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Aufpeitschung von Emotionen
Als „Quelle einer neuen Steigerung der Spannungen“ hat das russische Außenministerium am Mittwoch den am Vortag bekannt gewordenen neuen Bericht des Generaldirektors der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA über das iranischen Kernenergie-Programm verurteilt. Die Veröffentlichung von Auszügen aus dem Papier sei „von einer destruktiven Logik getrieben“ und ziele auf die „absichtliche Zerstörung des politisch-diplomatisches Prozesses“. Russland sei darüber besonders „enttäuscht und bestürzt“ angesichts der Tatsache, dass es gerade jetzt gewisse Chancen für eine Wiederaufnahme der Gespräche zwischen Iran und der Sechsergruppe – zu der neben Russland auch die USA, China, Großbritannien, Frankreich und Deutschland gehören – gegeben habe. Man müsse den Bericht „in einer ruhigen Atmosphäre analysieren“, um zu entscheiden, ob es darin wirklich neue, verlässliche Erkenntnisse gibt „oder ob wir es mit einer bewussten – und kontraproduktiven – Aufpeitschung von Emotionen zu tun haben.“
Ganz anders stellt sich die Sache für die französische Regierung dar. Außenminister Alain Juppé kündigte am Mittwoch an, dass Paris eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats veranlassen will, um neue „beispiellose“ Sanktionen gegen Iran durchzusetzen. Verteidigungsminister Gerard Lonquet nannte das 14 Seiten umfassende Dokument, das er vermutlich noch nicht einmal gelesen hat, „eine wirkliche Quelle der Besorgnis“. Jetzt gelte es, Russland und China von der Notwendigkeit noch härterer Strafmaßnahmen zu „überzeugen“.
Mit diesem Verhalten setzt Frankreich sich über einfachste Regeln hinweg. Rechtlich gesehen liegt der Bericht jetzt erst einmal dem Board of Governors der IAEA vor, das sich auf seiner nächsten Sitzung am 17. und 18. November damit befassen wird. Dieses Gremium hat zu entscheiden, ob es aufgrund des Papiers erneut den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anrufen will.
Das Board of Governors hat auch darüber zu befinden, ob der Iran-Report von Generaldirektor Jukija Amano überhaupt veröffentlicht werden soll. Indessen ist es schon lange üblich geworden, dass die Berichte gezielt an bestimmte Journalisten weitergegeben werden, sobald sie intern vorliegen. Völlig neu war diesmal aber, dass Einzelheiten aus dem Berichtsentwurf schon seit Ende voriger Woche hektisch in den Medien präsentiert wurden, obwohl das Papier noch nicht einmal ganz abgeschlossen war.
Manches, was die Mainstream-Medien vorschnell und alarmistisch „gemeldet“ hatten, steht allerdings gar nicht in Amanos Bericht. So wird man dort Spekulationen, wie weit Iran denn wohl noch von der Bombe entfernt sei, vergeblich suchen. In den vergangenen Tagen war unter Berufung auf „Insider“, die angeblich den Berichtsentwurf gesehen hatten, vielfach behauptet worden, Iran könne schon in wenigen Monaten eigene Atomwaffen herstellen. Auf die Spitze trieb es wieder einmal die BILD, die am Dienstag titelte: „Irans Atom-Bombe fast fertig“. Im Ton maßvoller, aber nicht wenig falsch schrieb die FAZ: „Westliche Regierungen sehen sich in ihrer Auffassung bestätigt, dass Iran theoretisch in der Lage wäre, eine Atombombe zu bauen.“ In Amanos Bericht kann das jedenfalls niemand gelesen haben.
Zweite Überraschung für alle, die nach dem Medienrummel tatsächlich mit einer „Fülle neuer Erkenntnisse“ (New York Times) gerechnet hatten: Das meiste, was auf den 14 Seiten – genau genommen ein Anhang zum eigentlichen routinemäßigen Vierteljahresbericht – zusammengestellt wurde, ist seit mehreren Jahren bekannt und wurde schon vielfach erörtert. Die iranische Seite hat dazu im Frühjahr 2008 in einem 117 Seiten umfassenden Papier detailliert Stellung genommen. Hauptquelle der Verdächtigungen ist immer noch das legendäre Laptop, das auf seltsam verschlungenen und nicht nachvollziehbaren Wegen im Herbst 2004 beim US-Auslandsgeheimdienst CIA landete. Im Amano-Report taucht es unter der Bezeichnung „Alleged Studies“ auf. Als erste Tageszeitung hatte die New York Times im November 2005 über die angeblich auf dem Laptop gespeicherten Dokumente berichtet, die sich auf „geheime iranische Arbeiten an Atomwaffen“ beziehen sollen.
Die behauptete Solidität der in Amanos jüngstem Bericht zusammengestellten Behauptungen und Vermutungen soll dadurch unterstrichen werden, dass die „Informationen“ von insgesamt zehn verschiedenen Staaten stammen. Tatsächlich stützen sich aber alle Einzelvorwürfe nur auf Mitteilungen von jeweils einem oder höchstens zwei Staaten. In keinem einzigen Fall wird offengelegt, um welchen Staat oder welche Staaten es sich dabei handelte. Eigene „Erkenntnisse“ der IAEA beschränken sich auf die Lektüre von „open sources“, allgemein zugänglichen Quellen. Darunter Artikel, die in normalen wissenschaftlichen Zeitschriften Irans veröffentlicht wurden.
Selbst wenn man allen im Bericht genannten Punkten Glauben schenken würde – wozu absolut kein Anlass besteht – ist dort vom „Bau einer Atombombe“ oder „Arbeiten an Atomwaffen“ keine Rede. Im Wesentlichen geht es lediglich um Tests, die vielleicht der Entwicklung eines Zündmechanismus – aber auch manchen anderen Zwecken – hätten dienen können, sowie um Computersimulationen im Zusammenhang mit dem Entwurf eines Raketensprengkopfs. Iran hat beiden Vorwürfen schon vor mehreren Jahren widersprochen. Unabhängig davon: Weder das eine noch das andere wäre ein Verstoß gegen den Atomwaffensperrvertrag gewesen. Wer's nicht glaubt, lese nach.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 10. November 2011