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20 Jahre "Ausländerstopp"
Der faschistische Terror gegen in der BRD lebende Ausländern hat in den letzten zwei Jahren ein Ausmaß und eine Brutalität angenommen, die alle gleichlaufenden Vorgänge in anderen Industriestaaten bei weitem übertreffen. Diese neue Qualität verdeckt gelegentlich den Blick auf die Tatsache, daß die von Staats wegen betriebene rassistische Ausländerstopp-Politik eine viel längere Tradition hat und keineswegs - wie gelegentlich interpretiert wird - erst ein Produkt der "Wiedervereinigung" und des "Vierten Reichs" ist.
Am Asylrecht beispielsweise wird schon seit Ende der siebziger Jahre herumgeschnitten. Die derzeitige "Asylantenflut"-Kampagne ist die dritte, nach 1980-82 und 1985-86. Bereits Anfang 1981 behauptete der damalige Ausländerbeauftragte des Bundes, Kühn (SPD): "Die Möglichkeiten der BRD, weitere Ausländer aufzunehmen, sind jetzt erschöpft." Und in der ersten Regierungserklärung Kohls, Oktober 1982, hieß es: "Integration ist nur möglich, wenn die Zahl der bei uns lebenden Ausländer nicht weiter steigt."
Schon im September 1980 war der "Spiegel" mit einem Titelbild erschienen, auf dem die gesprühte Parole "Ausländer raus!" zu sehen war (Nr. 38/80). Die Titelgeschichte begann mit den Sätzen: "Tödliche Gewalt und gefährliche Stimmungsmache begleiten eine neue Welle von Ausländerfeindlichkeit. Über vier Millionen Fremde in der Bundesrepublik und der Ansturm der Asylbewerber drohen das politische Klima umzukippen: Angstreaktion, Nazi-Reflexe."
Woher nach Ansicht des Hauses die "Probleme" stammten, hatte der "Spiegel" schon vorher kundgetan und wohlwollend die Gegenrezepte mitgeteilt: "Aufgeschreckt durch die Ausländer-Schwemme, will Bonn das Asylrecht ändern. Um die Immigranten, die aus wirtschaftlichen Motiven in die Bundesrepublik kommen, schneller abschieben zu können, soll der Rechtsweg verkürzt werden. Außerdem erhalten nach den Plänen der Regierung Asylbewerber keine Arbeitserlaubnis mehr." (Nr. 23/80) - "Der Mißbrauch durch Wirtschaftsflüchtlinge gefährdet den Bestand des Asylrechts. (...) Wird Westdeutschland überflutet von einer Fremdenwelle, müssen Massenlager her für die Asylanten oder gar Grenzrichter, die kurzen Prozeß machen? Der Mißbrauch der Asylbestimmungen heizt die Überfremdungsdebatte an und bedroht eine Verfassungsgarantie, die zum Besten der bundesdeutschen Rechtsordnung gehört." (Nr. 25/80) Der damalige Bundeskanzler Schmidt (SPD) wurde mit dem Satz zitiert: "An Artikel 16 müssen wir ran." (ebenda)
Die "Asylantenflut"-Hysterie von 1980 war unmittelbar dadurch ausgelöst worden, daß in jenem Jahr erstmals mehr als 100.000 Asylanträge gestellt wurden, während die Zahlen noch bis 1976 immer unter 10.000 jährlich gelegen hatten. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, daß der Bruch in der bundesdeutschen "Ausländerpolitik" schon 1972/73 stattfand. Damals wurde die 1955 begonnene massenhafte Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte beendet, und das Ziel war von nun an, die Zahl der Ausländer in der BRD auf dem erreichten Niveau zu stabilisieren, wenn nicht zu reduzieren. Das Ergebnis wurde erreicht, soweit es die Zahl der ArbeiterInnen angeht, denn diese liegt heute noch unter dem Höchststand von 1973. Das Ziel wurde jedoch verfehlt hinsichtlich der ausländischen Bevölkerung in der BRD: Ihre Zahl hat seit 1973 weiter zugenommen.
Parallele Trends zeigen sich auch in den meisten Staaten Westeuropas: Der ausländische Bevölkerungsteil ist in den letzten zwei Jahrzehnten erheblich gewachsen, aber die Zahl ausländischer Beschäftigter liegt zumeist auf dem Stand von Anfang der siebziger Jahre oder darunter. Dies legt nahe, daß die seit etwa 1973 einsetzende europaweite "Ausländerstopp"-Politik wesentlich bedingt oder zumindest beeinflußt ist durch die Dauer-Rezession, die sich damals entwickelte.
1955-73: Ausländer rein!
Deutschland war jahrhundertelang eines der Haupt-Auswanderungsländer, und diese Tendenz war noch in den zwanziger Jahren vorherrschend. Eine nur regionale und zeitweise Besonderheit war, hauptsächlich in den Jahrzehnten 1890-1910, die Anwerbung von einigen Hunderttausend Polen für den Bergbau und die Eisenverarbeitung im Ruhrgebiet. Um 1910 lag in mehreren Bezirken der Region der polnische Bevölkerungsanteil um die 10 Prozent, mit Spitzen in Recklinghausen und Herne (über 20 Prozent). Nach dem ersten Weltkrieg "verschwand" diese nationale Minderheit allmählich. Ein großer Teil der Ruhrgebiets-Polen wanderte schon in den ersten Jahren nach 1918 ab, teils nach Polen (wo es erstmals seit 150 Jahren wieder einen unabhängigen Nationalstaat gab), teils in die Industriegebiete Belgiens und Frankreichs. Das war vor allem durch die extrem schlechte Wirtschaftslage in Deutschland bedingt. Die, die blieben, wurden "assimiliert", "eingedeutscht", verloren den Charakter einer besonderen nationalen Gruppe.
Von diesem Sonderfall und kleineren Gruppen (z.B. Hugenotten seit Ende des 16. Jh., Juden aus Osteuropa im 19. und frühen 20. Jh.) abgesehen war Deutschland insgesamt kein Einwanderungsland gewesen. Das Bevölkerungswachstum hatte in Friedenszeiten gereicht, um der Nachfrage des Arbeitsmarkts zu entsprechen. Der Einsatz von ausländischen ZwangsarbeiterInnen bereits während des ersten und vor allem im Zweiten Weltkrieg (über 7,5 Millionen) war eine vorübergehende Maßnahme, die lediglich die Verluste des Arbeitsmarktes durch die Rekrutierung sowie durch Todesfälle und Invalidität ausglich.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich der Wiederaufstieg der (west-) deutschen Wirtschaft in einem Tempo und in einem Ausmaß, das eine bis dahin beispiellose Zuwanderung zuließ und erforderte. Allein im Zeitraum bis zur Abriegelung der DDR-Staatsgrenze in Berlin 1961 nahm die BRD etwa 15 Millionen Flüchtlinge und Übersiedler aus den "ehemaligen deutschen Ostgebieten" und aus der DDR auf. Zwischen 1962 und 1988 kamen aus der DDR noch einmal rund 550.000 (netto) hinzu, sowie einige weitere Hunderttausend Aussiedler aus Osteuropa (Polen, Rumänien, UdSSR).
Zusätzlich leitete die BRD durch das erste Anwerbeabkommen mit Italien 1955 den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte ein - zu einem Zeitpunkt, als die Nachkriegs-Arbeitslosigkeit noch nicht einmal vollständig abgebaut war. Tatsächlich entwickelte sich die Einwanderung zunächst nur schwach und gewann erst ab Anfang der sechziger Jahre an Schwung, nachdem Abkommen auch mit Griechenland und Spanien (1960), der Türkei (1961), Marokko und Tunesien sowie als letztes in der Reihe 1968 mit Jugoslawien abgeschlossen worden waren.
Der ausländische Anteil an der Gesamtzahl der Beschäftigten erhöhte sich zwischen 1955 und 1960 nur mäßig von 0,4 auf 1,3 Prozent, lag 1965 schon bei 5,5 Prozent und erreichte 1973 mit 11,5 Prozent das Maximum. (Zum Vergleich 1989: 7,8 Prozent)
Mitte der sechziger Jahre gab es den ersten Konjunktureinbruch in der Geschichte der BRD, der allerdings nur kurz und nicht sehr stark war. Immerhin reichte das, um in den Jahren 1966-68 einen Rückgang der Zahl ausländischer Arbeitskräfte in der BRD zu verursachen. 1967 verließen rund 200.000 mehr AusländerInnen die BRD als zuzogen. Jedoch stieg die Zuwanderung schnell wieder an und erreichte 1970 mit fast einer Million (gegen etwa 350.000 Wegzüge) eine Rekordhöhe. Inzwischen waren die Türken zur stärksten Einwanderergruppe geworden, und fast die Hälfte der neuen Zuwanderer war unter 21 Jahren alt. Es begann sich schon zu dieser Zeit zu zeigen, daß das ursprüngliche Konzept, "rotierende" WanderarbeiterInnen zu rekrutieren und bei rückläufigem Bedarf auch wieder nach Hause zu schicken, gescheitert war. Statt dessen war eine ansässige ausländische Bevölkerung im Entstehen, die ihre Kinder und andere Verwandte nachkommen ließ, in der BRD Familien bildete usw.
Die Wende von 1973
Im November 1973 ordnete die Bundesregierung einen totalen Stopp für die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte außerhalb der EG an. Um Ausreden nie verlegen stellte die Bundesregierung (SPD/FDP) im November 1973 den Anwerbestopp als unmittelbare Reaktion auf den "Ölboykott" dar, den die arabischen Regierungen nach dem Oktoberkrieg verkündet hatten. In Wirklichkeit ergriff die sozialliberale Koalition lediglich die Gelegenheit, um umzusetzen, was schon im Verlauf 1972 und erste Hälfte 1973 herangereift war. Diese Politik bestand in zweierlei:
1. Gegen den Widerstand der CDU/CSU stellten sich SPD und FDP 1972 darauf ein, daß ein erheblicher Teil der ImmigrantInnen beabsichtigte, sich länger oder dauernd in der BRD niederzulassen. Vorstöße der CDU/CSU, die "Rotation" mit ausländerrechtlichen Zwangsmitteln durchzusetzen, wurden zurückgewiesen. (Grundsätze der Bundesregierung zur Eingliederung ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien vom 20. April 1972)
2. Die Zahl der in der BRD lebenden Ausländer sollte, abgesehen von einem nicht allzu großzügigen Familiennachzug, etwa auf dem bestehenden Niveau stabilisiert werden. Zu diesem Zweck legte die Bundesregierung Anfang Juni 1973 im Bundestag ein Aktionsprogramm vor, das einen ersten Katalog "ausländerbegrenzender" Maßnahmen enthielt. Dazu gehörten:
Schärfere Richtlinien für die Unterkünfte ausländischer ArbeiterInnen, um den Kapitalisten durch erhöhte Kosten und Anforderungen die Anwerbung unattraktiver zu machen.
"Die Zulassung ausländischer Arbeitnehmer in überlasteten Siedlungsgebieten soll von der Aufnahmefähigkeit der sozialen Infrastruktur abhängig gemacht werden." Hierfür sollten "bundeseinheitliche Zulassungskriterien" ausgearbeitet werden.
Die Gebühren für die Vermittlung ausländischer ArbeiterInnen sollten "spürbar" erhöht werden - auch dies natürlich mit dem Ziel, die Beschäftigung teurer, also unattraktiver zu machen. Tatsächlich wurde diese Gebühr dann von 300 auf 1200 DM vervierfacht.
"Falls diese Maßnahmen nicht in dem gewünschten Maße zur Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung beitragen sollten, wäre an die Einführung einer besonderen Wirtschaftsabgabe für die Beschäftigung von Ausländern zu denken."
Gegen illegale Beschäftigungsverhältnisse sollte "wirksamer" und schärfer als bisher vorgegangen werden.
Die grundsätzliche Umorientierung, die mit dem Aktionsprogramm vom Juni 1973 eingeleitet werden sollte, ergibt sich aus dem Schlußsatz: "Aus sozialen, gesellschaftspolitischen und ökonomischen Erwägungen erscheint es sinnvoll, eine Entwicklung zu begünstigen, welche die Produktionsmittel zu den Arbeitskräften bringt, wodurch die einseitige Wanderung der Arbeitnehmer zu den Produktionsstätten allmählich abgeschwächt werden könnte."
Übrigens hatte der "Spiegel" sämtliche Punkte dieses "Ausländerstopp"-Programms schon zwei Monate vorher bekanntgegeben (Nr. 13/73). Eine Beschlußfassung der Bundesregierung war dringend geworden, weil vielfach Städte und Gemeinden schon dazu übergegangen waren, eigenmächtig "Zuzugssperren" für bestimmte Stadtteile oder den ganzen Ort zu verhängen. Mit der These, Ausländeranteile von 10 oder 15 Prozent in einem Stadtteil würden eine unerträgliche "Überfremdung" darstellen, wurden beispielsweise mehrere Bezirke Westberlins für ausländischen Zuzug total dichtgemacht.
In erster Linie ging es gegen den türkischen Bevölkerungsteil. Instruktiv für den Ton der damaligen Kampagne ist die Titelgeschichte des "Spiegel" Nr. 31/1973 (30. Juli). Die Überschrift lautete: "Die Türken kommen - rette sich, wer kann"; sie wurde auch dadurch nicht weniger faschistoid, daß man sie in Anführungszeichen gesetzt hatte. Da war beispielsweise zu lesen: "In immer größeren Schüben schwärmen sie von den Gestaden des Bosporus und aus dem Hochland von Anatolien ein." Vielleicht hatte der Autor dabei Goebbels Propagandafilm vor Augen, in dem die jüdische Migration mit Rattenzügen gleichgesetzt worden war. Und weiter: "Der Andrang vom Bosporus verschärft eine Krise, die in den von Ausländern überlaufenen Ballungszentren schon lange schwelt. Städte wie Berlin, München oder Frankfurt können die Invasion kaum noch bewältigen." Zwischenüberschriften des Artikels lauteten: "Ein Türke bleibt nicht lange allein"; "Fremdartiger Küchengeruch vertreibt die Deutschen"; "Wenn gestochen wird, ist häufig ein Türkei dabei".
Die meisten Hauptpunkte, rassistischen Klischees und Bilder heutiger Anti-Ausländer-Politik waren in der Kampagne von 1973 bereits enthalten. An Gründen für das damalige Vorgehen sind u.a. zu nennen:
Erstens: Das Scheitern des "Rotationsprinzips", d.h. des Versuchs, den Aufenthalt von ausländischen ArbeiterInnen in der BRD nur als vorübergehend, nicht als dauerhafte Einwanderung zu regulieren. Daraus resultierend die Politik, die bisherige Einwanderung als gegeben hinzunehmen und zu "integrieren", weiteren Zuzug jedoch möglichst gering zu halten.
Zweitens: Die ersten Anzeichen einer internationalen Rezession waren sichtbar, die sich dann als sehr langwierig erwies. Der Bedarf nach Import von Arbeitskraft wurde geringer.
Drittens: Insbesondere die Einwanderung von TürkInnen setzte anscheinend auch bei den Politikern die dümmsten rassistischen Emotionen und Reflexe frei, nach dem Motto: Der Deutsche gerät in Panik, wenn aus der Nachbarwohnung Knoblauchduft und orientalische Musik herüberdringen. Die TürkInnen seien großenteils "nicht integrierbar", hieß es damals. Sollte offenbar heißen: Ein Zusammenleben mit ihnen sei der deutschen Bevölkerung nicht zuzumuten, jedenfalls nicht "im Übermaß", das bei einem Anteil von 10 Prozent schon erreicht schien.
Viertens: Die kleine Wirtschaftskrise Mitte der sechziger Jahre hatte in Verbindung mit einer Reihe weiterer Faktoren kurzfristig zu teilweise sensationellen Wahlergebnissen für die NPD geführt. Als solche zusätzlichen Faktoren seien genannt: Die Bildung der Großen Koalition, die rechte Anhänger der CDU/CSU verstörte und der NPD zeitweise die Rolle der "einzigen Opposition" verschaffte. Außerdem: Der weitgehende Zusammenbruch der revanchistischen Ostpolitik, auf den die CDU/CSU keine einheitliche Antwort zu geben wußte und der ihren rechten Flügel zur Annäherung an NPD-Positionen brachte. Jedenfalls: Der kleine Boom der NPD führte dazu, daß sich CDU/CSU und SPD auf einigen von den Rechtsradikalen "besetzten" Feldern erheblich anstrengten, um ihre verlorenen Schäfchen wieder zur Herde zurückzuführen. Dazu gehörte selbstverständlich die "Ausländerpolitik".
Fünftens: Ein Faktor für die Wende von 1973 mag auch gewesen sein, daß genau in diesem Jahr türkische Arbeiter erstmals eine militante Avantgarderolle in einigen wilden Streiks spielten, vor allem bei Ford in Köln im August. Dort wurde der Streik schließlich durch Schlägerkommandos deutscher Arbeiter zerschlagen, die von der IG Metall und vom Betriebsrat organisiert worden waren. Der "Spiegel" kommentierte: "Je länger die Türken in Deutschland sind, desto heftiger spüren sie den Druck, zwischen zwei Nationalitäten zu stehen, in Wahrheit also staatenlos zu sein. Explosionen wie der Kölner Türkenstreik können sich bei geringen Anlässen wiederholen. (...) Daß etwas getan werden muß, weiß auch die Bundesregierung. Um die Ausländer-Invasion zu stoppen, erhöhte sie am 1. September, zwei Tage nach Streikende, die Vermittlungsgebühren (...)." (Nr. 37/1973)
Bleibt noch die Frage, was der Anwerbestopp im Sinne der "Begrenzer" gebracht hat. Tatsächlich halbierte sich zwischen 1973 und 1975 der Zuzug von AusländerInnen, was auch mit der konjunkturellen Abschwächung zusammenhing. Er stieg dann 1980 noch einmal an, sackte aber 1981-83 wieder ab. Inzwischen hatte eine zweite Welle "ausländerbegrenzender" Regierungspolitik eingesetzt, schon eingeleitet durch die Regierung Schmidt (SPD) und nach deren Sturz im Herbst 1982 von der CDU/CSU verschärft fortgesetzt. Einige Wirkung hatte das "Rückkehrförderungsgesetz" von 1983, das mit Prämien usw. köderte, aber im wesentlichen auf 1984 befristet war. Zugleich erreichte der Zuzug 1984 den tiefsten Punkt seit Ende der fünfziger Jahre. Jedoch schon seit 1985 liegen die Einwanderungszahlen von Ausländern wieder erheblich über denen der Wegziehenden.
Die erste "Asylantenflut"
Die erste Diskussion über "Asylmißbrauch" durch "Wirtschaftsflüchtlinge" gab es schon Mitte der sechziger Jahre. Grund der Aufregung, die damals aber von den Bonner Parteien überhaupt nicht geteilt wurde, waren einige Tausend jugoslawische Asylsuchende; sie machten zu dieser Zeit rund die Hälfte oder mehr aller Antragsteller aus. Tatsächlich ging es wohl im Wesentlichen darum, den Umstand zu unterlaufen, daß es mit Jugoslawien noch kein Anwerbeabkommen gab; diese Lücke wurde erst 1968 geschlossen. Aufgrund dieser Situation faßte die Bundesinnenministerkonferenz im August 1966 den Beschluß, "Ostblock-Flüchtlingen" automatisch ein Bleiberecht zu garantieren, auch ohne erfolgreiches Anerkennungsverfahren. Die Begründung ist zitierenswert: "Auch wenn eine persönliche Verfolgung und damit ein Asyltatbestand nicht vorliegt, haben doch die meisten der illegalen Zuwanderer den verständlichen Wunsch, nicht länger unter einem kommunistischen Regime der gegenwärtigen Prägung zu leben."
Die hiermit eingeführte, juristisch total hanebüchene Konstruktion des "verständlichen Wunsches", blieb natürlich auf den "Ostblock" beschränkt. Asylsuchenden aus anderen Ländern wurden häufig nicht einmal persönlich erlittene Repressalien, wie Haft und Folter, als Anerkennungsgrund angerechnet.
Die meisten Begriffe heutiger Anti-Ausländer-Politik wie "Asylantenschwemme", "Überflutung", die bildhaften Vergleiche mit Naturkatastrophen oder Heuschreckenschwärmen, alles das wurde im Jahr 1980 kreiert und ist seither Bestandteil der Propaganda. Wie schon erwähnt, überstieg die Zahl der Anträge in jenem Jahr erstmals das Limit von 100.000. Mit rund 108.000 war es eine Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr 1979 (51.000) und eine Verdreifachung zu 1978 (33.000). Verglichen mit aktuellen Zahlen - ungefähr 450.000 Anträge in diesem Jahr - nicht sehr viel, und auf jeden Fall auch geringer als die zeitgleichen Zahlen deutscher Aussiedler aus Osteuropa, die nie zu Worten wie "Flut" oder "Invasion" Anlaß gaben.
Dennoch: Daß Ende der siebziger Jahre eine erhebliche Veränderung im Flucht- und Migrationsverhalten eingetreten war, ist offensichtlich. War man doch in der BRD noch bis 1967 daran gewohnt gewesen, daß die Zahl der Asylanträge unter 5000 jährlich lag. Zusammen mit der Zunahme der Zahl änderte sich außerdem die Struktur der Antragsteller. Früher kamen sie zu über 90 Prozent aus den Staaten des "realsozialistischen" Blocks, waren weiß, oft gut ausgebildet, bürgerlich und - auch nicht zu verachten - stramme Antikommunisten. In etlichen Jahren leistete die BRD sich auf diesem Hintergrund Anerkennungsquoten von über 50 Prozent, ja sogar 70-85 Prozent (1969-71). 1974 jedoch kam erstmals weniger als die Hälfte der Antragsteller aus Osteuropa, und dieser Trend setzte sich verstärkt fort, während andererseits die Zahl der Asylsuchenden aus Ländern der Dritten Welt stark anstieg. Der deutsche Staat und seine außerordentlich unabhängige Justiz reagierten sofort: Die Anerkennungsquoten gingen von 70 Prozent 1971 über immerhin noch 33 Prozent 1975 auf knapp 11 Prozent 1980/81 in den Keller.
Eine wesentliche Rolle spielten in der damaligen "Überfremdungs"-Debatte das 1982 erschienene Buch des SPD-Politikers Martin Neuffer "Die Erde wächst nicht mit" und andere ähnlich argumentierende rechte Analytiker. Neuffer war Oberstadtdirektor in Hannover, Präsident des Städtetages und NDR-Intendant. Aufgrund einer insgesamt wohl realistischen Einschätzung der globalen Migrationsbewegungen und ihrer künftigen Entwicklung prognostizierte er in seinem Buch: "Der Auswanderungsdruck aus den Ländern der Dritten Welt mit ihrem explosiven Bevölkerungswachstum wird sich angesichts von Elend, Hunger und Hoffnungslosigkeit um ein Vielfaches steigern. (...) Die reicheren Länder werden sich gegen diesen Ansturm zur Wehr setzen. Sie werden Befestigungsanlagen an ihren Grenzen errichten, wie sie heute nur zum Schutz von Kernkraftwerken dienen. Sie werden Minenfelder legen und Todeszäune und Hundelaufgehege bauen."
Neuffer argumentierte aber nicht nur mit der Zahl der Einwanderungswilligen, sondern auch mit deren angeblicher Nicht-"Integrierbarkeit". So richtete sich seine Polemik keineswegs nur gegen potentielle Neuzuwanderer, sondern auch gegen die schon in der BRD lebende ausländische Bevölkerung, insbesondere wieder gegen die Türken, die ja schon seit Anfang der siebziger Jahre im Zentrum rassistischer Angriffe standen.
"Diese Verlagerung des türkischen Bevölkerungswachstums in die Bundesrepublik ist, mit Verlaub gesagt, ein gemeingefährlicher Unfug. In den meisten Fällen besteht nur wenig Aussicht, daß die gutgemeinten Integrationsbemühungen der Bundesrepublik je dazu führen werden, daß diese Türken Deutsche werden. (...) Je mehr Türken hier leben, um so geringer ist die Aussicht, daß es zu einer echten ,Einbürgerung` kommt. (...) So wächst zur Zeit eine starke, im ganzen wenig assimilationsfähige völkische Minderheit heran. Die übliche Integrationspolitik ist in vielen Türkenstadtteilen jetzt schon eine Farce."
Neuffers Gegenrezept: eine Politik, "die den weiteren Zustrom, auch von Familienangehörigen, scharf einengt und die Verbote mit starken materiellen Anreizen für eine Rückwanderung verbindet." Die BRD müsse ihre Grenzen weitgehend vor ausländischen Einwanderern schließen, denn: "Wir sollten aus dem türkischen Problem lernen, wie sehr es darauf ankommt, vorbeugend zu handeln." - Für die Asylpolitik bedeutete das nach Ansicht Neuffers: "Beschränkung des Asylrechts auf Bürger europäischer Länder".
Erste "Gegenmaßnahmen" und zweite Asyl-Kampagne
Schon aufgrund des absolut betrachteten geringfügigen Anstiegs der Asylanträge Mitte der siebziger Jahre hatten einzelne Bundesländer zu schikanösen, offenkundig illegalen Maßnahmen gegriffen, allen voran Bayern und Baden-Württemberg. So gab es beispielsweise Anweisungen, Antragsteller aus Ländern mit niedriger Anerkennungsquote (u.a. Pakistan und Jordanien) von vornherein pauschal abzuweisen.
Mit dem Ersten Beschleunigungsgesetz von 1978 versuchte die Bundesregierung, den juristischen Ablauf des Asylverfahren stärker zu vereinheitlichen und zu verkürzen; außerdem hoffte man, damit dämpfend auf die Zahl der Anträge wirken zu können. Dieser Versuch war aber so "halbherzig", daß er keinen seiner Zwecke erreichte. So wurde 1980 ein Zweites Beschleunigungsgesetz durch die parlamentarischen Instanzen gejagt - mit dem Vermerk, daß es nur eine Übergangsregelung bis zu einer allgemeinen Neufassung des Verfahrens darstellen sollte.
Wichtiger als die juristischen Basteleien waren jedoch eine Reihe praktischer Maßnahmen, die teils direkt abschottend, teils allgemein abschreckend auf potentielle Asylsuchende wirken sollten. Ein entscheidender Schritt war 1980 die Einführung der Visumpflicht für mehrere Länder, aus denen die größten Gruppen von Asylsuchenden kamen: Afghanistan, Äthiopien, Sri Lanka, Indien, Bangla Desch, sowie schließlich auch für die Türkei. Die Fluggesellschaften wurden unter Androhung von Kosten und noch härteren Eingriffen verpflichtet, die Reisedokumente ihrer Passagiere streng zu kontrollieren.
Ebenfalls 1980 ließ die Bundesregierung anordnen, Asylsuchenden im ersten Jahr ihres Aufenthalts keine Arbeitserlaubnis zu geben; 1981 wurde die Frist auf zwei Jahre ausgedehnt, 1987 sogar auf fünf Jahre. Erst 1991 wurde das Arbeitsverbot ganz aufgehoben.
Während der Effekt auf den Arbeitsmarkt vermutlich gering zu veranschlagen war, diente das Arbeitsverbot vor allem dazu, die Antragsteller als "Schmarotzer" zu diffamieren, die "faul herumlungern" und "von unseren Steuergeldern leben". Gleichzeitig experimentierten 1981/82 einige Bundesländer und Gemeinden damit, Asylsuchende zu Zwangsarbeiten, wie Straßenreinigung und Schneeräumen, zu zwingen. Dagegen legten sich mit Erfolg vor allem die Gewerkschaften quer, die zu Recht meinten, daß dabei die Tarife zum Teufel gehen würden und die Entlassung "normaler" Arbeiter attraktiv gemacht würde.
Als eine der letzten Handlungen der sozialliberalen Schmidt-Regierung vor ihrem Sturz wurde im Sommer 1982 ein neues Asylverfahrensgesetz beschlossen. Außerdem wurde 1982 die Unterbringung in "Sammelunterkünften" und die weitgehende Ersetzung der Sozialhilfe durch "Sachleistungen" obligatorisch gemacht.
Aus unterschiedlichen Gründen, vermutlich aber auch aufgrund der Verschärfung von Asylrecht und Asylpraxis, ging nach 1980 zunächst die Zahl der Antragsteller wieder stark zurück. 1981 waren es noch knapp 50.000, 1982 37.500, und 1983 wurde mit weniger als 20.000 ein Tiefpunkt erreicht. Seit 1984 stiegen die Zahlen jedoch wieder steil an und erreichten 1986 erneut die 100.000-Marke.
Inzwischen hatte sich der schon in den siebziger Jahren aufgetretene Trend erneut verstärkt, daß die Mehrheit der Asylsuchenden aus Ländern der Dritten Welt stammte. 1981-84 kam nur noch ungefähr ein Drittel der Antragsteller aus europäischen Ländern, 1985 und 1986 sogar nur ein Viertel. Etwa die Hälfte aller Asylsuchenden oder etwas mehr kamen in diesen Jahren aus Asien, vor allem aus Sri Lanka, wo Bürgerkrieg und Massaker tobten, daneben aus Iran, Afghanistan, Pakistan, Libanon u.a..
In dieser Situation wurde zum zweiten mal verschärft über den "Asylantenandrang" und die drohende "Überflutung" gezetert. Strauß: "Es strömen die Tamilen zu Tausenden herein, und wenn sich die Situation in Neukaledonien zuspitzt, dann werden wir bald die Kanaken im Land haben." (zit. nach "Spiegel" Nr. 8/85) Lummer, Berliner Innensenator: "Wir haben ein Asylrecht, da kann die ganze Rote Armee kommen und der KGB dazu. Wenn die an unserer Grenze nur das Wort ,Asyl` sagen, können wir sie nicht zurückschicken." (zit. nach "Spiegel" Nr. 36/85)
Umfragen zeigten, daß innerhalb von drei Jahren der Anteil der Bevölkerung, der die deutsche Asylpraxis für "zu großzügig" hielt, von 40 auf 72 Prozent angestiegen war. (Nach "Spiegel" Nr. 35/86) Eine Welle ausländerfeindlicher Terrorakte ging durch das Land - auch wenn vor dem aktuellen Hintergrund beispielsweise die Zahl von 18 schweren Anschlägen auf "Ausländerunterkünfte" in den ersten neun Monaten des Jahres 1986 als relativ gering erscheinen mag.
Ebenfalls schon 1985/86 kam es auch zu ausländerfeindlichen Massenprotesten aus der Bevölkerung. An einigen Orten wurden "Bürgerwehren" gebildet und nach Waffenscheinen gerufen, weil man sich von Asylsuchenden "massiv bedroht" fühlte. Anderswo blockierten Bewohner eine geplante Unterkunft mit Sprüchen wie "Wenn hier erst die Schwarzen durchs Dorf streichen, bleiben doch die Touristen weg." (zit. nach "Spiegel" Nr. 39/86) Der "Spiegel" heizte mit einer großen Serie über "Asylanten und Scheinasylanten" die Stimmung seiner Klientel noch weiter an. Überschrift: "Die Spreu vom Weizen trennen". (Nr. 35/86 bis Nr. 40/86)
Die Bundesregierung versuchte in erster Linie, und das mit sichtbaren Erfolgen, die Zahl der Asylsuchenden aus der Dritten Welt nach unten zu drücken. Da diese im Wesentlichen auf die Luftwege angewiesen waren, fiel der Zugriff nicht schwer. Die Fluglinien hatte man ohnehin schon seit Beginn der achtziger Jahre schwer unter Druck gesetzt, keine Passagiere ohne Visum mitzunehmen. Nun verschärfte man die Situation noch, indem Reisenden aus etlichen "Problemstaaten" wie Libanon, Pakistan, Bangla Desch u.a. selbst für kurze Zwischenlandungen im Bundesgebiet ein Transit-Visum abverlangt wurde.
Aber immer noch konnten tausende von Asylsuchenden aus der Dritten Welt über die DDR und über die in eine Richtung offene Grenze in Berlin in die BRD gelangen. Honecker wurde in "Bild am Sonntag" als "Oberschlepper" angegriffen (20.7.86); die "Asylanten" seien "Moskaus Wunderwaffe" (ebenda). Namhafte Politiker von CDU/CSU und FDP behaupteten allen Ernstes, die DDR wolle mit der "Einschleusung" von Flüchtlingen die inneren Verhältnisse der BRD destabilisieren.
Dabei hatte die DDR schon im Sommer 1985, geködert durch eine Erhöhung des zinslosen Kredits im deutsch-deutschen Handel, den Zugang über ihren Flughafen Schönefeld erschwert. 1986 verpflichtete sich die DDR schließlich, ab 1. Oktober keine Reisenden ohne Visum mehr nach Westberlin zu lassen.
Eine Ergänzung war die Verschärfung der Asylrechtsprechung. Die bundesdeutsche Justiz bewies wieder einmal ihre außerordentliche Unabhängigkeit, indem sie die Anerkennungsquoten nach den politischen Tagesinteressen regulierte. Krassestes Beispiel: die tamilischen Flüchtlinge aus Sri Lanka. Nahezu 40 Prozent von ihnen wurden 1985 als asylberechtigt anerkannt. Dann kippte das Bundesverwaltungsgericht 1986 rund tausend dieser Entscheidungen. Die Anerkennungsquote für Tamilen sackte im Nu auf nur noch 6 Prozent in der ersten Jahreshälfte 1986.
Und wie sahen die materiellen Resultate hinsichtlich der Zahlen der Asylsuchenden aus? Insgesamt stiegen sie trotz der Kampagne von 1985/86 weiter an. Der Anteil von Zuwanderern aus der Dritten Welt wurde jedoch tatsächlich nachhaltig gesenkt, auf etwa ein Drittel aller Antragsteller (1991). Sogar die absoluten Zahlen belegen dies: Die Zahl der Asylsuchenden aus asiatischen Ländern sank von 56.600 in 1986 auf nur noch 16.000 in 1987 und 23.000 in 1988. Erst 1990 erreichte sie mit 61.000 ungefähr wieder das Niveau von 1986. Ähnlich, aber in geringerer Größenordnung, die Zahlen afrikanischer Asylsuchender: Ein Rückgang von 9500 in 1986 auf 3500 in 1987 und 6500 in 1988; danach allerdings ein deutlicher Anstieg auf 24.000 in 1990.
Es zeigt sich also, daß eine dauerhafte Senkung der Zahlen der Asylsuchenden allgemein und insbesondere der Menschen aus der Dritten Welt bisher trotz heftiger "Ausländerstopp"-Politik und Verschlechterung des Asylrechts gegen Null nicht gelungen ist. Wohl aber sprechen die Entwicklungen für die Annahme, daß ohne diese Politik die Zahl der Asylsuchenden noch erheblicher höher wäre. Insbesondere ist das für die Zuwanderung aus der Dritten Welt zu vermuten, die bekanntlich den ganz überwiegenden Teil der Armutsmigrationen ausmacht, aber bei den Asylsuchenden, die in den Industriestaaten ankommen, total unterrepräsentiert ist.
Knut Mellenthin
analyse & kritik, 16. Dezember 1992