Funktionen für die Darstellung

Darstellung:
  • Standard.
  • Aktuelle Einstellung: Druckansicht.

Seitenpfad

Neue Spekulationen über Angriff auf den Iran

Insider im Regierungsapparat der USA rechnen mit einem Angriff auf den Iran noch während der Amtszeit von Präsident George W. Bush, die Ende 2008 abläuft. Das berichtet der bekannte US-amerikanische Journalist Seymour M. Hersh in der neuen Ausgabe des Magazins "The New Yorker". Hersh wurde zuletzt im Mai 2004 weltweit bekannt durch seine Enthüllungen über die Folterpraktiken der USA im irakischen Gefängnis Abu Ghraib. Bereits 1969 hatte er mit der Aufdeckung des Massakers im vietnamesischen Dorf My Lai und mit Artikeln über die chemische Kriegführung der USA Aufsehen gemacht.

In seinem neuen Artikel geht Hersh der Frage nach, ob die Wahlniederlage der Republikaner und die damit verbundene Schwächung der Regierung einen Angriff auf den Iran wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher macht. Die ausführliche Analyse stützt sich auf zahlreiche Gespräche mit Insidern des Regierungsapparats, von denen viele Wert auf Wahrung ihrer Anonymität gelegt haben.

Hersh kommt zur Schlussfolgerung, dass maßgebliche Kräfte im Stab von Vizepräsident Dick Cheney und im Pentagon auf einen Angriff drängen. Ein Hauptziel dieser Kräfte sei es, angesichts des Desasters im Irak "ein Signal auszusenden, dass Amerika immer noch seine Ziele erreichen kann". "Auch wenn dabei Irans atomares Netzwerk nicht zerstört werden kann, gibt es dennoch viele, die glauben, dass ein 36-stündiges Bombardement der einzige Weg sei, den Iranern die hohen Kosten weiterer Arbeiten an der Bombe und der Unterstützung pro-iranischer Elemente im Irak deutlich zu machen", zitiert Hersh einen anonymen Regierungsberater.

Gerade die verfahrene Lage im Irak könne jenen Kräften als Argument dienen, die den Krieg möglichst bald auf den Iran ausdehnen wollen, schreibt Hersh. "Mehr und mehr Leute (im Regierungsapparat) glauben, dass eine Schwächung Irans der einzige Weg ist, um Irak zu retten."

Auf wenig Sympathie im Weißen Haus sei daher eine hochgeheime Analyse des Geheimdienstes CIA gestoßen, die zum Ergebnis kommt, dass es keine schlüssigen Beweise für ein iranisches Atomwaffen-Programm gebe. Die Regierung suche keine Beweise, zitiert Hersh einen früheren hochrangigen Geheimdienstmann, sondern wolle Gründe für einen Angriff geliefert bekommen. Auch der Pentagon-Geheimdienst DIA, traditionell mit der CIA in heftige Konkurrenzkämpfe verstrickt, stelle deren Analyse in Frage.

Hersh zitiert auch Stimmen, die vor den Folgen eines Angriffs auf den Iran warnen: Dieser werde "alle Differenzen in der arabischen Welt überbrücken; wir haben dann Syrer, Iraner, Hamas und Hisbollah gegen uns - und die Saudis und die Ägypter werden ihre Beziehungen zum Westen überdenken".

Auf der anderen Seite dränge Israel sehr stark auf Militäraktionen, schreibt Hersh. Die Israelis hätten aber zugesagt, "nichts auf eigene Faust zu unternehmen, ohne sich vorher bei uns grünes Licht zu holen", zitiert Hersh einen Pentagon-Berater. Ein zweischneidiges Versprechen, denn damit wäre völlig eindeutig, dass jede israelische Aktion gegen Iran mit den USA abgesprochen ist.

Die israelische Tageszeitung Haaretz hat den Artikel von Seymour Hersh am Montag zum Anlass genommen, um an eine - offiziell nicht bestätigte - Äußerung von Bush gegenüber Jacques Chirac vor einigen Wochen zu erinnern. Beim Besuch des französischen Präsidenten in Washington soll Bush gesagt haben, man könne die Möglichkeit eines israelischen "Präventivschlags" nicht ausschließe. Der US-Präsident habe dann hinzugefügt: Falls das geschähe, würde er Verständnis dafür haben.

Haaretz schreibt weiter, dass französische Regierungsbeamte im Gespräch mit israelischen Partnern kürzlich die Einschätzung geäußert hätten, das iranische Atomprogramm könne im Frühjahr 2007 den "point of no return" erreichen. Gemeint ist der Zeitpunkt, wo Iran rein theoretisch das nötige technische Wissen zum Bau einer Atombombe besitzen könnte. Für israelische Militärs und Politiker bezeichnet der "point of no return" den letztmöglichen Zeitpunkt für einen Militärschlag gegen den Iran.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 21. November 2006