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Finger am Abzug

Seit über zwanzig Jahren behaupten die Regierungen Israels, dass Iran nur wenige Jahre vor der Produktion von Atomwaffen stehe. Inzwischen hat sich die bedrohliche Distanz auf ein paar Monate verkürzt. Als Israel mit dieser Propaganda begann, das war um 1990, hatte Iran in Wirklichkeit nicht einmal minimale Voraussetzungen, sich dem ihm unterstellten Ziel zu nähern. Zur Erinnerung: Erst seit 2007 wird im Iran überhaupt Uran angereichert, was eine zentrale Voraussetzung wäre, um nukleare Sprengsätze zu bauen. Der Anreicherungsgrad beträgt nicht einmal fünf Prozent. Waffenfähiges Uran hat einen Anreicherungsgrad von mehr als neunzig Prozent.

Fast ebenso alt wie die israelischen Märchen über Teherans Bombe sind die Ankündigungen aus Jerusalem, man werde sich in naher Zukunft zu einem „Präventivschlag“ gegen die iranischen Atomanlagen entschließen müssen, da anderenfalls ein „zweiter Holocaust“ nicht zu verhindern sei. Das permanente Alarmgeschrei hat als Bluff durchaus seinen Nutzen, der auch praktisch messbar ist: Gestützt auf die israelischen Drohungen haben die USA und die EU die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen und militärischen Vorbereitungen gegen Iran – sie nennen diesen tödlichen Mix fälschlich „Diplomatie“ - so weit vorangetrieben, dass die Schwelle zum Krieg bereits fast erreicht ist. Trotzdem könnte man das Spiel mit verteilten Rollen wohl noch eine Zeit lang weiter spielen. Das Risiko ist jedoch, dass die israelische Regierung irgendwann zur Einschätzung gelangen wird, dass sie die Blufferei nicht ewig weiter betreiben kann, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Die israelische Regierung besteht auf ihrem Recht, diese Entscheidung ganz allein, ohne Rücksicht auf ihre Verbündeten und unbekümmert um die Folgen für die Region und vielleicht auch andere Teile der Welt, treffen zu dürfen. Es sei, „nach Auschwitz“, die israelische „Staatsdoktrin“, dass der jüdische Staat sich nur auf sich selbst verlassen könne und seine Verteidigung in den eigenen Händen behalten müsse, sagt Benjamin Netanjahu.

Aber die Wahrheit ist: Der israelische Staat mit seinem aufgeblähten Militärapparat – so stark gerüstet wie alle Streitkräfte der Region zusammengenommen – könnte ohne die ständige Subventionierung durch die USA nicht überleben. Israel wäre aufgrund seiner aggressiven Außenpolitik in der UNO fast vollständig isoliert, wenn die US-Regierung das nicht immer wieder durch Druck auf andere Staaten und nötigenfalls durch Ausübung ihres Veto-Rechts verhindern würde. Und, das ist im aktuellen Zusammenhang besonders wichtig: Israel kann aus eigener Kraft keinen erfolgsversprechenden Krieg gegen Iran führen. Es wird sehr schnell große Mengen an Nachschub brauchen, und anschließend etliche Milliarden Dollar zusätzlich, um seinen Etat wieder zu reparieren. Israel hat den Finger am Abzug der US-amerikanischen Schusswaffe. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 15. August 2012