Funktionen für die Darstellung
Seitenpfad
Die Russen kommen - aber wo bleiben sie denn?
Seit 1. Januar ist in Rußland das bereits 1990 vom sowjetischen Parlament verabschiedete Gesetz über die Reisefreiheit in Kraft. Theoretisch könnten nun alle Bürger Rußlands den früher nur einer Minderheit zugänglichen roten Auslandspaß erwerben und nach Herzenslust in der Welt herumreisen. Doch "grau, lieber Freund, ist alle Theorie", wie Mephisto im Faust schon wußte. Denn der Paß ist nur gegen eine Gebühr von 5000 Rubel zu erhalten. Das ist derzeit etwa ein Monatslohn der unteren Mittelklasse. Ist diese Hürde genommen, schocken die im letzten Jahr inflationär angehobenen Tarife der Bahnen und Fluglinien. Doch es kommt noch weit schlimmer: Wer wirklich ins Ausland reisen will, muß selbstverständlich die Verkehrsmittel von der Grenze an in westlichen Devisen zahlen. Beim jetzigen Wechselkurs des Rubels entspricht das schon einem kleinen Vermögen. Hinzu kommt, daß im kapitalistischen Ausland zumeist ein Einreisevisum verlangt wird; ein solches kostet in der Regel Schmiergeld, das ebenfalls in Dollar oder Deutschmark zu entrichten ist. Außerdem hat im allgemeinen nur Chancen auf ein Visum, wer im betreffenden Ausland jemanden kennt und eine Einladung von dort vorweisen kann.
Dennoch wird die Zahl der Bürger Rußlands, die 1992 ins Ausland gereist sind, offiziell immerhin mit vier Millionen angegeben. (1) Polen spricht gar davon, daß im vergangenen Jahr acht Millionen Menschen von Osten her, also in erster Linie aus den Staaten der GUS, eingereist seien; es ist allerdings wohl nicht auszuschließen, daß dabei einige mehrfach Einreisende doppelt gezählt wurden. Es wird geschätzt, daß sich ständig 200.000 bis 250.000 Menschen aus der ehem. Sowjetunion in Polen aufhalten, von denen einige Zehntausend Schwarzarbeiter sind. (2) Schon 1988 sollen 1,7 Millionen Sowjetbürger zu "mehrwöchigen Aufenthalten" nach Polen gereist sein. 1989 seien es dann 2,9 Mio. und 1990 schon 4,2 Mio. gewesen. (3)
Aus den genannten Zahlen ergibt sich, daß schon lange eine erhebliche Zahl sowjetischer Bürger, aus unterschiedlichen Gründen, im Besitz eines roten Passes war. Deren Anzahl wird gewiß durch das neue Reisegesetz wachsen, aber es entstehen keine absolut neuen Verhältnisse - zumal ein neuer Paß eine Menge Geld kostet und mutmaßlich gerade von denen, die sich das leisten könnten, viele ohnehin schon so ein gutes Stück besitzen. Das Moskauer Außenministerium rechnet mit 15 bis 20 Millionen Antragstellern (4), was nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Bevölkerung wäre. Zusätzlich zum vorhandenen Bestand an Blanko-Pässen sollen im ersten Vierteljahr 1993 etwa drei Millionen neue gedruckt werden (1).
Die Zahl der Auslandsreisenden in 1992 zeigt aber auch, daß es sicher etliche Millionen Russen und andere GUS-Bürger gibt, für die die oben aufgelisteten finanziellen Hürden nicht unüberwindlich sind. Vermutlich sind viele darunter, die sich die Reisekosten und einiges darüber hinaus durch Gelegenheitsarbeit, Handel, Prostitution oder auch auf kriminelle Weise zu beschaffen verstehen.
Der "Tourismus" aus der GUS scheint sich aber bisher noch auf Polen zu konzentrieren, während er in der BRD und anderen Westländern kaum zu spüren ist. Gründe dafür mögen u.a. in der geographischen Nähe, den erheblich geringeren Reise- und Lebenshaltungskosten liegen, sowie sicher auch darin, daß die polnische Einreise-Praxis bisher noch verhältnismäßig liberal war: Es gab (und gibt) im Gegensatz zu den meisten westlichen Ländern keinen Visumzwang; es reicht die Einladung polnischer Bürger, und die war bisher auf dem illegalen Markt käuflich zu haben. Warschau hat diese Praxis erst im letzten Dezember unter dem Druck der Bonner "Neuregelung" deutlich verschärft. Alle Einladungen müssen jetzt von den örtlichen Behörden beglaubigt werden. Und: Wer eine Einladung für GUS-Bürger unterschreibt, kann für die entstehenden Kosten (z.B. zwangsweise Abschiebung, medizinische Behandlung) haftbar gemacht werden. Das gilt für alle Nachfolgestaaten der ehem. UdSSR, mit Ausnahme Litauens. Das dürfte vor allem auf die Existenz einer starken polnischen Volksgruppe in dieser Republik zurückzuführen sein, der man das Kontakthalten zum "Mutterland" wohl so leicht wie möglich machen will.
10 Millionen auf dem Weg ins Schlaraffenland
Das Inkrafttreten des neuen Reisegesetzes war ursprünglich schon für Ende 1990 erwartet worden. Vorausgegangen war jahrelanger Druck der USA, der durch wirtschaftliche Sanktionen konkretisiert wurde. Seit Bestehen der UdSSR war in allen bürgerlichen Medien tränenreich das schwere Los der Sowjetmenschen beschworen worden, denen ihre böse Regierung das freie Herumreisen in der Welt verbietet. Als es dann aber soweit war, daß sich der legendäre "Eiserne Vorhang" endlich heben sollte, brach im Westen Panik aus. "Der Strom könnte zu einer wahren Völkerwanderung anschwellen, wenn das sowjetische Parlament - wie angekündigt - in den nächsten Wochen den Russen zum erstenmal die Ausreise gestattet", gruselte sich die "Bild am Sonntag" (2.12.90). In der "Bild" sah Chefkommentator Uwe Siemon-Netto schon alles ganz genau vor sich: "Was kommt da auf uns zu? 10 Millionen Russen, Rumänen, Polen, Tschechen, Bulgaren machen sich auf den Weg gen Westen. Deutschland ist ihr Schlaraffenland." (17.12.90)
Warum es mit dem Reisegesetz dann doch nicht ganz so schnell ging wie erwartet, ist im Einzelnen nicht schlüssig nachzuweisen. Sicher haben interne Probleme, insbesondere der Zusammenbruch der UdSSR im Herbst 1991, vielleicht auch einfach technische Schwierigkeiten, eine Rolle gespielt. Beispielsweise die Sorge, daß die Unzulänglichkeiten des sowjetischen Verkehrsnetzes einem Massen-Reiseverkehr nicht standhalten würden; oder das Problem der Herstellung und der zügigen Verteilung von Millionen neuen Pässen. Doch ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß auch westlicher Druck auf Moskau mit im Spiel war - nun mit dem Ziel, die eben noch geforderte Reisefreiheit für alle Sowjetmenschen möglichst lange hinauszuzögern.
Offensichtlich ist jedenfalls im Rückblick, daß mit der damaligen Panikmache, "Die Russen kommen", der neuerliche Angriff auf das Asylrecht und dann die massive ausländerfeindliche Welle unmittelbar eingeleitet wurden, die 1991 landesweit einsetzten. "Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwägt eine Änderung des Grundgesetzes, um eine Katastrophe durch eine Völkerwanderung aus dem Osten zu verhindern"(4), hieß es schon damals. Der "Spiegel" sagte als Folge des neuen Reisegesetzes den Untergang des Abendlands voraus: "Dann kann eine Massenbewegung gen Westen losbrechen, die etwa die polnische Emigration in die Bundesrepublik oder die Flucht aus der DDR im vorigen Herbst weit in den Schatten stellt. Der Exodus von Millionen würde das Ausgangsland noch weiter herunterbringen und die Zielländer destabilisieren." (5) In der "Bild" malte Siemon-Netto die Katastrophe für Europa an die Wand, "wenn Millionen ausgehungerte Osteuropäer unsere Staatshaushalte übermäßig strapazieren, wenn unsere Straßen aussehen werden wie orientalische Suks und unsere Bahnhöfe wie Flüchtlingslager". (6)
Es scheint, daß das erste Stichwort im Juni 1990 vom sowjetischen Arbeits- und Sozialminister Schtscherbakow gegeben wurde. Er sagte voraus, daß in den nächsten zwei Jahren vier bis fünf Millionen Sowjetbürger ihren Arbeitsplatz verlieren würden; viele von ihnen würden sich dann wohl Jobs im Ausland suchen. Bei einer wirtschaftlichen "Schocktherapie" sei sogar mit bis zu 35 Millionen Arbeitslosen in der UdSSR zu rechnen. Er habe deshalb die "Gastarbeiterfrage" schon mit seinen Kollegen aus vielen kapitalistischen Ländern diskutiert. Die Meldung wurde in den Medien so dargestellt, als wäre künftig pro Jahr mit rund drei Millionen arbeitswilligen Einwanderern aus der UdSSR zu rechnen (7). Unklar ist, ob diese Aussage wirklich auf Schtscherbakow zurückging oder freie Interpretation war. Die Moskauer Zeitung "Rabotschaja Tribuna" sagte zur gleichen Zeit 1,5 Millionen Emigranten jährlich voraus. (8)
Einige Monate später sprach der sowjetische Parlamentspräsident Laptew davon, daß nach Inkrafttreten des neuen Reisegesetzes fünf bis sechs Millionen Menschen auswandern wollten. Das wurde noch bei weitem überboten von sowjetischen Arbeitspolitikern, die gegenüber finnischen Kollegen die Zahl von 20 Millionen potentiellen Emigranten genannt haben sollen. (9) Aber selbst das war noch steigerungsfähig: "Schätzungen von Fachleuten" eskalierten bis zur Rekordsumme von 40 Millionen Osteuropäern, die "in den nächsten drei Jahren" nach Westen abwandern könnten. (10)
Es scheint, als hätten einige sowjetische Funktionäre mit solchen fragwürdigen Zahlen Politik zu machen versucht. Die Botschaft an den Westen war eindeutig: gebt unserer Reformpolitik mehr Unterstützung, auch und vor allem auf finanziellem und technologischem Gebiet; helft uns, einen Zusammenbruch der Wirtschaft, der Gesellschaft und des Staates zu verhindern; drängt uns nicht zu einer "Schocktherapie", sondern laßt uns Zeit für eine möglichst sozialverträgliche Reformpolitik der kleinen Schritte. Im Klartext gesprochen: "Es wäre recht unklug, die Leute dazu zu zwingen, zum Kapital zu kommen. Es ist besser, den Leuten dort, wo sie sind, Kapital zu bringen." (11)
Neben der Hypothese einer breiten und langfristigen Arbeitsmigration malten Medien und Politiker im Winter 1990/91 auch Szenarien einer überstürzten Massenflucht im Fall eines schnellen Zusammenbruchs der UdSSR aus. Schäuble, damals Innenminister, stellte sich allen Eventualitäten: Vorübergehend müsse man die Millionenmassen dann wohl in Lagern unterbringen, jedoch: "Wir können sie aber nicht in Europa aufnehmen, wir werden sie vielmehr wieder zurückschicken müssen." (12) Bis dahin sollten die Flüchtlinge erst einmal gleichmäßig auf alle europäischen Länder verteilt werden. (13) Der bayerische Sozialminister Glück forderte bereits "Eventualpläne" für die plötzliche Unterbringung von Zehntausenden SU-Flüchtlingen. Das wurde von der Bundesregierung abgewehrt mit der Zusicherung, man würde notfalls "binnen kurzem" imstande sein, Zeltlager und andere Notunterkünfte einzurichten. (14)
In Polen wurde kalkuliert, daß im Fall einer politischen Explosion in der UdSSR etwa 70.-90.000 der im Land befindlichen sowjetischen Besucher um Asyl bitten würden. Schon 50.000 Flüchtlinge würden aber "den Zusammenbruch unserer Wirtschaft bedeuten". (15) Daher begann man auch dort über eine schärfere Bewachung der Grenzen und über Einreisebeschränkungen zu sprechen. Ähnlich argumentierten Politiker in Ungarn, wo man eine "Flüchtlingsflut" aus der UdSSR von bis zu einer Million Menschen - wohlgemerkt: allein nach Ungarn! - für möglich erklärte. Das würde dann, so hieß es, in Ungarn nicht nur die Versorgung, sondern "das Leben schlechthin" lahmlegen. (16) Auch aus anderen Grenzstaaten der Sowjetunion wie Finnland und Tschechoslowakei wurden dramatische Prognosen und Abschottungsmaßnahmen gegen eine unmittelbar bevorstehende Masseninvasion gemeldet. Beispielsweise hieß es, die CSFR habe ihre Grenztruppen im Osten um 200 Prozent verstärkt. (17)
Wer kann überhaupt auswandern?
Wir sehen heute, daß der Weltuntergang nicht stattgefunden hat. Nachdem 1991 das Thema "Die Russen kommen" noch ein paar mal von den Medien wiederholt wurde, war es 1992 kaum noch Gegenstand von Spekulationen. Das tatsächliche Inkrafttreten des Reisegesetzes in Rußland Anfang 1993 löste keine Kommentare mehr aus, fand überhaupt nur geringe Beachtung.
Der Zusammenbruch der UdSSR und die Entwicklung von internen Kriegen in mehreren Regionen der Union haben bis jetzt nicht zu einer Massenflucht ins Ausland geführt. Es gibt nur eine einzige Ausnahme, nämlich in den letzten Monaten 1992 und bis heute anhaltend die Flucht tadschikischer Muslime nach Afghanistan, bis zum Jahresende nach Schätzungen des Roten Kreuzes bis zu 100.000 Menschen. Im ersten Jahr nach Ankündigung der "neuen Völkerwanderung", 1991, stellten nur 5.690 Menschen aus der UdSSR einen Antrag auf Asyl in der BRD, also nicht einmal 2,5 Prozent aller Asylsuchenden. Eine genauere Aufschlüsselung würde vermutlich ergeben, daß diese Antragsteller überwiegend oder vielleicht sogar fast ausschließlich Menschen jüdischer Abstammung sind. Aufschlußreich ist auch, daß die Zahl der Auswanderer aus der UdSSR im ersten Halbjahr 1991 nicht etwa anstieg, sondern rückläufig war - im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres immerhin um 9 Prozent. (18) Der Rückgang resultiert vermutlich im Wesentlichen daraus, daß aufgrund des Golfkriegs die jüdische Emigration nach Israel deutlich nachließ.
Denn Juden und Deutsche machen in Wirklichkeit nach wie vor den Hauptteil aller Auswanderer aus dem GUS-Gebiet aus - zusammen über 75 Prozent (1990), gefolgt von Armeniern als drittgrößter Gruppe. Aufschlußreich sind auch folgende Gesamtzahlen: In der Zeit seit 1950 wanderten rund 12 Millionen Menschen aus Osteuropa Richtung Westen. Davon ließen sich 8 Mio. in der BRD nieder (zweifellos fast ausschließlich Deutsche im juristischen Sinn) und 700.000 in Israel. Gleichfalls 700.000 Menschen emigrierten in die Türkei (Türken und andere Muslime aus Bulgarien) sowie 400.000 in die USA. (19) Mehrheitlich sind also Menschen ausgewandert, die insofern "privilegiert" waren, daß sie im Ausland auf Hilfe von Landsleuten und Glaubensgenossen rechnen konnten, also bei ihrer Entscheidung für die Emigration nur mit einem begrenzten Risiko rechnen mußten. Juden und Deutsche verfügen über "Heimatländer", in die sie völlig freizügig (Israel) oder doch wenigstens relativ problemlos (BRD) auswandern können. Eine ähnliche Funktion haben die armenischen Exilgesellschaften in den USA und Frankreich für diese Volksgruppe; doch bleibt das Problem staatlicher Einwanderungsbeschränkungen.
Bürgerliche Wissenschaftler argumentieren, daß die im Gebiet der ehem. UdSSR weitverbreitete Resignation, Apathie, mangelndes Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten, Beharren im Bestehenden, sich im allgemeinen auch dämpfend auf die Neigung zur Auswanderung auswirken. Das klingt zumindest plausibel. Es kommt jedoch als wohl noch stärkerer Faktor hinzu, daß die Möglichkeiten für Russen, Ukrainer usw., in westliche Länder zu emigrieren, extrem schlecht sind, weil diese sich fast total abgeschottet haben.
Flüchtlinge und Migranten in der Ex-SU
Wie schon erwähnt, haben die Kriegssituationen in Teilen der ehem. UdSSR im allgemeinen nicht zu Fluchtbewegungen ins Ausland geführt. Die Gesamtzahl der Betroffenen ist schwer zu schätzen; offizielle Statistiken darüber gab es bis in allerjüngste Zeit noch nicht. Ebenso gibt es auch noch keine staatlich regulierte Flüchtlingspolitik. Im Allgemeinen wird die Zahl der Binnenflüchtlinge im Bereich der ehem. Sowjetunion mit etwa einer Million oder auch mit bis zu anderthalb Millionen angegeben. Das dürfte jedoch erheblich zu niedrig angesetzt sein, da viele Flüchtlinge bei Verwandten und Freunden unterkommen, ohne je in den Sichtbereich staatlicher Stellen zu geraten. Selbst eine bessere Statistik als die sowjetische könnte sie nicht vollständig erfassen.
Als Binnenflüchtlinge waren diese Menschen bisher auch für die UNO kein Thema, da diese sich primär mit grenzüberschreitenden Bewegungen befaßt. Zweifellos hätte Moskau eine solche "Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten" auch heftig zurückgewiesen. Nach der Auflösung der Sowjetunion sieht die Rechtslage nun anders aus. Das zuständige Gremium der UNO, das UNHCR, hat im November letzten Jahres erstmals ein Hilfsprogramm für Flüchtlinge im ehem. sowjetischen Bereich eingeleitet, und zwar für Armenier und Aserbaidschaner. (Zusammengenommen sind allein aus diesen beiden Völkern über 500.000 Vertriebene registriert.)
Neben den Flüchtlingen (und in Grenzfällen von diesen nicht mehr exakt zu unterscheiden) sind die Menschen zu sehen, die aufgrund der nationalen Gegensätze ihre bisherigen Wohnorte verlassen, weil sie dort angefeindet und diskriminiert werden, oder vielleicht auch nur, weil sie den Verlust ihres privilegierten Status nicht ertragen und andererseits in ihrer "Heimat" bessere Berufschancen haben. Ganz überwiegend handelt es sich bei diesen Umsiedlern um Russen. Es wird die Zahl von 800.000 Menschen genannt, die in den letzten Jahren aus anderen Republiken in ihre "russische Heimat" übersiedelten. (20) Nach sowjetischen Angaben ergab sich allein für das Jahr 1990 für Rußland eine Netto-Zuwanderung von 164.000 und für die Ukraine von knapp 80.000, während der Wanderungssaldo der übrigen Republiken negativ war. Herausragend war die Netto-Auswanderung aus Usbekistan (minus 180.000) und Kasachstan (minus 131.000) wie auch aus Tadschikistan und Kyrgistan (zusammen etwa minus 100.000). Auffallend ist auch, daß schon 1990 aus den drei baltischen Staaten mehr Menschen auswanderten als umgekehrt; im Jahresdurchschnitt 1979-88 waren sie noch Zuwanderungsgebiete gewesen.
Demnach ist zu schätzen, daß es, abgesehen von kriegsverursachten Flüchtlingen, im Gebiet der ehem. UdSSR eine Binnenwanderung von mindestens 500.000 Menschen im Jahr - inzwischen wahrscheinlich schon erheblich mehr - zwischen den Republiken gibt. Neben den erwähnten Nationalproblemen spielt dabei sicher auch die besonders hohe Arbeitslosigkeit in bestimmten Regionen - besonders in den zentralasiatischen Republiken - eine entscheidende Rolle. Man kann sogar schlußfolgern, daß die wirtschaftlichen Faktoren die ausschlaggebenden sind. So ist insbesondere aus den baltischen Republiken die russische Abwanderung immer noch relativ gering, obwohl die nationale Diskriminierung dort so extrem ist, daß sich schon internationale Gremien eingeschaltet haben. Im allgemeinen gilt wohl, daß die Sowjetmenschen ihr Umfeld nicht so leicht aufgeben, sofern nicht die wirtschaftliche Situation aussichtslos oder der nationalistische Terror anderer Volksgruppen gegen sie völlig unerträglich wird. Offenbar gibt es im Bereich der ehem. UdSSR bisher keine primär chauvinistisch inspirierten "Heim ins Reich"-Bewegungen.
Damit soll nicht heruntergespielt werden, daß hier große Migrationspotentiale liegen könnten, vor allem bei weiterer Zuspitzung der nationalen Konflikte und Verschlechterung der ökonomischen Verhältnisse. Durch die Auflösung der UdSSR leben nun 72 Millionen Sowjetbürger "im Ausland", das heißt in einer Republik, die nicht mit ihrer Nationalität übereinstimmt. 25 Mio. von ihnen sind Russen und 7 Mio. Ukrainer. (21) Selbst wenn es hier zu größeren Wanderungs- und Fluchtbewegungen käme, würden diese aber den Westen kaum tangieren. Russen würden Rußland als neue Heimat "vorziehen", Ukrainer die Ukraine usw. Nicht primär aus Sentimentalität und Patriotismus, sondern aus hundert praktischen Gründen - zum Beispiel das Sprachproblem, zum Beispiel Verwandte und Bekannte, von denen man unterstützt werden kann. Aber nicht zuletzt auch deshalb, weil vermutlich Rußland der einzige Staat der Welt wäre, der Russen relativ großzügig aufnehmen würde, während sie sonst praktisch überall vor verschlossenen Türen stünden.
51 Millionen Auswanderungswillige
Abgesehen von den erwähnten objektiven Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Nationalproblemen stützte sich die Hypothese der "neuen Völkerwanderung" auch auf subjektive Willensbekundungen in Gestalt von Umfrageergebnissen. So wurde schon im November 1990 von einer Umfrage berichtet, die das Münchner SINUS-Institut in Zusammenarbeit mit einer ähnlichen sowjetischen Einrichtung unternommen hatte. Demnach hätten 24 Prozent der Sowjetbürger Lust, "gern und für längere Zeit" in Deutschland zu arbeiten und zu leben. Das entspräche hochgerechnet rund 51 Millionen Menschen. Besonders groß sei das Interesse bei Jugendlichen unter 20 Jahren gewesen, von denen 44 Prozent den Wunsch nach einem Arbeitsaufenthalt in der BRD bekundeten. (22)
Daß es jedoch ganz stark auf die Untersuchungsmethoden und die Fragestellungen ankommt, zeigen völlig andere Ergebnisse vom Frühjahr 1991. Die Frage war, ob man auswandern wolle. Darauf antworteten mit "Auf jeden Fall" oder "Vielleicht" im Großraum Moskau 10 Prozent; in Polen gaben diese Antworten 6 Prozent; in der CSFR 17 Prozent; in Ungarn 4 Prozent. Der Anteil der scheinbar fest Entschlossenen war in der CSFR am höchsten, lag aber auch dort nur bei 4 Prozent. (23) Eine von der EG bestellte Umfrage in zehn Ländern Mittel- und Osteuropas kam im Oktober 1991 zum Ergebnis, daß 2,5 Millionen Menschen "bestimmt" nach Westen auswandern wollten, sowie weitere 10,5 Mio. "wahrscheinlich". (24)
Schließlich sei noch eine Umfrage vom Frühjahr 1991 erwähnt, die unter Sowjetbürgern stattfand. Demnach äußerten nur 56 Prozent überhaupt den Wunsch, ins Ausland zu reisen, während immerhin 33 Prozent dies völlig verneinten. Von den prinzipiell Reise-Interessierten gaben als Motiv lediglich 15 Prozent den Wunsch nach zeitweiser Arbeit im Ausland an. Nur 8 Prozent der Interessierten (also nicht viel mehr als 4 Prozent der Gesamtbevölkerung) würden sich gern ständig im Ausland aufhalten.
Die Untersuchung ergab ferner, was alles nicht überraschend, sondern völlig erwartungsgemäß ist: Der Wunsch nach Emigration ist bei Männern höher als bei Frauen, bei besser Ausgebildeten höher als bei relativ Unqualifizierten, bei Jüngeren stärker als bei Älteren, und bei besser Verdienenden verbreiteter als bei den Armen. Weit überproportional vertreten sind Angehörige der technischen Intelligenz unter 30 Jahren mit guten Sprachkenntnissen.
Man kann schlußfolgern, daß die Phantasiezahlen sich stark reduzieren, sobald die Fragen seriös gestellt und behandelt werden. Wer relativ vage nach allgemeinen Wunschvorstellungen fragt, erhält natürlich eine hohe Quote. Vergleichbar hierzulande etwa der Fragestellung: "Würden Sie gern einen Haupttreffer im Lotto machen und Ihrem Chef die Brocken vor die Füße werfen?" - Aus dem Ergebnis zu schlußfolgern, daß alle diejenigen, die darauf mit Ja antworten, vielleicht morgen kündigen wollen, wäre selbstverständlich absurd.
Präziser eingegrenzt scheint sich die Gruppe potentieller Emigranten aus der ehem. UdSSR auf den qualifizierten Kern derjenigen zu reduzieren, die sich dafür vergleichsweise die besten Chancen erhoffen können. Wie hoch ihre Zahl letztlich sein wird, hängt weitestgehend von den legalen Einwanderungsmöglichkeiten und Arbeitsaussichten ab, die ihnen die westlichen Länder anbieten. Von dieser Seite eine "wilde" Massenzuwanderung zu erwarten, wäre völlig unrealistisch. In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, daß schon seit vielen Jahren etliche Millionen Sowjetbürger einen Auslandspaß hatten, ohne daß dies zu einer Massenemigration geführt hätte. Auch unter diesem Aspekt waren die Spekulationen, die 1990/91 an das Inkrafttreten des neuen Reisegesetzes geknüpft wurden, total absurd und nur propagandistisch motiviert.
Deutsche Krisenlösung
Es zeigt sich heute, daß die "Völkerwanderung" aus der UdSSR/GUS nicht stattgefunden hat. Auch die Zuwanderung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn ist minimal - was auch logisch ist, da deren Bürger seit dem Ende des Sozialismus kein Niederlassungsrecht mehr haben und auch als Asylsuchende keine Chance hätten. So betrachtet kann man feststellen, daß nicht nur die "Völkerwanderung" ausgeblieben ist, sondern daß heute tatsächlich weniger Osteuropäer in die BRD einwandern als noch in den frühen achtziger Jahren.
Dieses reale Resultat wird allerdings durch zwei Sonderentwicklungen verzerrt, die mit den allgemeinen Faktoren der Ost-West-Migration eigentlich wenig zu tun haben. Die eine ist der Bürgerkrieg in Jugoslawien, der dazu geführt hat, daß sich etwa 250.000 Flüchtlinge in der BRD aufhalten. Sie blähen die aktuelle Statistik der Asylsuchenden aus Osteuropa künstlich auf, obwohl sie eigentlich nicht in diese Kategorie gehören und zumeist auch keineswegs einen ständigen Aufenthalt in der BRD anstreben. Zu einem großen Teil sind sie bei anderen Jugoslawen untergebracht, werden weitgehend versorgt und verursachen dem deutschen Staat relativ wenig Kosten, während die Bundesregierung sich als größter Gönner der ganzen Welt aufspielt.
Ein zweiter Spezialfall, der für die osteuropäische Emigrationsneigung insgesamt nicht typisch ist, spiegelt sich in den relativ hohen Zuwanderungszahlen aus Rumänien und Bulgarien. So wurden 1992 von den knapp 440.000 Asylanträgen ("neuer Rekord") 123.000 von jugoslawischen Flüchtlingen, 104.000 von Rumänen und 31.500 von Bulgaren gestellt, zusammen also mehr als die Hälfte aller Anträge. Unter den Asylsuchenden aus Rumänien und Bulgarien überwiegen nach eigenen Bekundungen bei weitem Roma und Sinti. Also eine Volksgruppe, die traditionell erheblich mobiler ist als der Bevölkerungsdurchschnitt, und auch noch ärmer als dieser, die also besonders wenig zu verlieren hat, wenn sie sich auf die Risiken der Emigration einläßt. Das hat aber alles mit den allgemeinen Problemen, die durch den Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus entstanden sind, wie De-Industrialisierung, Massenarbeitslosigkeit, nur wenig zu tun.
Indessen hat das unrealistische Schlagwort von der "neuen Völkerwanderung aus dem Osten" schon weitgehend seine Funktion erfüllt. Nicht nur schottet die BRD selbst sich immer dichter ab, sondern sie zwingt diese Politik und deren Konsequenzen auch ihren östlichen Nachbarn auf, ob diese nun selbst wollen oder nicht. Polen beispielsweise hatte versucht, eine relativ liberale Einreisepolitik zu praktizieren (Verzicht auf Visumzwang), muß sich aber mehr und mehr dem deutschen Stil anpassen.
Äußerst negativ droht sich die deutsche Abschottungspolitik auf die künftige Zusammenarbeit der Tschechischen und der Slowakischen Republik auszuwirken: Ursprünglich hatten sie beabsichtigt, die Grenze zwischen ihren nun selbständigen Staaten möglichst offen zu handhaben. Statt dessen wird nun der tschechische Staat, der als einziger der beiden eine Grenze zur BRD hat, sich gegenüber der Slowakei stärker abschotten müssen, um nicht zur Sackgasse für illegale Einwanderer zu werden. Die Slowakei wiederum wird ihren Druck auf Ungarn verschärfen, einem Rücknahmeabkommen zuzustimmen, was den ohnehin nicht guten Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten noch mehr schaden wird. Ungarn wiederum ist in einer besonders schlechten Position, weil es Transitland für viele Flüchtlinge ist, die nun nicht mehr weiterkommen. Andererseits ist Ungarn im Gegensatz beispielsweise zu Polen aber wirtschaftlich nicht so völlig unattraktiv, daß kaum ein Flüchtling dort bleiben wird. So bekommt das kleine Land nun als späten deutschen Dank für seine Rolle bei der "Maueröffnung" 1989 noch ein, gemessen an seinen Möglichkeiten, riesiges Flüchtlingsproblem beschert.
Die deutsche Strategie, unerwünschte Zuwanderung auf Kosten seiner ehemals sozialistischen Nachbarstaaten einzudämmen, vermehrt selbstverständlich deren wirtschaftliche und soziale Schwierigkeiten. Was hingegen als finanzielle Entschädigung, Ausbildungshilfe oder Polizeigerät angeboten wird, steht in keinem diskutablen Verhältnis zu diesen Schädigungen. Warum für diese krisengeschüttelten Staaten erträglich sein soll, was angeblich die Möglichkeiten der viel besser gestellten BRD sprengt, wird sicher niemand plausibel erklären können. Das bedeutet: die BRD nimmt, um ihre rassistische Abschottungspraxis durchsetzen zu können, eine weitere Schwächung ihrer osteuropäischen Nachbarn, eine Vertiefung der dortigen Krisensituationen, außerdem auch eine Verschärfung der Probleme zwischen diesen Staaten, zumindest billigend in Kauf. Der Sachverhalt ist so offensichtlich, daß man schon fragen muß, ob all das wirklich nur ein (unerwünschter) Nebeneffekt ist, oder ob es nicht zu den Zwecken Bonner Politik gehört. So oder so wird das deutsche System der Krisenlösung vermutlich in absehbarer Zeit zu heftigen Konflikten mit den betroffenen Nachbarstaaten führen. So total abhängig von der BRD können sie gar nicht sein, daß sie wirklich alles mit sich machen lassen.
Knut Mellenthin
analyse & kritik, 13. Januar 1993
Anmerkungen
1) Frankf. Allgemeine (FAZ), 29.12.92
2) Süddeutsche Zeitung (SZ), 17.12.92
3) Neues Deutschland (ND), 9.4.91
4) Bild am Sonntag (BamS), 2.12.90
5) Spiegel, 10.12.90
6) Bild, 17.12.90
7) Hamb. Abendblatt (HA), 16.6.90
8) FAZ, 23.6.90
9) Frankf. Rundschau (FR), 24.10.90
10) ND, 6.12.90. Leider ohne Nennung der "Fachleute", auf die sich diese Zahl stützte. Aus dem Zusammenhang der Meldung ließ sich auf den jugoslawischen "Experten" Vladimir Grecic schließen.
11) So der sowjetische Botschafter bei der EG, Schemiatenkow; zitiert nach SZ, 6.12.90)
12) Interview mit der BamS; zitiert nach SZ, 24.12.90
13) Interview im Fernsehen; zit. nach HA, 29.12.90
14) FAZ, 29.12.90
15) "Gazeta Wyborcza"; zit. nach Taz, 4.1.91
16) SZ, 10.12.90
17) SZ, 15.12.90
18) SZ, 21.6.91
19) Angaben des Wiener Demographen Rainer Münz im Gespräch mit der taz, 12.8.92
20) SZ, 2.12.92
21) Rafael Biermann in der Beilage zum "Parlament", 21.2.92.
22) FR, 17.11.90
23) TAZ, 25.5.91
24) SZ, 30.1.92