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Dichtung und Wahrheit
Die einstimmige Empörung deutscher Politiker und Journalisten über die Friedensbotschaft von Günter Grass hat auch etwas damit zu tun, dass sie allesamt ertappte Lügner sind: Ihr ständig wiederholter axiomatischer Ausgangspunkt, Iran arbeite am Bau von Atomwaffen, ist nicht nur gänzlich unbewiesen, sondern widerspricht auch den veröffentlichten Erkenntnissen aller westlichen Geheimdienste, einschließlich des israelischen.
Besonders viel gelogen wird im ewigen rechten Flaggschiff des Axel-Springer-Verlages, der Welt. Mittlerweile kann man konstatieren, dass – was den Iran angeht – selbst bei Bild mehr journalistische Sorgfalt und Ausgewogenheit praktiziert wird als in der Welt.
Am Dienstag las man dort online von einem der einschlägigsten Hausautoren für alle Israel irgendwie berührenden Themen, Clemens Wergin: „Iranischer Diplomat gesteht A-Waffen-Programm ein“. So die Headline, die später gegen das schön griffige, aber völlig frei erfundene „Wir stehen kurz vor der Bombe“ ausgetauscht wurde. Im Einleitungssatz heißt es dann: „Der Iran hat zum ersten Mal zugegeben, ein Atombombenprogramm zu verfolgen und kurz vor der Bombe zu stehen – und kaum jemand hat es bemerkt.“
Letzteres stimmt zweifellos: Außer Wergin hat es genau genommen weltweit überhaupt niemand bemerkt. In einem so eindeutigen Fall würde ein geistig einigermaßen gesunder Mensch einen Moment inne halten und sich fragen, ob etwas, das außer ihm niemand wahrgenommen hat, möglicherweise gar nicht existiert. Aber nicht so Wergin, der anscheinend allen Ernstes glaubte, seine Enthüllung sei „dazu angetan, die Welt zu erschüttern“, wie es am Schluss des Artikels heißt.
Wergins Entdeckung beruht, fernab von allem, was irgendwie mit Tatsachen zu tun hat, ausschließlich auf der böswilligen Fehlinterpretation eines Halbsatzes in einem Kommentar, den Hossein Musavian am vorigen Sonnabend in der US-amerikanischen Tageszeitung Boston Globe veröffentlicht hatte. Nun ist dieser Autor ohnehin nicht „der Iran“ und er ist schon seit sechseinhalb Jahren auch kein iranischer Diplomat mehr. Musavian war von 2003 bis zur Übernahme des Präsidentenamtes durch Mahmud Ahmadinedschad Anfang August 2005 Sprecher des iranischen Teams in den Atomverhandlungen. Zwei Jahre später wurde ihm vorgeworfen, er habe geheime Informationen an Ausländer weitergegeben. Kurze Zeit war er deswegen sogar inhaftiert. Seit 2009 lebt Musavian in den USA. Er ist, wie auch sein Artikel im Boston Globe zeigt, alles andere als ein Sprachrohr der iranischen Führung, deren Positionen im Atomstreit er zum Teil deutlich widerspricht.
Er gäbe also als Kronzeuge der Anklage gegen Iran ohnehin wenig her. Hinzu kommt aber, dass er das ihm Unterstellte eindeutig nicht geschrieben hat. In seinem Artikel behauptet er lediglich – übrigens ohne dies im mindesten zu erläutern oder gar zu belegen – dass Iran schon im Jahre 2002 die „break-out capability“, wörtlich: Fähigkeit zum Ausbruch, erreicht hatte.
Laut Wergin bezeichnet der englische Begriff „in der Expertensprache den Zeitpunkt, an dem ein Land grundsätzlich in der Lage ist, einen zündfähigen Nuklearsprengkopf zu bauen“, und er phantasiert darauf aufbauend munter drauf los: „Iran wäre demnach schon vor neun Jahren an einen Punkt gekommen, von dem die amerikanischen Geheimdienste glauben, dass ihn Iran selbst heute noch nicht erlangt habe.“
Wergin nennt für seine ganz persönliche Textexegese, die ihn seiner Selbsteinschätzung nach schlauer macht als alle Geheimdienste dieser Welt, keinen einzigen Experten und würde wahrscheinlich auch keinen finden. Der bekannteste Fachmann der USA für dieses Thema, David Albright, der das ISIS-Institut betreibt, definiert die „break-out capability“ über zwei Faktoren: Erstens Besitz einer Menge von schwach angereichertem Uran (LEU), die so groß ist, dass sie in relativ kurzer Zeit zu der für eine Atombombe erforderlichen Menge an waffenfähigem, hochangereichertem Uran (HEU) weiterverarbeitet werden könnte. Zweitens Verfügung über das für diesen Prozess erforderliche Know-how.
Zum Zeitpunkt, als er dies schrieb, im Dezember 2008, ging Albright davon aus, dass Iran die „break-out capability“ noch nicht habe, aber bald erreichen werde. Im Jahre 2002, als Iran laut Musavian diese „Fähigkeit“ bereits besaß, hatte es mit der Anreicherung von Uran noch nicht einmal begonnen. Diese startete erst im Februar 2007. Aus dem Kontext geht hervor, dass Musavian seine Bemerkung im Boston Globe nur auf das technische Know-how bezogen hat. Wergin hingegen sieht darin einen Beweis, dass Iran schon lange vor 2007 heimlich Uran angereichert haben müsse. „Spätestens seit 1998“ behauptet er, wobei er sich fälschlich auf die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) beruft, die etwas in diese Richtung gehendes jedoch zu keinem Zeitpunkt auch nur angedeutet hat.
Wergin hat auch einen „Nuklearexperten“ zur Hand, der seine Verdächtigungen bestätigt: „Hans Rühle jedoch glaubt, dass Mousavians Einschätzung zum Stand des iranischen Atomprogramms durchaus zutreffen könnte. 'Ich bin nicht überrascht, dass sie so weit sind', sagt Rühle, 'sondern darüber, dass Mousavian es uns nun so beiläufig mitteilt'.“
Das ist der selbe phantasiebegabte Rühle, der am 23. Oktober 2008 in der Süddeutschen Zeitung unter wahrheitswidriger Berufung auf den damaligen IAEA-Generaldirektor Mohammed el-Baradei behauptete, Iran könne schon zu Weihnachten eine Atombombe haben. Der selbe Rühle, der am 20. November 2009 die Leser der FAZ mit der Schreckensbotschaft alarmierte, es sei „nur noch eine Frage von Tagen“, bis der Iran im Besitz von nuklearen Gefechtsköpfen für seine Mittelstreckenraketen sein könnte.
Und es handelt sich schließlich auch um den selben Rühle, der am 28. März in der Welt im Stil klassischer antisemitischer Volksverhetzer verkündete, den Schiiten sei durch ihre Religion das Lügen und das Ablegen falscher Schwüre ausdrücklich erlaubt.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 7. April 2012