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"Over-Stretch"

Die US-Armee an den Grenzen ihrer Möglichkeiten

Ein "Cakewalk", ein Spaziergang, sollte der Irak-Krieg werden. So hatten es jedenfalls führende Kriegstreiber wie Vizepräsident Dick Cheney und Pentagon-Top-Berater Richard Perle versprochen. Aber alles ist relativ. Über 260 tote amerikanische und britische Soldaten plus, nicht zu vergessen, über 5.000 tote Zivilisten, sind für einen Spaziergang zwar reichlich viel, für einen Krieg aber tatsächlich außergewöhnlich wenig. Zumal wenn man sich an Prognosen erinnert, dass allein der Kampf um Bagdad die USA mehrere tausend Tote kosten könnte.

Mindestens 33 amerikanische Soldaten sind bei bewaffneten Widerstandsaktionen ums Leben gekommen, seit Präsident Bush am 1. Mai offiziell das Kriegsende verkündete. Tendenz steigend. Kein Problem, behauptet die US-Regierung. Das ist nicht relativ, sondern eindeutig falsch. Erstens, weil der Widerstand den Besatzungstruppen einen unverhältnismäßig großen, kostspieligen Personal- und Sicherungsaufwand aufzwingt. Zweitens, weil die "Moral" der Soldaten sich immer mehr verschlechtert.

148.000 US-Soldaten sind im Irak stationiert, hinzu kommen 11.000 Briten. Knapp 10.000 Soldaten erhofft sich Washington künftig von seinen europäischen Verbündeten Polen, Spanien, Ukraine, Bulgarien, Rumänien und Ungarn. Die indische Regierung, die vor einigen Wochen die Entsendung einer ganzen Division, 17.000 Mann, in Aussicht gestellt hatte, hat jetzt nach wochelangem Streit entschieden, sich nicht an der Besetzung Iraks zu beteiligen.

Germans to the Front?

Der Senat hat in der vorigen Wochen einstimmig eine Resolution verabschiedet, mit der die Regierung aufgefordert wird, sich um ein stärkeres militärisches Engagement anderer Staaten im Irak, insbesondere eine größere Rolle der NATO, zu bemühen. Gemeint sind in erster Linie Frankreich und Deutschland, die den Krieg abgelehnt hatten und nun wieder in die von den USA dominierte Politik eingebunden werden sollen.

Der Wert dieser Resolution ist jedoch denkbar gering: Sie ist für die Regierung nicht verpflichtend und inhaltlich zahnlos, was eine wesentliche Voraussetzung für die einstimmige Annahme war. Voraussichtlich sind weder Paris noch Berlin bereit, Truppen für ein Besatzungsregime zur Verfügung zu stellen, dessen Politik ausschließlich von den USA bestimmt wird. Frankreich hat schon erklärt, dass es ohne UNO-Mandat und ohne eine zentrale politische Rolle der UNO im Irak keine militärische Verantwortung übernehmen wird. Es gibt jedoch keine Anzeichen, dass die amerikanische Regierung auch nur im geringsten bereit sein könnte, ihre Macht über den Irak mit anderen zu teilen.

Außerdem weisen Militärexperten darauf hin, dass die europäischen NATO-Partner, selbst wenn sie wollten, nur wenig Truppen abstellen könnten, da sie schon jetzt auf anderen Schauplätzen stark beansprucht sind. Eine erhebliche militärische Entlastung der USA ist also nicht zu erwarten. Die Amerikaner werden auf absehbare Zeit mit über 100.000 Soldaten im Irak präsent bleiben, und sie richten sich auf mindestens vier Jahren ein. Kosten derzeit 4 Milliarden Dollar im Monat.

Die US-Armee ist damit bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten beansprucht. Fast 250.000 Soldaten sind außerhalb der Grenzen der USA stationiert: Mehr als 185.000 im Irak und in der Region, vor allem in Kuwait. Über 25.000 in Südkorea. 10.000 in Afghanistan. 5.000 auf dem Balkan. Hinzu kommen kleinere Kontingente in vielen Ländern. Afghanistan könnte künftig sehr viel mehr US-Soldaten erfordern, wenn der militärische Widerstand zunimmt, wofür es zunehmend Anzeichen gibt.

250.000 scheint nicht allzu viel, wenn man es mit der Gesamtstärke der US-Armee von etwas über einer Million vergleicht. Aber nur 480.000 Personen gehören zu den aktiven Streitkräften, der Rest setzt sich aus Reservisten und der National Guard zusammen. Von den aktiven Streitkräften gelten nur weniger als 320.000 als jederzeit schnell einsetzbar.

Die Situation der US-Armee ist aber noch weitaus angespannter, als aus diesen Zahlen deutlich wird. Militärexperten gehen nämlich davon aus, dass man die erforderliche Truppenzahl für Kampfeinsätze mit drei multiplizieren muss. Soll heißen: Um beispielsweise im Irak eine Stärke von 150.000 aufrecht zu erhalten, wären eigentlich 450.000 Soldaten nötig, da sonst die nötige Rotation nicht zu gewährleisten ist.

Schlechte Stimmung in der Truppe

Aus dieser Rechnung ergibt sich, dass die Armee schon jetzt überbeansprucht ist. In der Praxis heißt das, dass Truppen im Irak, denen schon mehrmals baldige Heimkehr versprochen wurde, weiter dort bleiben müssen und noch nicht einmal einen verbindlichen Termin haben, wann sie ihre Familien wiedersehen werden. Die Rückkehr der 3. Infanterie-Division, die entscheidend an der Einnahme Bagdads beteiligt war und in diesem Krieg mehr Soldaten verloren hat als jede andere Einheit, wurde schon vier Mal verschoben.

Während Regierungspolitiker in Washington schwadronieren, wie gern die Soldaten diese ehrenvolle Pflicht fürs Vaterland erfüllen, geht aus allen Medienberichten hervor, dass die Stimmung der Truppen von Frustration und Wut gekennzeichnet ist. Experten gehen davon aus, dass es unter solchen Umständen künftig sehr viel schwerer sein wird, Soldaten für die Berufsarmee der USA anzuwerben.

Gerade aber auf eine zahlenmäßige Aufstockung der US-Streitkräfte läuft letztlich alles hinaus. 1991 hatten die USA mehr als zwei Millionen Soldaten, heute nur noch 1,4 Millionen (jeweils einschließlich Marine und Luftwaffe). Die Armee wurde von 18 auf 10 Divisionen reduziert. Aus dem Lager der Neokonservativen und anderen "Falken" kommt jetzt die Forderung, die Streitkräfte wieder auf die Zahlenstärke von 1991 zu bringen. Die Mehrkosten werden auf über 100 Milliarden Dollar jährlich kalkuliert.

An dem grundsätzlichen Dilemma der amerikanischen Militärstrategie würde eine Aufstockung in dieser Größenordnung jedoch nicht viel ändern. Geht man von der jetzigen Situation aus, dass mehr als 50 Prozent der Streitkräfte Reservisten sind, und bezieht man die Rotationen ein, die langfristig den Truppen kaum verweigert werden können, beträgt das effektive Plus bei diesem Vorschlag weniger als 100.000 verfügbare Soldaten. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass die Aufstockung eine Anlaufzeit von mehreren Jahren bräuchte, bevor sie voll wirksam wäre.

Offensichtlich sind den Möglichkeiten der USA, über den Irak hinaus militärische Machtpolitik in die gesamte Region hinein zu entfalten, vorerst enge Grenzen gesetzt. Wahrscheinlich würden ihre noch verfügbaren Einheiten ausreichen, um Syrien oder Iran in kurzen Feldzügen zu unterwerfen. Zur Errichtung eines Besatzungsregimes würden die Truppen jedoch nicht ausreichen. Ihre Kriegsdrohungen gegen die beiden Nachbarländer Iraks, die im April und Mai dieses Jahres noch sehr laut und schrill klangen, hat die US-Regierung inzwischen auf Zimmerlautstärke gedrosselt. Zur Zeit sieht es ganz so aus, als wollte Washington erst einmal abwarten, ob sich Damaskus und Teheran nach der Demonstration amerikanischer Militärmacht im Irak vielleicht freiwillig allen amerikanischen Forderungen unterwerfen.

Kein Risiko vor der Präsidentenwahl 2004

Zur etwas zurückhaltenderen Vorgehensweise der US-Regierung trägt auch bei, dass im nächsten Jahren der Präsident neu zu wählen ist. Es scheint daher nicht erfolgsversprechend, der Bevölkerung wenige Monate nach dem Irak-Krieg weitere Militäraktionen schmackhaft machen zu wollen. Innerhalb von nicht einmal drei Wochen ist die Zustimmung der Bevölkerung zur Amtsführung des Präsidenten von 68 auf 59 Prozent gesunken. Eine klare Mehrheit, 80 Prozent, fürchtet, dass die USA im Irak dabei sind, sich in einen langen, teuren Krieg zu verstricken. Zwar sprechen sich immer noch 70 Prozent dafür aus, amerikanische Truppen weiter im Irak stationiert zu lassen, aber 52 Prozent bekunden, dass die fortlaufenden Verluste der amerikanischen Truppen "unakzeptabel hoch" seien. 50 Prozent meinen jetzt schon, dass Bush die Hinweise auf irakische Massenvernichtungswaffen bewusst übertrieben habe. Dieser Anteil wird zweifellos weiter wachsen, da das Thema zur Zeit im Kongress ständig diskutiert wird und die Demokraten damit offensichtlich Punkte für den Wahlkampf zu sammeln versuchen.

Die Meinungsumfragen zeigen andererseits, dass die Regierung immer noch eine Mehrheit für einen Krieg gegen Iran finden könnte. Nämlich wenn es ihr gelänge, glaubhaft darzulegen, dass Teheran an der Entwicklung eigener Atomwaffen arbeitet.

Ein Rückblick auf den Aufbau der Kriegsbereitschaft gegen Irak zeigt, dass zwei Themen bestimmend waren: Die von einer Mehrheit der Amerikaner getragene Wahnvorstellung, Saddam Hussein habe etwas mit den Angriffen vom 11. September zu tun gehabt - was weder die Regierung noch die meisten Medien behauptet hatten! - und als zweiter Aktivposten die Annahme, Bagdad wolle Atomwaffen produzieren. Sämtliche Angaben, die diese Annahme stützen sollten, waren schon vor dem Krieg zusammengebrochen, wie jetzt deutlich wird. Der Streit im Kongress und in den Medien wird nur noch darum geführt, wer daran schuld war und insbesondere, welchen Anteil Präsident Bush persönlich an der Meinungsmanipulation hatte.

Das Gedächtnis der amerikanischen Öffentlichkeit ist leider meist kurz, und vielleicht ist dieser Streit in einem Jahr schon vergessen. Aber aktuell gilt, dass die Regierung schon sehr gute Argumente und stichhaltige Beweise für iranische Atomwaffen-Ambitionen vorlegen müsste, um damit einen neuen Krieg zu rechtfertigen. Und diese sind wahrscheinlich nicht zu finden.

Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass die USA keinen Krieg geführt haben, ohne dass es dafür eine Bevölkerungsmehrheit gab. Eine Situation wie in Großbritannien, wo Tony Blair ungerührt Truppen zum Irak-Krieg abkommandierte, obwohl eine deutliche Mehrheit der Briten gegen diesen Krieg war und ihren Willen unübersehbar auf den Straßen Londons demonstrierte, hat es in der Geschichte der USA vermutlich nie gegeben. Um so größere Bedeutung kommt natürlich der Bearbeitung der öffentlichen Meinung zu.

Hoffen auf einen neuen 11. September

So sprechen alle erkennbaren Faktoren dafür, dass die US-Regierung bis zu den Präsidentschaftswahlen im November 2004 keinen zusätzlichen Kriegsschauplatz eröffnen wird. Die dadurch eintretende Verzögerung läuft jedoch den strategischen Intentionen der "Falken" zuwider, die in der Regierung Bush insbesondere das Pentagon dominieren. Ihre Pläne erfordern eigentlich eine sehr rasche Dynamik ohne größere Pausen, um eine Kettenreaktion von Gewalt und Gegengewalt in der gesamten Region auszulösen. Vorerst bleibt ihnen aber gar nichts anderes übrig, als den Gang der Dinge zu akzeptieren - und auf ein zweites "Wunder" wie den 11. September zu hoffen, das völlig neue Optionen eröffnen würde. Ein solches "Wunder" würde die Republikaner plötzlich wieder in die Offensive bringen, und die Demokraten würden in einer solchen Konstellation vermutlich wenig Widerstand leisten, um nicht "unpatriotisch" zu erscheinen.

Selbst dann würden die USA aber wahrscheinlich keinen umfassenden Krieg, gegen wen auch immer, führen, denn für ein zweites Besatzungsregime fehlen ihnen auf absehbare Zeit die Soldaten. Eine plausiblere Option wären gezielte Schläge, sprich Luftangriffe. So werben einschlägig bekannte neokonservative Agenturen wie das Komitee für einen Freien Libanon jetzt für die "präventive" Zerstörung ziviler iranischer Atomanlagen. Sie vergessen dabei nicht den Hinweis, dass man die Zahl der Ziele nicht allzu klein definieren sollte, sondern auch weitere Industrieobjekte einbeziehen sollte.

Im Hintergrund dieses Vorschlags steht die Erwartung, dass jeder amerikanische Angriff auf Iran mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass die Schiiten im Irak, im Libanon und auf der arabischen Halbinsel ihren stillschweigenden Waffenstillstand mit den USA beenden würden. Die angestrebte Provokation für eine militärische Eskalation wäre damit wohl sehr nahe gerückt.

Knut Mellenthin

Neues Deutschland, 17. Juli 2003