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Aus historischen Gründen

"Aus historischen Gründen" kommt für Deutschland ein militärischer Einsatz "auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien" nicht in Frage. Soweit reicht gerade noch der herrschende Konsens, an den sich einige Politiker wie Würzbach (CDU), Dregger (CDU), Gerster (CDU), von Bülow (SPD) auch schon nicht mehr halten mögen. Keine historischen Gründe scheinen mehr im Wege zu stehen, wenn Außenminister Kinkel den serbischen Führern mitteilt, "daß sie für ihre verbrecherische Politik zur Rechenschaft gezogen werden" - und zu diesem und anderen Zwecken die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofs fordert. Ja, wer hätte sich denn das 1946 in Nürnberg träumen lassen?

Ein Strafgericht über die Serben verlangt auch die SPD-Bundestagsfraktion. Daß dies höchstens nach einer militärischen Niederlage Belgrads möglich wäre, und daß Forderungen wie diese einen Verhandlungsfrieden absolut unmöglich machen würden, scheint man in der SPD-Spitze nicht für bedenkenswert zu halten.

Offensichtlich verbieten die historischen Gründe auch keineswegs, daß ausgerechnet in Deutschland lauter und massiver zum bewaffneten Eingreifen in Jugoslawien gerufen wird als in irgendeinem anderen Land der Welt. Möglicherweise mit Ausnahme der Türkei, die auch das einzige Land überhaupt ist, das dem UNO-Sicherheitsrat einen ausgearbeiteten Plan für eine Militärintervention vorgelegt hat. Trotz gelegentlicher Versuche in den deutschen Medien, den gegenteiligen Eindruck zu produzieren, sind die Regierungen der Großmächte zu einem kriegerischen Abenteuer in Jugoslawien ganz und gar nicht in Stimmung. Militante Töne bleiben dort den Oppositionssprechern überlassen: Chirac in Frankreich, Thatcher in Großbritannien.

Läßt man den Krakeel einmal beiseite und betrachtet die Substanz der Aussagen, so hat sich - nach einigen "unbedachten" Sprüchen Kinkels Ende Juni - auch die deutsche Regierung eindeutig gegen eine direkte Militärintervention, beispielsweise die vielberedeten Luftangriffe auf serbische Artilleriestellungen - festgelegt. Nicht nur mit der Begründung, daß eine deutsche Beteiligung nicht in Frage käme, sondern auch grundsätzlich, wegen der Bedingungen Jugoslawiens, die eine Kriegführung als wenig aussichtsreich und sehr riskant erscheinen lassen. Am klarsten äußert sich in diesem Sinn Verteidigungsminister Rühe (CDU), der einen Einsatz ausländischer Soldaten ohne vorhergehende politische Lösung ausschließt.

Trotz dieser Festlegung haben die deutschen Politiker und Journalisten es verstanden, am Thema Jugoslawien eine spezifische Aufgeregtheit zu produzieren, die sie als Vorreiter einer direkten Einmischung profiliert und den Rest der Welt ständig mit dem Vorwurf der Zaghaftigkeit und Feigheit konfrontiert. Selbstverständlich steht das empörte Geschrei, man dürfe doch nicht einfach zusehen, im Mißverhältnis zu der bekannten Bonner Position, daß von Deutschland zwar heiße Worte, aber leider kein praktischer militärischer Beitrag zu erwarten seien. Man wisse schon, die historischen Gründe, und dann auch noch das Grundgesetz.

Das natürliche Ergebnis dieses Mißverhältnisses ist, daß die Ungeduld über die deutschen Schreihälse international zunimmt - und man sie geradezu bedrängt, dann doch bitte auch "Verantwortung mitzutragen". Genau dieser Effekt scheint eines der Hauptziele des Geschreis zu sein. Die "internationale Erwartungshaltung" wächst (Wörner, NATO-Generalsekretär, CDU), man will endlich Taten, konkret: deutsche Jungs an der Front, sehen. Hic Sarajevo, hic salta.

Wie man sich demonstrativ zur Jagd tragen läßt, zeigt das Beispiel des NATO/WEU-Einsatzes im Jadran (Adria). Seit Mitte Juli "überwachen" dort Kriegsschiffe und Flugzeuge das Embargo gegen Jugoslawien. Eine Kontrolle von Frachtschiffen findet allerdings nicht statt. Gewaltanwendung ist ausgeschlossen. Praktisch ist die militärische Präsenz im Jadran nutzlos, dafür aber auch kaum gefährlich für irgendjemand. Der interessanteste Punkt ist lediglich, daß dies der erste von der WEU beschlossene Militäreinsatz ist, also ein Präzedenz und Exempel für zukünftige Operationen darstellt, die dann nicht unbedingt ebenso unkriegerisch sein müssen. Kohl versuchte auch gar nicht, seine gute Laune zu verstecken: "Es eröffne sich jetzt die Möglichkeit, erstmals das Zusammenwirken von WEU und NATO zu erproben. Er freue sich auf die innenpolitische Diskussion darüber, ob Deutschland abseits stehen dürfe. Auf jeden Fall würden die Beschlüsse der WEU und der NATO die deutsche Diskussion über die Grundgesetzänderung anregen." (FAZ, 11.7.)

Scheinbarer Schönheitsfehler: "Deutsche Einheiten sollen zunächst nicht teilnehmen." (FAZ, 11.7.) Zwar gaben Kohl und Kinkel gleich bekannt, daß eine deutsche Beteiligung wohl "notwendig" sein werde - wegen dem "zunehmenden Druck auf Deutschland, sich zumindest an friedenserhaltenden Maßnahmen zu beteiligen", wie Kinkel es sichtlich genötigt formulierte. Aber erst mußte zur Wahrung des frommen Scheins noch ein paar Tage gewartet werden, bis die Bundesregierung fünf Tage nach dem WEU-Beschluß sich "durchgerungen" hatte, einen Zerstörer und drei See-Fernaufklärungsflugzeuge beizusteuern. Kinkel: "Eine andere Haltung als die der Bundesregierung wäre weltweit auf Unverständnis gestoßen. Deutschland könne sich zur Entschärfung des Konflikts nicht auf die Lieferung von Hilfsgütern beschränken." Und Rühe hob hervor, daß die Entscheidung wegen der "Bündnisfähigkeit" Deutschlands gar nicht anders ausfallen konnte. (FAZ, 16.7.)

Eine heitere Anekdote wird, unwidersprochen, vom SPD-Abgeordneten Verheugen erzählt: In einer gemeinsamen Sitzung des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses habe Kinkel selbst zugegeben, daß er den Marine-Einsatz für "Quatsch" halte. Er, Kinkel, und Kohl seien auf dem KSZE-Gipfel in Helsinki am 10. Juli von der Entscheidung zum Adria-Einsatz überrascht worden und hätten sie dann nicht mehr aufhalten können. Hierzu Verheugen: die WEU habe den Militäreinsatz bereits am 3. Juli beschlossen - bekanntgegeben wurde er aber tatsächlich erst am 10. Juli - und es sei unvorstellbar, daß Kohl und Kinkel eine Woche lang nichts davon erfahren hätten. (SZ, 20.7.)

Die Zweifel Verheugens lassen sich noch weiter zuspitzen. Schon am 4. Juli war in der FAZ zu lesen gewesen: "Wenn die UNO es wünscht, kann die Bundesmarine zur Kontrolle der Küsten des bisherigen Jugoslawiens auch Marine-Kampfflugzeuge vom Typ Breguet ,Atlantic` an die Adria verlegen. Dies hat in Bonn der Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann, bestätigt. Auch während des Besuchs von Verteidigungsminister Volker Rühe in Washington war ein möglicher Einsatz der schweren U-Boot-Jäger und See-Fernaufklärer von italienischen Adria-Flughäfen aus erörtert worden. Rühe will einen möglichen Einsatz der ,Atlantic`-Kampfflugzeuge als reine Überwachungsaktion zur Stärkung eines verschärften UN-Embargos gegen Serbien verstanden wissen. Der Einsatz von Schiffen der Bundesmarine habe zu keinem Zeitpunkt zur Debatte gestanden." - Letzteres ist eher unwahrscheinlich, da zu dem in Frage kommenden Flottenverband nun einmal ein deutscher Zerstörer gehört, und da ein politischer oder "historischer" Bedeutungsunterschied zwischen einem Kriegsschiff und einem Kampfflugzeug eigentlich nicht besteht.

Geht man nun noch ein paar Tage weiter zurück, stellt sich heraus, daß Kinkel Ende Juni in Washington war und Gespräche mit Bush, Außenminister Baker und Verteidigungsminister Cheney führte. Thema: militärische und halb-militärische Handlungsoptionen in Jugoslawien. Der Marine-Einsatz wurde zwar in den Medien anscheinend nicht ausdrücklich als Besprechungsthema erwähnt, stand aber zweifellos schon mit auf der Tagesordnung.

Vom Rande der Gespräche berichtete die FAZ am 1. Juli: "Nach Kinkels Ansicht gelte es bei einem Militäreinsatz europäischer Länder und Amerikas zuerst Sarajevo zu sichern, dann das Umland, und schließlich dafür zu sorgen, daß die Serben zu schießen aufhörten. Offenkundig hielte es Kinkel für das Wirksamste, die VI. Flotte in der Adria auffahren zu lassen und aus der Luft mit technischen Mitteln den Aufstieg serbischer Flugzeuge zu verhindern."

Diesem Bericht und der Interpretation wurde nicht widersprochen. Eine Kurswende gab es erst in der zweiten Juli-Hälfte, als der Fraktionsvorstand der CDU/CSU sich darauf festlegte, "ein militärischer Einsatz im ehemaligen Jugoslawien sei nicht zuletzt aus militärischen Gründen mit größter Vorsicht zu bewerten", d.h. zu riskant. (FAZ, 25.7.) Unmittelbar vorausgegangen waren Äußerungen der CDU-Politiker Gerster und Lammers, die sich für "einen gezielten Schlag gegen Luftwaffe, Flugplätze und gegen die Raketenbasen der Serben" ausgesprochen hatten. Hiervon distanzierte sich der Fraktionsvorstand nun ausdrücklich. Lammers ließ sofort mitteilen, er sei leider mißverstanden worden und teile die Meinung des Vorstands, während Gerster noch einen draufgab: eine deutsche Beteiligung bei dem Angriff auf Serbien sei "nicht auszuschließen".

Aber zurück zu Kinkels Gesprächen in Washington: Es ist erstens, siehe oben, nicht zu bezweifeln, daß der wenige Tage später gefaßte WEU-Beschluß dort besprochen und vorbereitet wurde, falls er nicht intern schon fertig vorlag. Es ist zweitens wahrscheinlich - siehe FAZ-Wiedergabe von Kinkels Überlegungen -, daß der deutsche Außenminister in Washington sich für sehr martialische Optionen ausgesprochen hat, die weit über die Interessen seiner Gastgeber hinausgingen. Die Schlußfolgerung liegt nahe, den Jadran-Einsatz dann als das Äußerste zu interpretieren, was die US-Regierung (und andere Bündnispartner) dem deutschen Drängen anzubieten hatten. Ein Trostpreis sozusagen.

Nun müssen wir aber noch einmal ein paar Wochen zurückgehen. Unmittelbar, nachdem am 30. Mai der UNO-Sicherheitsrat ein totales Embargo gegen Rest-Jugoslawien beschlossen hatte, forderten mehrere europäische Abgeordnete, darunter in vorderster Front wieder die deutschen Stimmen, eine sofortige Konferenz der Außen- und Verteidigungsminister der WEU, um über die "Durchsetzung" des Embargos zu beraten und zu beschließen. Die Einbeziehung der Verteidigungsminister in den Kreis macht schon deutlich, an welche Optionen in erster Linie gedacht war.

Weiter ist der FAZ (3.6.) zu entnehmen: "Ein Treffen des WEU-Rates ist am 19. Juni auf dem Bonner Petersberg vorgesehen. Der Rat wird nach Angaben Kinkels bereits am kommenden Donnerstag auf Botschafterebene die Möglichkeiten einer See- und Luftblockade gegen Serbien erörtern und dem Ministerrat in Bonn dann entsprechende Vorschläge unterbreiten. Serbien müsse ,in aller Deutlichkeit verständlich gemacht werden, daß es für weiteres Blutvergießen einen sehr hohen Preis zu zahlen hat.` Kinkel schloß einen militärischen Einsatz der Europäer etwa zur Überwachung des Embargos als ,letztes Mittel` nicht aus."

Es ist demnach wohl nicht zuviel gesagt, die Seeblockade vor der jugoslawischen Küste als Ergebnis deutscher Regierungspolitik zu interpretieren. Zumindest waren Kinkel & Co. treibende Hauptkraft, um diese Aktion in den Bündnisgremien durchzusetzen. Tatsächlich scheint es aber sogar, daß sich am Anfang außer den Herren aus Bonn eigentlich niemand von Rang für diese Idee stark gemacht hat. Soweit zum Thema "internationaler Druck" auf Deutschland, dem wir uns leider nicht entziehen konnten.

Der Kreis schließt sich, wenn man sieht, daß die Embargo-Resolution des UNO-Sicherheitsrats vom 30. Mai, die nun durch den Marine-Einsatz "überwacht" werden muß, eigentlich nur die Übernahme von EG-Beschlüssen war, die zwei Tage vorher gefaßt worden waren. Diese EG-Beschlüsse hatte an erster Stelle Deutschland gegen etliche Vorbehalte durchgekämpft. Und nachdem sie über die Bühne gegangen waren, hieß es sofort: "Kinkel forderte die internationale Gemeinschaft auf, sich einem umfassenden Handelsembargo gegen ,Jugoslawien` anzuschließen." (FAZ, 29.5.) "Kohl forderte die UNO auf, sich den am Vortag verhängten EG-Handelssanktionen anzuschließen." (FAZ, 30.5.) Aber drei Tage später schon wieder die treuherzige Unschuld: "Die Bundesregierung will sich den UNO-Sanktionen gegen Serbien umgehend anschließen." (FAZ, 2.6.) Ja, wenn doch die ganze Welt es von uns erwartet!

Knut Mellenthin

analyse & kritik, 26. August 1992