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Dekorateure des Untergangs

Als "Dekorateure des Untergangs" bezeichnete Karl Kraus die Journalisten, insbesondere die Kriegsberichterstatter während des Ersten Weltkriegs. In ähnlicher Funktion betätigen sich heute linke Soziologen, die sich angesichts der dauerhaften Massenarbeitslosigkeit offensichtlich am Ziel ihrer Träume wähnen.

Einer von ihnen ist Ulrich Beck, Soziologieprofessor in München. Seine Liebe zum Wort "Selbstorganisation" outet ihn auf den allerersten Blick als einen aus der Traditionslinie des linkssozialdemokratischen SB (Sozialistisches Büro) Kommenden. Im SPIEGEL vom 13. Mai behauptet der Professor zwar ziemlich töricht und sehr plakativ: "Der Kapitalismus schafft die Arbeit ab", gibt aber ansonsten eine im wesentlichen zutreffende Beschreibung der Entwicklung: "Das Volumen der Erwerbsarbeit schwindet rapide. (...) Immer weniger gut ausgebildete, global austauschbare Menschen können immer mehr Leistungen und Dienste erbringen. Wirtschaftswachstum setzt also nicht mehr den Abbau von Arbeitslosigkeit in Gang, sondern genau umgekehrt den Abbau von Arbeitsplätzen voraus. (...) Der Nur-noch-Eigentümer-Kapitalismus, der auf nichts als Gewinn zielt und die Beschäftigten, den (Sozial-) Staat und die Demokratie ausgrenzt, hebt seine eigene Legitimität auf. Während die Gewinnspannen global agierender Unternehmen wachsen, entziehen diese den teuren Staaten beides: Arbeitsplätze und Steuerleistungen, und bürden die Kosten der Arbeitslosigkeit und der entfalteten Zivilisation den anderen auf. (...) Wenn der globale Kapitalismus in den hochentwickelten Ländern den Wertekern der Arbeitsgesellschaft auflöst, zerbricht ein historisches Bündnis zwischen Kapitalismus, Sozialstaat und Demokratie."

Daraus schlußfolgert der Autor, daß "die Welt der auf Erwerbsarbeit zentrierten Gesellschaft untergeht", was er eigentlich sehr gut findet, weil damit eine "Zukunft der Demokratie jenseits der Arbeitsgesellschaft" eröffnet werde. Tatsächlich geschieht aber genau das Gegenteil: Daß der Kapitalismus offenbar immer weniger Arbeit benötigt und Jobs zur Mangelware werden läßt, führt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit dazu, daß die Fixierung der Menschen auf die Erwerbsarbeit, nämlich der Wettbewerb um die "Arbeitsplätze", zunimmt. Denn ohne Job kein ausreichendes Einkommen, außer man hat reich geerbt und/oder kann andere für sich arbeiten lassen.

Soziologieprofessoren, die weder Arbeitslosigkeit noch Altersarmut befürchten müssen und vermutlich längst eine Eigentumswohnung oder ein Haus besitzen, neigen offenbar dazu, die im Kapitalismus wirkenden Antriebskräfte zur Erwerbsarbeit für einen mentalen Defekt der Lohnabhängigen zu halten. Zweifellos wird Erwerbsarbeit im herrschenden System ideologisch überhöht, aber letzten Endes geht es darum, daß für die übergroße Mehrheit der Menschen die einzige Alternative zur Erwerbsarbeit in Verelendung besteht. Wenn Langzeitarbeitslose in Depressionen verfallen, dann nicht primär deshalb, weil sie sich idiotischerweise ohne Erwerbsarbeit "nutzlos" fühlen, sondern weil ihre Zukunftsaussichten und oft auch schon ihre Lebensumstände tatsächlich miserabel sind.

Nach Ansicht von Professor Beck sollte der Massenarbeitslosigkeit dadurch begegnet werden, daß der Zentrierung auf die Erwerbsarbeit "ein neues Aktivitäts- und Identitätszentrum" gegenübergestellt wird. "Öffentliche Arbeit" statt Erwerbsarbeit. Als Beispiele nennt der Autor: "Arbeit mit Alten und Behinderten, Obdachlosen und Aids-Kranken, Analphabeten und Ausgeschlossenen, Frauenhäusern, Greenpeace, Amnesty International usw.".

Auf diese Weise würde, meint Professor Beck, "das Monopol gebrochen, das sinnvolle, anerkannte, öffentliche Tätigkeit mit Erwerbsarbeit gleichsetzt. Der Arbeitsmarkt würde entlastet, Arbeitslosigkeit also abgebaut."

Um das wirklich zu erreichen, müßten die von Beck beispielhaft genannten sozialen Tätigkeiten natürlich auch "irgendwie" honoriert werden; anderenfalls würden sie für Arbeitslose lediglich eine unbezahlte Beschäftigung darstellen, die sie vielleicht mental aufmuntert, aber ihnen finanziell absolut nicht weiterhilft.

Was Beck dafür vorschlägt, ist nicht besonders konkret: "Aktive Bürger, die sich für das Allgemeinwohl engagieren", sollen eine "steuerfinanzierte Grundsicherung" erhalten. Wie hoch diese, in Geld ausgedrückt, sein soll, sagt der Professor nicht. Wahrscheinlich ist er einfach nicht mehr daran gewöhnt, diesen Punkt als einen für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger ganz entscheidenden zu erkennen. Die meisten "Grundsicherungsmodelle", die heute gehandelt werden, bewegen sich zwischen dem Sozialhilfesatz und einem sehr niedrigen Lohn.

Schon daraus ergibt sich, daß die Annahme Becks, seine "in freiwilligen Selbstorganisationen" Tätigen wären dem Arbeitsmarkt entzogen, falsch ist. Kaum jemand wird Lust haben, schon mit Blick auf seine Absicherung für das Alter oder für Notfälle, den Rest seines Arbeitslebens auf die "Grundsicherung" festgenagelt zu bleiben. Auf diese Weise würde zwar die Arbeitslosenstatistik frisiert - so wie jetzt schon durch ABM-Maßnahmen u.ä. -, aber das Problem der Massenarbeitslosigkeit würde keineswegs geringer.

Das Gegenteil wäre, wenn Becks Modell konsequent praktiziert werden könnte, der Fall: Seine "Selbstorganisierten" würden zahlreiche Aufgaben übernehmen, die traditionell in den Bereich der öffentlichen Dienstleistungen gehören oder für die es künftig kleine, oft genossenschaftlich organisierte private Anbieter geben wird. Becks "öffentliche Arbeit" würde das Lohnniveau im öffentlichen Dienst ruinieren, Massenentlassungen vorprogrammieren und die privaten Anbieter - oftmals selbst frühere Arbeitslose, die sich gerade "selbständig" zu machen versuchen - vom Markt konkurrieren. Beck Hinweis, daß sich 80 Millionen US-Amerikaner wöchentlich mindestens fünf Stunden für freiwillige Hilfsleistungen und wohltätige Zwecke engagieren, verweist deutlich auf den zentralen Schwachpunkt: Genau dieses freiwillige Engagement benötigt ein Staat, um sich immer mehr "auf das Nötigste" beschränken zu können: Bullen und Knäste.

So schlimm würde es allerdings gar nicht kommen, weil Becks Modell einen grundsätzlichen Denkfehler enthält: Es wäre unmöglich, sich darauf zu verständigen, welche Tätigkeiten und welcher Arbeitsaufwand den Anspruch auf die "Grundsicherung" begründen sollen. Leistet ein Arbeitsloser, der regelmäßig mit seinen Kumpeln "einen trinken" geht, in diesem Sinn eine selbstorganisierte öffentliche Tätigkeit ("Selbsthilfegruppe"), die finanziell honoriert werden muß? Oder: Wieviel Wochenstunden muß ein Sozialhilfeempfänger sich um alte Menschen kümmern, damit er die "Grundsicherung" beanspruchen kann? Und schließlich: Welch irrsinniger Aufwand wäre nötig, um das alles zu überprüfen, und zu was für absolut menschenunwürdigenden Zuständen würde das dafür nötige Kontrollsystem führen! Andererseits wäre es absurd, eine vom Staat genau reglementierte und überwachte Tätigkeit als Alternative zur Erwerbsarbeit zu begreifen.

Also: Es kann vernünftigerweise keine definitiven Kriterien für die Eingrenzung des Begriff der "öffentlichen Arbeit" im Sinne Becks geben, und es kann erst recht kein perfektes Kontrollsystem geben. Das bedeutet letzten Endes, daß jeder Sozialhilfeempfänger oder Arbeitslose, der von sich behauptet, eine "öffentliche Arbeit" auszuüben, Anspruch auf die "Grundsicherung" hat. Also tatsächlich jeder, sofern er nur einigermaßen clever ist. Höchstens werden darauf diejenigen verzichten, die dümmer, schüchterner oder "anständiger" als andere sind. Im Endeffekt liefe es darauf hinaus, daß der Staat pauschalisiert jedem Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger eine "Grundsicherung" gewähren müßte, wobei es den Betreffenden selbst überlassen bliebe, ob und in welchem Umfang sie dafür eine "sozial nützliche" Tätigkeit ausüben möchten. Letzlich würde es sich dabei ja um freiwillige unbezahlte Arbeit handeln, denn die "Grundsicherung" wäre ohnehin fällig. Tatsächlich müßte man, beispielsweise, am Verstand eines vom Staat arbeitslos gemachten Lehrers oder Sozialarbeiters zweifeln, der für erheblich weniger Geld als bisher seinen alten Job weitermacht.

Knut Mellenthin

analyse & kritik, 1. Juni 1996