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Das Märchen vom Wurm
Am heutigen Freitag beginnt in Istanbul eine weitere Runde der Gespräche zwischen dem Iran und der Sechsergruppe, die aus China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Russland und den USA besteht. Während die Sechs Teheran dazu drängen wollen, zentrale Teile seines zivilen Atomprogramms zu demontieren, haben iranische Politiker wiederholt angekündigt, dass man nur über internationale Zusammenarbeit und andere Fragen von gemeinsamem Interesse diskutieren wolle.Die Erwartungen an das zweitägige Treffen in der Türkei sind daher sehr gering.
In den vergangenen Tagen wurde in den Mainstream-Medien wieder einmal behauptet, dass die Iran unterstellte Entwicklung eigener Atomwaffen durch Sabotage-Akte und andere „verdeckte Maßnahmen“ - zu denken ist dabei an die Ermordung von Nuklearwissenschaftlern - „um einige Jahre zurückgeworfen worden“ sei. In erster Linie geht es dabei um den Computerwurm Stuxnet, den Spiegel Online als „großen Erfolg“ feiert. Die New York Times hatte am vorigen Sonnabend berichtet, Stuxnet sei in monatelanger Gemeinschaftsarbeit von den USA und Israel entwickelt worden. In einem unterirdischen Bunker des israelischen Reaktors Dimona sei sogar die Zentrifugen-Anlage von Natanz nachgebaut worden, um den Wurm zu testen. Die angebliche Wirkungsweise von Stuxnet ist so, dass er das Computerprogramm durcheinander bringt, das die Zentrifugen steuert. Dadurch würden diese abwechselnd extrem stark beschleunigt und dann jäh abgebremst. Das zerstöre die Maschinen schon nach kurzer Zeit.
Die Uran-Anreicherung in Natanz wird von der Internationalen Atomenergie-Behörde IAEA ständig intensiv kontrolliert. Seit dort im Februar 2007 die Arbeit aufgenommen wurde, lag bei allen Inspektionen ein erheblicher Teil der installierten Zentrifugen gerade still. Die Zahl der arbeitenden Maschinen schwankte deutlich: zwischen einem Maximum von 4920 (31. Mai 2009) und einem Minimum von 3772 (29. Januar 2010). Bei einer Inspektion am 16. November 2010 sei sogar festgestellt worden, dass keine einzige Zentrifuge in Betrieb war. Allerdings liefen kurz vorher und kurz nachher rund 4800 Maschinen.
Das eigentliche technische Problem liegt offenbar darin, dass Iran in Natanz immer noch ausschließlich die veralteten, sehr störanfälligen Zentrifugen im Einsatz hat, die von der IAEA als IR-1 bezeichnet werden und ursprünglich aus Pakistan stammen. Selbst die Medien behaupten indessen nur, dass etwa ein Fünftel aller iranischen Zentrifugen vorübergehend durch Stuxnet lahmgelegt worden sei. Das kann also die iranische Uran-Anreicherung unmöglich „um Jahre zurückgeworfen“ haben.
Der Zweck der immer wieder verbreiteten Gerüchte über „Verzögerungen“ des iranischen Atomprogramms liegt auf der Hand: Seit etwa 1990 behauptet die westlliche Propaganda regelmäßig, dass Iran nur noch zwei, drei oder höchstens fünf Jahre von der Bombe entfernt sei. Wenn die Lüge weiterleben soll und wenn sich der Westen nicht selbst unter militärischen Zugzwang bringen will, muss man von Zeit zu Zeit die Uhr wieder um ein paar Jahre zurückstellen.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 21. Januar 2011