich versucht, Kroatien maximal zu schwächen und militärisch in die Knie zu zwingen.

Blauhelme in Kroatien

Im Februar 1992 stimmten die Kriegsparteien nach monatelangen Verhandlungen der Stationierung von UNO-Friedenstruppen in den wichtigsten von Serben kontrollierten Gebieten Kroatiens zu. Der Abschluß dieser Operation, ursprünglich auf April 1992 terminiert, zog sich aufgrund technischer und finanzieller Probleme der UNO, sowie wegen neuerlicher Kämpfe, bis Anfang Juli hin. Noch in der letzten Juni-Woche hatte die kroatische Armee versucht, durch rasche Vorstöße gegen die Krajina (östlich von Zadar) ihre Positionen zu verbessern, und war dafür von UNO-Vertretern scharf kritisiert worden.

Insgesamt verfügt die UNO-Friedenstruppe in Kroatien - UNPROFOR genannt - über etwa 15.000 Soldaten, die auf vier nicht direkt miteinander verbundene Zonen verteilt sind. Es sind dies, als größte und wichtigste, die Krajina (mit der Hauptstadt Knin), Westslawonien (nördlich von Banja Luka) und Ostslawonien/Baranja (die an Serbien grenzende Gegend um Vukovar) sowie die Banija (südlich von Zagreb).

Der UNO-Friedensplan für Kroatien sah vor, in den vier Zonen die "bestehenden" lokalen Behörden, tatsächlich also die serbischen, im Amt zu lassen. Die Milizen sollten ihre schweren Waffen abliefern. Zur "Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung" sollte eine neue Polizeitruppe aufgestellt werden, und zwar entsprechend den ethnischen Strukturen im jeweiligen Gebiet. Diese Polizei sollte unter UNO-Kontrolle stehen. Der vertriebenen oder geflüchteten kroatischen Bevölkerung sollte eine gesicherte Rückkehr gestattet werden. Einer künftigen einvernehmlichen Friedensregelung sollte mit dieser - wie es ausdrücklich hieß - "Zwischenlösung" nicht vorgegriffen werden. Auch sollten damit die durch militärische Gewalt geschaffenen Verhältnisse nicht legitimiert werden.

Faktisch sah es aber selbstverständlich doch so aus, daß mit der UNPROFOR-Stationierung die zu diesem Zeitpunkt insgesamt für die Serben günstige Kriegslage erst einmal konserviert wurde und jene ihre Machtpositionen festigen konnten. Die auf dem Papier vereinbarte gemischte neue Polizei wurde nicht aufgestellt; eine Rückkehr der Flüchtlinge wurde zumeist verhindert, gelegentlich sogar mit Unterstützung des UNPROFOR-Kommandos. Kroatische Vorwürfe lauteten sogar, die Vertreibung gehe teilweise unter den Augen der UNO-Truppen noch weiter.

Der Stand der Dinge würde bedeuten, daß die vier Zonen für Kroatien definitiv verloren sind, und das um so mehr, je länger die jetzige "Zwischenlösung" dauert. In einigen Fällen ist dieser Verlust hauptsächlich in den Kategorien des "nationalen Stolzes" zu bemessen und sollte insofern bei rationaler politischer Betrachtung verkraftbar sein. In anderen Fällen werfen die Verhältnisse jedoch auch schwerwiegende materielle Probleme auf. Dazu gehört bzw. gehörte beispielsweise die serbische Kontrolle über Teile der wichtigen Nord-Süd-Straße in Dalmatien und über den Peruca-Staudamm, von wo aus weite Teile Dalmatiens mit Strom versorgt wurden. Dazu gehören ferner vermutlich auch die nicht sehr ausgedehnten, aber strategisch günstigen serbischen Positionen in Westslawonien, die die Ost-West-Verbindung zwischen den nördlichen Landesteilen Kroatiens gefährden könnten. Im übrigen bilden die Serben in dieser Region nicht so "flächendeckend" und überwiegend wie in der Krajina die Bevölkerungsmehrheit.

Das Dilemma der UNO-Politik

Die kroatische Führung ist mit dem Faktum konfrontiert, daß sie auf dem Verhandlungsweg keine grundsätzliche Veränderung der 1991 entstandenen Situation mehr erreichen kann und selbst geringfügige Fortschritte mit rein diplomatischen Mitteln zweifelhaft sind. Dies auch deshalb, weil die UNO, entgegen ihren eigenen stolz verkündeten Grundsätzen, durchaus dazu tendiert, mit militärischer Gewalt geschaffene Tatsachen als gegeben hinzunehmen - wenn nicht sofort und explizit, dann eben etwas später und stillschweigend.

Dieses Verhalten der UNO ist, zumindest immanent betrachtet, auch völlig logisch. Der Versuch beispielsweise, in den Stationierungszonen von UNPROFOR irgendetwas gegen die serbische Macht durchzusetzen, würde die Blauhelm-Truppen in militärische Konfliktsituation bringen können, für die sie erstens nicht stark genug sind und die zweitens vom UNO-Sicherheitsrat und von den Großmächten überhaupt nicht gewollt werden. Angesichts des Risikos kriegerischer Eskalationen wird der Sicherheitsrat normalerweise dazu tendieren, dem Erhalt des momentanen Status quo - ganz egal, wie er einmal zustande gekommen ist - absolute Priorität einzuräumen. Alles, was "Unruhe stiften" könnte, beispielsweise die Rückkehr von Flüchtlingen mit den daraus resultierenden Konfrontationen und Problemen, wird erst einmal vertagt. Ergebnis ist im Normalfall, daß die bestehenden Zustände sich noch weiter verfestigen und eine Veränderung später nicht etwa leichter, sondern eher noch schwerer zu erreichen ist.

Aus dieser Sicht der Dinge heraus neigen Sicherheitsrat und Großmächte im allgemeinen dazu, sich beim Ausbruch neuer Konflikte und Kämpfe erst einmal gegen die Seite auszusprechen, die den Status quo in Frage stellt - unabhängig von der Frage, wie berechtigt ihre Ansprüche nun eigentlich sind und ob die von der UNO fixierte Situation für sie überhaupt zumutbar ist. Das ist, nebenbei gesagt, auch das Hauptproblem in Bosnien-Hercegovina, wo das von den Großmächten favorisierte "Einfrieren" der jetzigen Verhältnisse eindeutig zu Lasten der Muslimbevölkerung gehen würde, die das Hauptopfer in diesem Krieg ist.

Diese Politik des UNO-Sicherheitsrats und der Großmächte ist, wie gesagt, immanent logisch - und sie ist vielleicht sogar vernünftig oder zumindest das geringere Übel. In Fällen, wo total entgegen diesen üblichen Grundsätzen interveniert wurde, wie gegen den Irak in seinem Konflikt mit Kuwait, war der Schaden zumindest nicht geringer und das Gesamtergebnis nicht besser. Jedoch sollte man auf der anderen Seite nicht übersehen, daß eine Politik, wie sie die UNO in Jugoslawien praktiziert, weltweit die Überzeugung stärken muß, daß Staaten oder Volksgruppen in erster Linie auf militärische Selbsthilfe angewiesen sind, wenn sie nicht ihren stärkeren Nachbarn zum Opfer fallen wollen. Ein Beitrag zur Festigung von weltweiten Verhältnissen, in denen Krieg kein Mittel der Politik mehr sein dürfte, ist das auch nicht gerade.

Hoffnung auf Revanche

Die kroatische Führung hat offensichtlich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, wenigstens Teile des Territoriums der Republik militärisch zurückerobern zu können. Es gibt zahlreiche Äußerungen von Präsident Tudjman, in denen eindeutig damit gedroht wird, Kroatien werde sich niemals mit dem Verlust seiner Gebiete abfinden und würde die Situation selbst mit kriegerischen Mitteln zu seinen Gunsten verändern, falls es seine Ziele nicht mit Hilfe der UNO durchsetzen kann.

Wie oben dargestellt, spielen dabei neben reinem nationalistischen Wahn auch materielle Interessen eine Rolle. Einige davon können sogar als legitim bezeichnet werden, so jedenfalls die vollständige Wiedergewinnung und Rekonstruktion der dalmatinischen Nord-Süd-Verbindung.

Zweifellos ist die seit Frühjahr/Sommer 1992 von der UNO "eingefrorene" Situation in den ehemaligen kroatischen Kriegsgebieten das Resultat der damaligen militärischen Schwäche Zagrebs, die heute möglicherweise nicht mehr in dieser Form besteht - beispielsweise wegen der seither erfolgten massiven Waffenimporte und der Bildung einer regulären kroatischen Armee.

Hinzukommen dürfte, daß eine neuerliche Intervention der Belgrader Armee sehr viel problematischer wäre als 1991. Damals war sie in Kroatien stationiert und hatte noch die höheren Weihen der legitimen Streitkräfte des Bundesstaates. Ihre Beteiligung an den Kämpfen wurde von den Großmächten insgesamt doch eher als natürlich toleriert und nur in Extremfällen kritisiert. Heute hingegen müßte die Armee des Ende April 1992 neugegründeten, stark verkleinerten Jugoslawiens - nur noch aus Serbien und Montenegro bestehend - erst einmal nach Kroatien einmarschieren. Die Kriegsflotte, die bei den Kämpfen um die Küstenstädte 1991 sehr stark beteiligt war, könnte heute angesichts des NATO-Aufmarsches in der Adria diese Rolle höchstwahrscheinlich nicht noch einmal spielen. Ähnliches gilt für die jugoslawische Luftwaffe.

Klar ist andererseits, daß jede militärische Aktion das Risiko einer Eskalation und der Gegenoffensive beinhaltet. Außerdem müßte Kroatien, wenn es sich militärisch "sein Recht" zu holen versucht, mit der Verurteilung durch den UNO-Sicherheitsrat und sogar mit Sanktionen rechnen. Der Vorgang, daß ein Staat auf seinem eigenen Territorium als "Aggressor" international kritisiert wird, dürfte zwar (abgesehen vom Sonderfall Irak) historisch ein absolutes Novum sein , wäre aber genau die zu erwartende Reaktion.

Diese Gesamtheit von Voraussetzungen könnte die kroatische Führung zu der rationalen Entscheidung veranlassen, von den großen serbischen Regionen wie der Krajina die Finger zu lassen und sich auf kleinere "Korrekturen" zu beschränken, die auch für die serbische Seite - das heißt für Belgrad, nicht unbedingt auch für die Serben in Kroatien - hinnehmbar sind. Dabei wird jedoch nie das Risiko ganz auszuschließen sein, daß irgendein als begrenzt gemeinter Vorstoß doch wieder zur Eröffnung des Krieges an sämtlichen kroatischen Fronten führt.

Wichtige Vorentscheidungen darüber werden wohl schon in den allernächsten Wochen fallen. Die UNPROFOR-Stationierung wurde nämlich auf "einen Anfangszeitraum" von zwölf Monaten befristet und müßte danach vom UNO-Sicherheitsrat ausdrücklich verlängert werden. Da die Sitzung, auf der das beschlossen wurde, am 21. Februar 1992 stattfand, wäre das nun formal betrachtet der Stichtag. Die kroatische Regierung hat verschiedentlich erklärt, daß sie einer Verlängerung des Mandats nur zustimmen wird, wenn die UNO-Truppen wirklich den damals vereinbarten Friedensplan durchsetzen, also beispielsweise die Rückkehr der Flüchtlinge gewährleisten. Diese Bedingung ist, zumal im Rahmen der jetzt noch verbleibenden Zeit, selbstverständlich äußerst unrealistisch.

Dennoch sind jetzt noch fast alle Optionen offen: Kroatien könnte sich, genau wie vor einem Jahr, mit UNO-Erklärungen zufrieden geben, die je nach Standpunkt so oder so zu interpretieren sind und denen weiterhin keine Taten folgen. Die Kriegsparteien und die Sicherheitsratsmitglieder könnten über die Erneuerung des UNPROFOR-Auftrags wieder eine monatelange Verhandlungsrunde beginnen - und solange natürlich die UNO-Truppen dort belassen, wo sie sind. Diese Wendung der Dinge wäre sogar nach bisheriger Erfahrung die wahrscheinlichste.

Falls jedoch Kroatien - wie öffentlich angekündigt - demnächst den Abzug der Blauhelme fordern würde, wäre es voraussichtlich heftigsten Kritiken sämtlicher Großmächte, einschließlich der BRD, ausgesetzt. Aber selbst wenn es das in Kauf nehmen und sich damit durchsetzen würde, müßte das nicht automatisch eine Wiederaufnahme des Krieges in Kroatien "an allen Fronten" zur Folge haben. Die Gefahr einer solchen Entwicklung würde dann allerdings erheblich zunehmen.

"Friedensplan" für Bosnien-Hercegovina

Nach Auskunft der UNO-Vermittler Vance und Owen ist man in Bosnien-Hercegovina nach mehrmonatigen Verhandlungen in Genf - seit Ende September 1992 - einer Friedenslösung für diese Republik schon "sehr nahe". Jedenfalls seien Kroaten und Serben dort "verständigungsbereit" und lägen in ihren Vorstellungen nicht mehr sehr weit auseinander. "Wir haben jedoch ein Problem. Wir können die Muslime nicht an Bord bekommen. Das ist weitgehend die Schuld der Amerikaner. Denn die Muslime wollen nicht nachgeben, solange sie denken, daß Washington ihnen jeden Tag zu Hilfe kommen könnte." (Owen, laut FAZ vom 4.2.93)

Tatsache ist jedoch, daß nicht nur die Muslime, sondern auch die Serben dem von Vance und Owen vertretenen "Friedensplan" nicht zugestimmt haben. Als einziger hat bisher Mate Boban für die Kroaten der Republik den Vorschlag in allen seinen Teilen und ohne Vorbehalte unterschrieben. Und das zweifellos nicht deshalb, weil er Weltrekordhalter in Friedensliebe ist, sondern weil tatsächlich nur die kroatische Seite mit dem "Paket" rundum zufrieden sein kann. Ja, sie würde tatsächlich mehr erhalten als sie jemals gefordert hat. Nämlich fast ein Viertel des Territoriums der Republik bei einem Bevölkerungsanteil von etwa 17 Prozent.

Der ganz und gar nicht neue "Friedensplan" der UNO unterscheidet sich in kaum einem wesentlichen Punkt von dem Projekt, über das schon vor einem Jahr unter EG-Vermittlung verhandelt wurde. Damals wurde es als "Kantonalisierung" bezeichnet. (vgl. AK 342, S. 10-11) Im März 1992 war der EG sogar der vollständig wertlose Schein-Erfolg gelungen, die drei Seiten in Bosnien-Hercegovina zur Unterschrift unter das Abkommen zu veranlassen. Dieses Ergebnis war dem gewitzten Kunstgriff der Vermittler zu verdanken, aus dem Plan sämtliche noch umstrittenen Punkte "auszuklammern" und sie zur weiteren Beratung an gemischte Ausschüsse zu verweisen. Wie es nach diesem Geniestreich der Diplomatie weiterging, war der Kriegsberichterstattung zu entnehmen. Die Serben zogen ihre Unterschrift innerhalb weniger Tage zurück und gingen zum Angriff auf die muslimischen Städte Ostbosniens über.

Was an dem UNO-"Friedensplan" von Owen und Vance wirklich neu ist gegenüber dem Projekt vom Vorjahr, war bisher nicht zu verdeutlichen. Ein geringer Unterschied besteht darin, daß die damalige Landkarte der EG-Vermittler zur präzisen Aufteilung Bosnien-Hercegovinas nur als Gerücht gehandelt wurde, während die von Vance und Owen in sämtlichen Tageszeitungen nachgedruckt werden konnte.

Ein anderer Unterschied, und zwar in der Tat ein sehr erheblicher, besteht in der radikalen Veränderung der Fakten zugunsten der Serben und teilweise auch der Kroaten - Veränderungen, die mit nichts weiter als militärischer Macht und Gewalt herbeigeführt worden sind. Den Serben rund 60 Prozent der Republik zuzuteilen, bei einem Bevölkerungsanteil von etwa 31 Prozent) mußte im März 1992 als absurde Zumutung erscheinen. Die serbische Offensive, die innerhalb einiger Monate fast alles Gewünschte unter Kontrolle brachte, begann erst Anfang April. Im März 1992 mußte der serbische Anspruch auf die ostbosnischen Bezirke, in denen Muslime bei weitem die Mehrheit bildeten, als ungerechtfertigt und vermessen erscheinen. Heute leben dort Muslime nur noch in sehr geringer Zahl, die "ethnische Vertreibung" war dort besonders intensiv und höchst erfolgreich. Fakten wurden geschaffen, und von den Muslimen erwarten nun die UNO-Friedensvermittler, daß sie diese gefälligst anerkennen. Widrigenfalls kündigt man jetzt bereits an, sie als nicht friedenswillige Störer auf die internationale Anklagebank zu setzen. Schon drohten Vance und Owen explizit mit Strafmaßnahmen gegen die Muslime, die vom UNO-Sicherheitsrat beschlossen werden sollten. Ein historisch wahrscheinlich einmaliger Vorgang, aber für das Friedensverständnis der UNO, siehe oben, durchaus nicht untypisch.

Das Grundproblem des UNO-"Friedensplans" ist das gleiche wie das des EG-Projekts vom Frühjahr 1992: Einerseits muß den Muslimen zugesichert werden, daß die staatliche Einheit von Bosnien-Hercegovina erhalten bleibt, denn nur in diesem Rahmen haben sie überhaupt eine gewisse Chance, als Nation zu überleben und nicht einfach im Verteilungskampf zwischen Serben und Kroaten aufgerieben zu werden. Schon vor dem Krieg war es nämlich so, daß die Muslime zwar die mit Abstand größte Volksgruppe der Republik waren (rund 44 Prozent), aber die Gebiete, in denen sie tatsächlich Mehrheit sind, kein geschlossenes Territorium bilden. Das gilt heute, als Resultat des Krieges, selbstverständlich noch mehr. Größere Gebiete, die vor einem Jahr noch muslimisch dominiert waren, sind inzwischen militärisch und demographisch verlorengegangen.

Auf der anderen Seite muß jeder Plan zur Neugliederung von Bosnien-Hercegovina den Serben und Kroaten zusichern, daß sie weitestgehende Selbständigkeit haben werden. Mehr noch, sie beanspruchen de facto volle Handlungsfreiheit, um ihre Territorien aus dem Republikverband herauszulösen und sie irgendwann dem "Mutterland" anzugliedern. Jeder Verfassungsentwurf muß also wenigstens so beliebig interpretierbar sein, daß er diese Option nicht eindeutig ausschließt.

Auch in diesem Punkt sind, verglichen mit der Situation vor einem Jahr, Fakten geschaffen worden, die kaum mehr rückgängig gemacht werden können. Die Serben proklamierten schon Anfang April 1992 ihren eigenen Staat in Bosnien-Hercegovina mit Banja Luka als Hauptstadt. Sie bekundeten gleichzeitig ihren Willen, sich Rest-Jugoslawien anzuschließen, was jedoch von Belgrad wohl eher aus Gründen der außenpolitischen Opportunität vorläufig abgelehnt wird.

Die Kroaten zogen am 3. Juli 1992 mit der Gründung eines eigenen Staatsverband und der Bildung einer "Übergangsregierung für das befreite Gebiet" (in erster Linie die westliche Hercegovina) mit Mostar als Hauptstadt nach. Zwar versichern die kroatischen Politiker, daß dies nicht im Widerspruch zur Integrität und Souveränität der Republik von Bosnien-Hercegovina stehe. Das ist aber so wahr und so wertvoll wie ihre Behauptung, das Kommando der kroatischen Streitkräfte in Bosnien-Hercegovina (HVO) unterstehe dem Befehl des Präsidenten der Republik in Sarajevo. Tatsächlich agieren die kroatischen Politiker und Militärs, gerade so wie die serbischen, praktisch völlig autonom. Einen Unterschied macht lediglich, daß sie letztlich doch auf die Muslime als Bündnispartner angewiesen sind, wenn sie nicht allein den Krieg gegen die Serben weiterführen wollen. Daraus ergeben sich strategische Rücksichtnahmen, die aber den Regionalpolitikern und den Militärbefehlshabern vor Ort nicht immer verbindlich zu vermitteln sind. Das um so mehr, da Kroatien selbst mit Tudjman ein Staatsoberhaupt hat, der seinen antimuslimischen Ressentiments gern freien Lauf läßt und der es zur Verzweiflung seiner Ratgeber in der BRD nicht lassen kann, gelegentlich doch wieder auf seine Lieblingsidee einer Aufteilung von Bosnien-Hercegovina unter Kroaten und Serben zurückzukommen.

Vor diesem Hintergrund könnte man selbstverständlich einen Verfassungsentwurf für eine zwar bundesstaatlich gegliederte, aber einheitliche Republik Bosnien-Hercegovina unterschreiben, aber realpolitischen Bestand könnte das schwerlich gewinnen. Daher wohl auch die Leichtigkeit, mit der Mate Boban für die kroatische Seite seine Zustimmung gab und sich damit als Musterschüler von Vance und Owen plazieren konnte.

Zum UNO-"Friedensplan" gehört eine Landkarte, die die Aufteilung von Bosnien-Hercegovina in zehn "Provinzen" mit sehr weitgehender Autonomie vorsieht. Eine davon wäre die Hauptstadt Sarajevo und angrenzende Gebiete, die von allen drei Volksgruppen gemeinsam verwaltet werden soll. Drei Provinzen stünden unter serbischer Dominanz, drei unter muslimischer, zwei unter kroatischer Vorherrschaft. In der verbleibenden zehnten "Provinz" müßten sich Kroaten und Muslime in die Macht teilen. Es ist dies die Region um Städte wie Travnik, Gornij Vakuf und Konjic, wo es in den letzten Wochen heftige militärische Kämpfe zwischen den beiden Gruppen gab, weil die Kroaten sich schnell noch vor einem eventuellen Vertragsabschluß die Vorherrschaft dort sichern wollen.

Es ist daran zu erinnern, daß vor Kriegsbeginn von den 105 Bezirken der Republik Bosnien-Hercegovina 39 eine muslimische, 32 eine serbische und 14 eine kroatische Mehrheit hatten; die restlichen 20 waren nicht eindeutig zuzuordnen. Daran gemessen ist der Vorteil der neuen Karte für die kroatische Seite offensichtlich.

Problematischer muß die Sache aus serbischer Sicht aussehen. Erhebliche Gebietsteile, die sie heute militärisch kontrollieren, sollen Provinzen zugeschlagen werden, die auf der Karte als muslimisch oder kroatisch dominiert eingetragen sind. So etwa das nördliche Ostbosnien, das von den serbischen Milizen im April 1992 überrannt worden war, oder die traditionsreiche Stadt Jajce (gewißermaßen Gründungsort des sozialistischen Jugoslawien), deren Eroberung im Herbst 1992 gelungen war. Zumindest auf der Karte würde sich der serbische Anteil am Territorium von Bosnien-Hercegovina, der heute de facto rund 70 Prozent ausmacht, dann auf etwa 50 Prozent reduzieren.

Das größte Problem von allen aber wirft für die serbische Seite der Umstand auf, daß die Region um Bosanski Brod, Derventa, Bosanski Samac und Gradacac auf der Karte als kroatische Provinz vorgesehen ist. Diese Gegend bildet den vielzitierten und heißumkämpften "Korridor" zwischen Serbien und den serbischen Gebieten in Ostbosnien einerseits und der Bosnischen Krajina um Banja Luka im Westen andererseits. Heute beherrschen serbische Streitkräfte diesen "Korridor" weitgehend; jedoch sind kroatische und muslimische Kräfte immer wieder in der Lage, die Nachschubwege anzugreifen und zu unterbrechen. Die Zukunft dieses Gebiets scheint für die bosnischen Serben das Hauptargument gewesen zu sein, den "Friedensplan" von Vance und Owen trotz vorhergehender "prinzipieller" Zustimmung im konkreten dann doch nicht zu unterschreiben.

Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als wäre die vorgelegte Landkarte für die Muslime beim realen Stand der Dinge gar nicht so ungünstig. Erstens würde sie die Annahme des "Friedensplans" aus einer militärisch aussichtslosen Situation erlösen und immerhin noch Reste von Staatlichkeit erhalten. Zweitens erscheinen nun auf der Karte auch wieder einige Städte und Gebiete als muslimisch dominiert, die durch das Kriegsgeschehen, einschließlich der "ethnischen Säuberungen", bereits verlorengegangen sind oder die auf Dauer kaum zu halten wären, wie etwa die isolierten Bezirke im Nordwesten um Bihac.

Zwei Einwände sind gegen diese Sicht der Dinge zu machen. Erstens ist tatsächlich zu befürchten, daß auch mit dem "Friedensplan" der einheitliche Staat Bosnien-Hercegovina nicht mehr zu retten bzw. von den Toten aufzuwecken wäre. In der Praxis würde die Aufteilung zwischen Serbien/Jugoslawien und Kroatien folgen, und der dann theoretisch noch verbleibende muslimische "Mini-Staat" wäre nicht lebensfähig, zumal er territorial zersplittert wäre. Aber aus diesem Dilemma kann selbstverständlich überhaupt nichts mehr helfen, weder Fortsetzung des Krieges noch Abschluß eines Friedensvertrags, sondern im äußersten Fall nur ein Wunder.

Der zweite Einwand ist wohl gewichtiger: Selbstverständlich kann man ganz leicht irgendwelche Landstriche mit dem Buntstift als "muslimisch" anmalen und sich dann darüber freuen, was plötzlich doch alles wieder dazugehört. Aber welchen praktischen Wert hat es beispielsweise, wenn den Muslimen auf der Karte Teile Ostbosniens offeriert werden, in denen längst die Tschetniks das Kommando führen und Muslime nur noch als eingeschüchterter Rest existieren, nachdem Hunderttausende das Opfer von systematischer Vertreibung wurden? Kann der totale Umsturz der Bevölkerungsverhältnisse, der mit den Mitteln von Krieg und Terror erzwungen wurde, nun auf dem Verhandlungsweg rückgängig gemacht und der vorherige Zustand wieder hergestellt werden? Würde man den Muslimen denn überhaupt die Rückkehr ermöglichen? Und würde die UNO dafür auch nur die geringsten Anstrengungen unternehmen? Oder würde sie nicht im Gegenteil - wie in den kroatischen Stationierungszonen praktiziert - den Versuch der Rückkehr als lästige und gefährliche Störung des Status quo zurückweisen und die Vertriebenen "auf später" vertrösten? Könnte also der UNO-"Friedensplan" für Bosnien-Hercegovina tatsächlich etwas völlig anderes bedeuten als in Kroatien, wo er zur Stabilisierung der serbischen Kriegserfolge gedient hat? Dies auch nur zu hoffen, hieße wohl, sich total zum Narren machen zu lassen.

Von allen Beteiligten hatten die Muslime am wenigsten die Auflösung Jugoslawiens und die Entfachung eines Verteilungskrieges gewollt. Sie waren die "besten Jugoslawen" - nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil tatsächlich ihre Existenz als Nation eigentlich nur im Rahmen der jugoslawischen Föderation zu gewährleisten war. Die Muslime sind nicht "trotzdem", sondern gerade deswegen zu Hauptopfern dieses Krieges geworden, weil sie ihn am wenigstens gewollt haben und folglich auch am schlechtesten materiell und geistig darauf eingestellt waren. Offensichtlich ist es aber schwierig, sie heute auch noch dazu zu bringen, die entstandene Lage definitiv zu akzeptieren und sich mit der Umumkehrbarkeit der Verhältnisse abzufinden,wie es ihnen der UNO-"Friedensplan" praktisch abverlangen wird. Insofern haben serbische und kroatische Politiker vordergründig recht, wenn sie behaupten, ein Friedensschluß werde in erster Linie durch die Politiker der Muslime "torpediert", worin sich Tudjman ausnahmsweise sogar einmal mit den Vorgestrigen vom "Neuen Deutschland" einig sehen könnte.

Vance und Owen haben die moralisch und rechtlich absurd erscheinendende Möglichkeit, daß die jugoslawischen Muslime durch UNO-Sanktionen zur Annahme ihrer militärischen Niederlage gezwungen werden, in den Bereich der Realität gebracht. Schon im Januar kündigten sie ultimativ an, sie würden gegen diejenigen, die den "Friedensplan" nicht schleunigst unterschreiben, Strafmaßnahmen beim UNO-Sicherheitsrat beantragen. Aus dem weiteren Verlauf geht hervor, daß sie damit in erster Linie die Muslime als angeblich Hauptschuldige meinen, obwohl ja auch die Serben den Vorschlägen noch nicht zugestimmt haben.

Derzeit sieht es so aus, daß offenbar sämtliche Großmächte, mit der einzigen Ausnahme der USA, aber unter Einschluß der BRD, die Politik von Vance und Owen unterstützen und die Muslime zum "Einlenken" nötigen wollen. Lediglich die neue US-Regierung hat Einspruch eingelegt, im wesentlichen mit dem Argument, der "Friedensplan" sei mit ihr nicht abgesprochen und werde von ihr in der vorliegenden Form auch nicht gutgeheissen, da er die Muslime benachteilige. Indessen scheint das eher der allgemeinen Vorsicht der Clinton-Leute geschuldet, in der Außenpolitik nicht gleich irgendwelche Fehler zu begehen und sich nicht in unüberschaubare Entwicklungen hineinziehen zu lassen, als daß es Ausdruck einer eigenen Konzeption wäre. Angesichts der auf Kosten der Muslime endlich zustande gekommenen Einheitsfront zwischen den europäischen Regierungen, von denen die einen bisher mehr Serbien und die anderen mehr Kroatien favorisierten, wird die US-Regierung ihre spezielle Haltung schwerlich aufrechterhalten. Das vorletzte Kapitel der Reconquista, der kriegerischen und gewalttätigen Vertreibung des Islam von europäischem Boden, ist schon fast abgeschlossen. Welche Regierung der westlichen Welt könnte da abseits bleiben?

Knut Mellenthin

analyse & kritik, 10.02.1993