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Falschmeldung? Na wenn schon!

Erschreckendes hatte die israelische Presse am Freitag wieder einmal aus dem Iran zu melden: Das Teheraner Parlament habe am Montag eine Kennzeichnungspflicht für Angehörige der nicht-moslemischen Religionsgemeinschaften beschlossen. Juden müssten künftig einen gelben Stoffstreifen an der Kleidung tragen, Anhänger des Zarathustra-Kults einen blauen Streifen und Christen ein rotes Abzeichen.

Angesichts dieser haarsträubenden Neuigkeit verwiesen die israelischen Zeitungen in Wort und Bild (Fotos von Judensternen) auf das NS-Vorbild. Ein naheliegender Vergleich. Nur stimmte die ganze Geschichte überhaupt nicht. Das hätte jeder seriös vorgehende Journalist von Israel aus durch Recherchieren leicht und schnell feststellen können. Angefangen bei der Tatsache, dass dem iranischen Parlament ein Vertreter der jüdischen Gemeinschaft angehört, der kein Blatt vor den Mund zu nehmen pflegt, beispielsweise bei der Zurückweisung israelfeindlicher Äußerungen von Präsident Mahmud Ahmadinedschad. Außerdem gibt es in Israel selbstverständlich Experten, die von Berufs wegen alle Ereignissen im Iran sehr aufmerksam verfolgen. Mehrere von ihnen stammen selbst aus dem Iran.

Die Falschmeldung war am Freitag zuerst in einer kanadischen Zeitung erschienen, der National Post. Das Blatt gehörte früher zum neokonservativen Hollinger-Konzern von Conrad Black, der die Post 1998 gegründet hatte. Derzeitige Eigentümerin ist die CanWest Corporation, die von den Brüdern David und Leonard Asper kontrolliert wird. Sie sind, ebenso wie Conrad Black, eng mit der israelischen Rechten verbunden.

Urheber der Falschmeldung war der Exil-Iraner Amir Taheri, der berühmteste Vorzeigeperser der amerikanischen Neokonservativen, der schon seit Jahren regelmäßig in der National Post publiziert. Taheri war von 1972 bis zum Sturz des Schah-Regimes, 1979, Chefredakteur der größten iranischen Tageszeitung Kayhan. Exakte Quellen für seine Story über die Kennzeichnungspflicht nannte Taheri nicht.

Inzwischen hat der jüdische Abgeordnete im Teheraner Parlament, Maurice Motammed, die Meldungen über die Kennzeichnungspflicht als "komplette Fälschung" und "total unwahr" zurückgewiesen. "Das ist eine Lüge, und die Leute, die sie erfunden haben, verfolgen damit politische Ziele." Er sei bei der entscheidenden Abstimmung dabei gewesen, und von religiösen Minderheiten stehe überhaupt nichts in dem Gesetz. Das wurde am Sonnabend auch von der Presseagentur AP bestätigt, der eine Kopie des Gesetzes vorliegt. Darin geht es um den auch unter Irans Politikern umstrittenen Versuch, die in der Praxis aufgeweichte rigide "Kleiderordnung", insbesondere für Frauen, wieder zu festigen. Das Gesetz ist in der vorliegenden Form noch nicht definitiv beschlossen und stellt den Versuch eines Kompromisses zwischen Hardlinern und Reformern dar.

Die wenigen Stunden, in denen die Falschmeldung ungeprüft in der Welt war, reichten für einige erstaunliche Aktivitäten. Das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles beispielsweise richtete, offenbar vorab von der National Post oder Taheri informiert, schon vor dem Erscheinen des Artikels einen scharf formulierten Protestbrief an UNO-Generalsekretär Kofi Annan. Das neue Gesetz erinnere an den Holocaust, hieß es da. Iran nähere sich der Nazi-Ideologie, und der internationale Druck auf Teheran müsse verschärft werden. Die Conference of Presidents of Major American Jewish Organizations, das Dachgremium aller großen jüdischen Verbände der USA, fühlte sich ebenfalls an die Nazi-Ära erinnert. Unter den Äußerungen israelischer Politiker fiel besonders die von Jossi Beilin, Chef der Meretz-Partei auf, der noch vor kurzem als Linker und sogar als Pazifist galt: Jetzt sei es Zeit, alle Juden aus dem Iran zu evakuieren. Die Anstrengungen zum Sturz der "Hitleristen" in Teheran müssten beschleunigt werden.

Alle diese Äußerungen wären vermeidbar gewesen, wenn man sich einige wenige Stunden für Nachfragen Zeit gelassen hätte. Aber offensichtlich ist die Hemmschwelle, wenn es um die Kampagne gegen Iran geht, mittlerweile sehr tief gesunken.

Im Iran leben 25.-30.000 Juden. Das ist, abgesehen natürlich von Israel, die größte jüdische Gemeinde in der Region. Juden sind in der Geschichte Irans nie verfolgt worden, und auch heute sind sie nach Aussagen israelischer Experten keinen religiösen Diskriminierungen ausgesetzt.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 22. Mai 2006