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Russland spricht mit eigener Stimme - und geht auf Distanz zum Westen
Außenminister Sergej Lawrow hat seinem britischen Kollegen David Miliband öffentlich widersprochen, meldet die russische Nachrichtenagentur RIA-Nowosti. Miliband hatte am Freitag nach einem Treffen der Außenminister Chinas, Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, der USA und Russlands in London erklärt: "Wir sind vereint in unserem Glauben, dass die Bedrohung für die Stabilität, die das iranische Anreicherungsprogramm darstellt, sehr ernst ist, und dass wir uns direkt damit befassen müssen."
Lawrow sagte dazu am Montag, die Stellungnahme Milibands vor der Presse "gibt eher seinen eigenen Standpunkt wieder als die kollektive Meinung der Iran-Sechs; zumindest gibt es nicht unsere Position wieder". "Es gab während des Ministertreffens keine Diskussion über neue Bedrohungen, die angeblich vom iranischen Atomprogramm ausgehen." Ebenfalls am Montag sagte Lawrow: "Einige meiner Kollegen, die bei den Gesprächen in London dabei waren, haben mich heute überrascht, indem sie sagten, wir hätten uns auf eine härtere Haltung gegenüber Iran geeinigt. Moskau hat bereits klargemacht, dass das eine völlige Verdrehung des Geschehens in London ist."
Milibands Äußerungen waren von Nachrichtenagenturen und Medien als gemeinsame Position der Gruppe der 5 plus 1 oder, wie man in Russland sagt, der Iran-Sechs interpretiert worden. Das hätte der bisher von Russland und China eingenommenen Haltung widersprochen: Zwar fordern sie den Iran als "vertrauensbildende Maßnahme" zu einer Unterbrechung der Anreicherung auf, haben aber mehrfach der völlig unbewiesenen Behauptung der US-Regierung widersprochen, das iranische Atomprogramm stelle eine Bedrohung dar und sei auf die Produktion von Nuklearwaffen gerichtet.
Lawrows deutliche Distanzierung stimmt mit anderen russischen Signalen der letzten Tage überein. So hatte Walentin Sobolew, amtierender Sekretär des Russischen Sicherheitsrats, am Mittwoch voriger Woche bei einem Besuch in Teheran erklärt, Iran arbeite nach russischer Überzeugung nicht an Atomwaffen, und alle an den Gesprächen über das iranische Atomprogramm beteiligten Länder sollten sich dieser Ansicht anschließen. Schon am Sonnabend hatte Lawrow gegenüber der russischen Nachrichtenagentur ITAR-TASS gesagt, die Iran-Sechs forderten lediglich, dass Teheran die Anreicherung für die Dauer der Verhandlungen unterbrechen müsse. Das ist zwar sachlich falsch - in diesem Fall ist es Lawrow, der die russische Position statt der kollektiven wiedergibt) und widerspricht auch dem Wortlaut der mit Russlands Stimme verabschiedeten Forderung des UN-Sicherheitsrats. Es zeigt aber, ebenso wie das russische Vorgehen im Konflikt mit Georgien, dass Russland derzeit auf deutlichere Distanz zur amerikanisch-europäischen Strategie geht. Beobachter in Moskau interpretieren das als Bemühen des demnächst aus dem Amt scheidenden Präsidenten Wladimir Putin, seinem Nachfolger außenpolitische Vorgaben zu hinterlassen.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 7. Mai 2008