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Triumph des Willens: Wie Theodor Herzl 1897 den Staat Israel gründete

Vor 120 Jahren, vom 29. bis zum 31. August 1897, fand in der Schweizer Stadt Basel zum ersten Mal ein „Zionisten-Congress“ statt. Zentrale Ergebnisse waren die Gründung einer internationalen Organisation mit einer gewählten Führung und die Beschlussfassung über eine kurz formulierte Grundsatzerklärung, das „Baseler Programm“. Es war der am heftigsten diskutierte Punkt der Tagesordnung und lautete in der deutschen Fassung: „Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina.“

Das „Baseler Programm“ nennt außerdem die wichtigsten Mittel, die nach übereinstimmender Meinung des Kongresses zum Erreichen des Zieles dienen können: 1) Die Förderung der Ansiedlung jüdischer „Ackerbauern, Handwerker und Gewerbetreibender“ in Palästina. 2) Die Organisierung aller Juden in örtlichen oder allgemeinen Gruppen im Einklang mit den Gesetzen der verschiedenen Länder. 3) „Die Stärkung des jüdischen Volksgefühls und Volksbewusstseins”. 4. „Vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmungen, die zum Erreichen des zionistischen Zieles erforderlich sind“. 

Solche Kongresse fanden in der folgenden Zeit zunächst jährlich, nach 1901 nur noch in jedem zweiten Jahr und seit den 1950er Jahren in Intervallen von etwa vier bis fünf Jahren statt. Seit 1951 ist ausschließlich Jerusalem Tagungsort. Der vorerst letzte Kongress, mittlerweile schon der siebenunddreißigste, traf sich dort vor zwei Jahren. Der nächste ist für 2020 geplant.

Das Zustandekommen des ersten Zionistenkongresses wird hauptsächlich den Aktivitäten und dem Charisma des damals 37jährigen Wiener Journalisten Theodor Herzl zugeschrieben. Während der dreitägigen Sitzungen führte er meist den Vorsitz und wurde zum Präsidenten der neu gegründeten zionistischen Weltorganisation gewählt. Dabei war er breiteren jüdischen Kreisen erst kurz zuvor durch seine Broschüre „Der Judenstaat“ bekannt geworden, die im Februar 1896 erschienen war.

Dass Herzl sich trotz vieler Anfeindungen aus den eigenen Reihen so schnell und relativ unumstritten als Führer der Bewegung durchsetzte, die seit 1897 unter dem Namen „Zionisten“ auftrat, ist erstaunlich und kennzeichnet seine außerordentliche Persönlichkeit. Dabei waren seine Vorschläge weder neu noch originell, und es existierte schon seit mehr als zehn Jahren ein internationales Netzwerk von proto-zionistischen Strukturen, denen Herzl zunächst als unerfahrener und nicht besonders respektvoller Konkurrent gegenübertrat. 

1882 war im russischen Odessa in deutscher Sprache Leo Pinskers Schrift „Autoemanzipation“ mit dem Untertitel „Mahnruf an seine Stammesgenossen“ und der anonymen Verfasserangabe „von einem russischen Juden“ erschienen. Pinsker (1821-1891) hatte darin wesentliche Aussagen und Schlussfolgerungen von Herzls vierzehn Jahre späterem „Judenstaat“ vorweggenommen. Das erkannte auch Herzl an, als er darauf aufmerksam gemacht wurde. Er behauptete aber ausdrücklich, Pinskers Essay zuvor nicht gelesen und nicht gekannt zu haben.

Es wäre erstaunlich, wenn das stimmen würde: Zu der Zeit, als Herzl in Wien studierte und sich nach eigener Darstellung schon intensiv mit der „Judenfrage“ beschäftigte, war dort 1882 eine jüdisch-nationalistische Studentengruppe namens Kadimah gegründet worden, die sich auf Pinsker berief und diesen auch als Ehrenmitglied führte. Die Gruppe gab eine Zeitschrift heraus, die in Anlehnung an Pinskers Schrift „Selbstemanzipation“ hieß. Gelegenheit, darauf aufmerksam zu werden, hätte Herzl also damals schon gehabt.

Zu den Gründern der Kadimah gehörte Nathan Birnbaum (1864-1937), der 1890 wohl der erste war, der den Begriff „Zionismus“ öffentlich verwendete. Auch davon hatte Herzl angeblich nichts mitbekommen. Birnbaum nahm zwar 1897 am ersten Zionistenkongress teil, aber die beiden verband nichts weiter als starke gegenseitige Antipathie bis zur offenen Feindseligkeit, die dazu beitrug, dass Birnbaum sich sehr bald wieder von der zionistischen Bewegung trennte.

Dass Herzl seine Vorläufer entweder bewusst verschwieg oder aus Ignoranz wirklich nicht zur Kenntnis genommen hatte, trug ihm zunächst viel Kritik ein. Ein solches Verfahren widersprach auf jeden Fall der Tradition jüdischer Gelehrsamkeit, für die das Studium früherer Meinungen zum Thema und deren Zitieren von zentraler Bedeutung ist. Geschadet hat das Herzl aber letzten Endes nicht. Vielleicht gehörte es sogar zu den Grundlagen seiner erstaunlichen Durchsetzungsfähigkeit.

Eine wesentliche Voraussetzung für seine Erfolge war, dass nach dem Erscheinen seines „Judenstaats“ vor allem in Mittel- und Westeuropa die meisten Anhänger und viele führende Persönlichkeiten einer schon seit 1880 aktiven proto-zionistischen Bewegung zu Herzl übergingen oder ihre Tätigkeit einstellten. Schwieriger gestalteten sich die Dinge zunächst in Russland, dem Ausgangspunkt und Zentrum der Chibbat Zion.

Der Name bedeutet Liebe zu Zion, womit ursprünglich der Tempelberg und später die Stadt Jerusalem gemeint war. Die Anhänger der Bewegung nannten sich Chowewei Zion, Liebhaber Zions.

Ihre Anfänge gehen auf die Jahre 1879/1880 zurück. Eine führende Stellung nahm dabei das 1880 gegründete, von Pinsker geleitete Odessa-Komitee ein. Die Bewegung wuchs aufgrund der Pogromwelle im Westen des Zarenreichs in den Jahren 1881 bis 1884 und der damit einhergehenden allgemeinen Verschlechterung der Lage der Juden rasch an. Mehr oder weniger stark vernetzte Zirkel von Chowewei Zion bildeten sich auch in Großbritannien, Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Ländern. Schon Anfang September 1893 fand in Wien eine heute weitgehend vergessene Konferenz von Anhänger der Chibbat-Zion-Bewegung statt, die die Einberufung eines „Allgemeinen Zionistenkongresses“ nach Berlin vorbereiten sollte. Aufgrund von Uneinigkeit unter den Beteiligten und einer zu geringen Resonanz verlief sich das Vorhaben jedoch im Sande.

Praktischer Arbeitsschwerpunkt der Chowewei Zion war die Gründung, Unterstützung und Förderung von landwirtschaftlichen Siedlungen, im Deutschen meist „Kolonien“ genannt, in Palästina. Das so bezeichnete Gebiet gehörte zum Osmanischen oder Türkischen Reich und war in mehrere Verwaltungseinheiten aufgeteilt. Das Wort Palästina geht auf eine Provinz des Römischen Imperiums zurück, die 135 nach dem letzten großen jüdischen Aufstand geschaffen wurde, um die Erinnerung an alles Jüdisch-Nationale auszulöschen. Der frühere Name der Provinz war Iudaea gewesen.

Zu Beginn der Siedlungsgründungen, um 1880, lebten in Palästina nur etwa 24.000 Juden – die Mehrheit von ihnen in Jerusalem. Da das Gebiet außerordentlich dünn besiedelt war, entsprach das immerhin einem Anteil von ungefähr acht Prozent an der Gesamtzahl der Bewohner. Zur Zeit des ersten Zionistenkongresses hatte sich die Zahl der Juden auf rund 40.000 verdoppelt – nicht zuletzt durch die Gründung von Kolonien. Es gab davon damals, je nach Zählweise, ungefähr 20.

Da die Siedlungen überwiegend oder ausschließlich defizitär waren, konnten sie nur mit Hilfe von Subventionen überleben. Diese kamen zum Teil aus Spenden der Chowewei Zion, vor allem aber von dem französischen Bankier und Geschäftsmann Edmond de Rothschild. Herzl lehnte dieses System als Ermutigung zum „Schnorrertum“ in sarkastischer Form ab. In dieser Einschätzung traf er sich mit dem wohl schärfsten seiner Kritiker unter den Chowewei Zion, dem aus der Gegend von Kiew stammenden Ascher Hirsch Ginsberg (1856-1927), der sich als Publizist Achad Ha’am nannte. 1891 und 1893 hatte er Palästina als Beobachter und Rechercheur bereist. Seine niederschmetternden Ergebnisse veröffentlichte er in einer zweiteiligen Reportage unter dem Titel „Die Wahrheit aus dem Lande Israel“. Überall in den Kolonien habe er Misswirtschaft, vergeudete Chancen, Stagnation und Demoralisation angetroffen. Die einseitige Orientierung auf den Weinbau sei verfehlt, die von Rothschild eingesetzten Verwalter seien autokratisch und inkompetent.

Herzl kritisierte die „Infiltration“, wie er die individuelle, oft mehr oder weniger illegale Einwanderung nach Palästina nannte, aber auch aus weiteren Gründen. Seiner Ansicht nach ging es darum, die angestrebte Gründung eines jüdischen Staatswesens in organisierter Weise durchzuführen: Mit der vertraglich abgesicherten Erlaubnis des Landesherrn, also des türkischen Sultans, und mit der Zustimmung der europäischen Großmächte und Russlands, die alle eigene Interessen in Bezug auf „das Heilige Land“ hatten. Dabei konnte nach Ansicht Herzls die „Infiltration“ nur stören, weil sie die türkische Führung misstrauisch werden ließ, sie zu Gegenmaßnahmen veranlasste und für den von Herzl geplanten „großen Deal“ unzugänglich machte.

Seit der Wiener Journalist zuerst auf das Thema gestoßen war, bis zu seinem frühen Tod am 3. Juli 1904, betrieb er unbeirrt durch Misserfolge seine Idee, dem Sultan das Territorium für den Judenstaat abzukaufen. Seit dem Krimkrieg (1853-1856) war die Türkei in die Spirale einer wachsenden Staatsschuld geraten, deren Folgen mit immer neuen Umschuldungsabkommen und neuen Krediten überbrückt werden mussten. Die laufende Bedienung der Schulden verschlang einen großen Teil der staatlichen Einnahmen. 1881 war die Staatsschuld von 191 Millionen britischen Pfund auf 106 Millionen nahezu halbiert wurden. Gleichzeitig wurde aber eine internationale Schuldenverwaltung eingerichtet, durch die das Osmanische Reiche bedeutende Teile seiner wirtschaftlichen Souveränität an die imperialistischen Mächte verlor.

Herzl Vorschlag bestand nun darin, im Tausch gegen Palästina „die Finanzen der Türkei gänzlich zu regeln“. Das Geld, so gaukelte er dem Sultan vor, würden mächtige jüdische Finanzleute aufbringen, deren Namen er geheimhalten müsse. In Wirklichkeit blitzte Herzl bei Rothschild und anderen jüdischen Finanzleuten ab, sodass er niemals auch nur über einen Bruchteil des Geldes verfügte, das zur Sanierung der türkischen Staatsschuld nötig gewesen wäre. Auf der anderen Seite hatte der Sultan aber auch niemals die Absicht, mit Herzl ernstlich über die Abtretung Palästinas zu verhandeln, wie aus internen Aufzeichnungen hervorgeht. Ihm ging es darum, potentielle Kreditgeber gegeneinander auszuspielen, um möglichst günstige Konditionen zu erreichen.

Zum Zeitpunkt des Zionistenkongresses 1897 hatte Herzl seine erste Reise in die osmanische Hauptstadt Istanbul, die im Ausland meist mit ihrem altrömischen Namen Konstantinopel bezeichnet wurde, schon hinter sich. Der Wiener Journalist unternahm sie im Juni 1896 gemeinsam mit dem schillernden polnischen Adligen Philipp von Newlinski, der aus zwielichtigen Gründen ungewöhnlich gute Beziehungen zum osmanischen Hof unterhielt. Der Sultan mochte dem Nobody, der Herzl damals aus seiner Sicht noch war, trotz Newlinskis Fürsprache keine Audienz gewähren und gab als Trostpreis nur einen Orden zweier Klasse her.

Die meisten Begegnungen Herzls mit gekrönten Häuptern und anderen Prominenten jener Zeit folgten erst nach dem Basler Kongress: der deutsche Kaiser Wilhelm II., die Großherzöge von Baden und Hessen, die russischen Minister Wjatscheslaw von Plehwe und Sergej Witte, der italienische König Vittorio Emanuele III. und Papst Pius X. Herzls Behauptung, er sei der anerkannte Führer der Juden, dem die Finanzmittel der internationalen Börsen ebenso zu Gebote stünden wie die Zähmung der „Umsturzparteien“ und des „Judensocialismus“, schien jetzt, wo er immerhin Präsident der weltweiten Zionistischen Organisation war, Eindruck zu machen. Nur die Audienz bei Zar Nikolaus II., um die sich Herzl immer wieder durch verschiedene Vermittler bemühte, erreichte er nicht.

Im Februar 1897 tauchte in Herzls Tagebuch erstmals die konkrete Absicht auf, Ende August einen allgemeinen „Zionistentag“ oder „Zionistenkongress“ durchzuführen. Als Ort stellte er sich Zürich vor. Es folgten mühevolle Vorgespräche, insbesondere mit den aus Herzls Sicht allzu selbstbewussten und trotzigen Chowewei Zion in Berlin. In der ersten Märzwoche kam es zwar zur Einsetzung einer Organisationskommission, aber andererseits wurde Herzl hinsichtlich des Kongressortes überstimmt. „Man beschloss aber, nach München zu gehen, weil diese Stadt für die östlichen Juden besser gelegen sei, weil die Russen in die des Nihilismus verdächtige Schweiz nicht zu kommen wagen würden, und weil es in München koschere Restaurationen gebe“, notierte Herzl am 10. März 1897 verärgert und verächtlich ins Tagebuch.

Bei München blieb es jedoch nicht. Mitte Juni protestierte der Vorstand der jüdischen Gemeinde Münchens gegen die Abhaltung des Kongresses. Das hätte man nicht unbedingt ernst zu nehmen brauchen. Aber Herzl ergriff schnell und gern die Chance, „die Versammlung vom ungeneigten München nach dem geeigneten Zürich“ zu verlegen. Stattdessen wurde im Vorbereitungskomitee beschlossen, den Kongress in Basel stattfinden zu lassen.

Angesichts dieser und vieler weiterer Reibereien war Herzl, wie auch später noch oft, am Rande der Resignation. Am 23. August 1897 schrieb er im Zug auf dem Weg nach Basel ins Tagebuch: „Tatsache ist, was ich jedermann verschweige, dass ich nur eine Armee von Schnorrern habe. Ich stehe nur an der Spitze von Knaben, Bettlern und Schmöcken. Manche beuten mich aus. Andere sind schon neidisch oder treulos. Wenige sind uneigennützige Enthusiasten. Dennoch würde dieses Heer vollkommen genügen, wenn sich nur der Erfolg zeigte. Da würde es rasch eine stramme reguläre Armee werden.“

Die Zahl der Teilnehmer beim Zionistenkongress 1897 wird mit leichten Unterschieden wiedergegeben. „Ungefähr 200“ Teilnehmer aus 17 Ländern scheint ein vernünftiger Mittelwert. Herzl selbst sprach in einem Brief an Kaiser Wilhelm II. von 204 Teilnehmern. In vielen Darstellungen wird allgemein von „Delegierten“ gesprochen Das ist mit Sicherheit falsch. Genauere Betrachtungen gehen davon aus, dass nur 69 der Teilnehmer, nicht viel mehr als ein Drittel, ein Delegiertenmandat hatten. Die übrigen waren auf irgendeine Weise individuell eingeladen worden. Anders hätte es nicht sein können, denn zionistische Organisationsstrukturen gab es noch nicht. Am ehesten waren die russischen und osteuropäischen Chowewei Zion imstande, tatsächlich ordnungsgemäße und überprüfbare Delegiertenwahlen abzuhalten. Erst seit 1898 wurden die Zionistenkongresse ausschließlich auf Delegiertenbasis durchgeführt. 

Eine kurze Debatte gab es um die siebzehn Frauen unter den Teilnehmern. Mehrheitlich waren sie Familienmitglieder, aber einige von ihnen waren auch individuell erschienen. Herzl entschied diese Frage kurz und pragmatisch: „Die Damen“ seien „selbstverständlich sehr verehrte Gäste“, könnten aber diesmal noch kein Stimmrecht bekommen. Das werde aber vom nächsten Jahr an der Fall sein. Damit waren die Zionisten in dieser Frage relativ progressiv und modern.

Der größte Teil des Kongresses war öffentlich; zahlreiche Zuschauer verfolgten ihn von den Emporen aus. Herzl kam es auf maximale Aufmerksamkeit an, und tatsächlich hatten sich 26 Journalisten akkreditieren lassen. Aber die Neue Freie Presse, für die Herzl seit 1891 arbeitete, war nicht darunter. Hauptsächlich wohl, weil die leitenden Redakteure nicht die antisemitische Brandmarkung ihrer Tageszeitung als „Judenblatt“ bestätigen wollten.

Herzl hatte schon im Vorfeld des Kongresses angeordnet, dass alle männlichen Teilnehmer zur Eröffnungssitzung im Frack mit weißer Halsbinde erscheinen sollten. Es kennzeichnet die Autorität, die er schon zu diesem frühen Zeitpunkt hatte, dass er diese Anweisung tatsächlich ausnahmslos durchsetzen konnte. Wer nicht in der obligatorischen Bekleidung auftauchte, wurde gnadenlos zurück ins Hotel zum Umziehen geschickt. Wer keinen Frack eingepackt hatte, konnte sich bei den Kostümverleihern versorgen, die es damals noch in großer Zahl gab.

Zur Begründung notierte Herzl am 3. September in sein Tagebuch: “Die Feiertagskleider machen die meisten Menschen steif. Aus dieser Steifheit entstand sofort ein gemessener Ton – den sie in hellen Sommer- und Reisekleidern vielleicht nicht gehabt hätten – und ich ermangelte nicht, diesen Ton noch ins Feierliche zu steigern. (...) Die Leute sollen sich daran gewöhnen, in diesem Kongress das Höchste und Feierlichste zu sehen.“

Daneben hatte Herzl aber vermutlich auch den Eindruck auf die Öffentlichkeit im Blick. Die Mehrheit der Juden war damals arm und dementsprechend gekleidet. Die einheitliche Gewandung im Frack signalisierte „Gutbürgerlichkeit“, die entweder auf akademischer Ausbildung und Berufstätigkeit oder auf materiellem Wohlstand beruhte. Hier trafen sich offensichtlich weder „arme Schlucker“ noch „Revoluzzer“. Dass ihnen die sozialdemokratische Arbeiterbewegung fern stehe, erklärten gleich mehrere Redner, um dann jedoch fortzufahren: Methodisch, vor allem in Bezug auf die Organisationsformen, könne und müsse man sich von der Sozialdemokratie vieles abschauen.

Der größte Teil der drei Sitzungstage verging mit dem Anhören einer Vielzahl von Vorträgen. Dazu gehörten neben Berichten über die Lage der Juden allgemein und in verschiedenen Ländern und Regionen auch inhaltlich dichte Referate zu den Themen „Organisation“ und „Agitation“. Das Bewusstsein, dass die Erreichung eines großen Zieles eine gut funktionierende, sowohl demokratische als auch zentralistische Organisation voraussetze, war unter den Führern der sich neu formierenden zionistischen Bewegung stärker als beispielsweise in der gegenwärtigen deutschen Linken.

In der Praxis der Zionistischen Organisation überwog, so lange Herzl lebte, meist der Zentralismus. Abgesehen von Protesten und Unterschriftensammlungen stand den Mitgliedern der Organisation nur die Beeinflussung der zunächst einmal im Jahr, seit 1901 nur noch alle zwei Jahre stattfindenden Kongresse offen. Die Tagesgeschäfte lagen allein beim Kleinen Aktionskomitee, das ganz auf Herzls Politikstil zugeschnitten war. Von seinen fünfzehn Mitgliedern, die auf dem Kongress gewählt wurden, mussten laut Statut fünf ihren Wohnsitz in Wien haben. Selbst so dauerten die Entscheidungen dem ungeduldigen und hyperaktiven Herzl oft noch zu lang.

Aber der „Erfolg“ war da, die „Armee“ war auf dem Marsch. Am 3. September, zurück in Wien, schrieb Herzl ins Tagebuch: „Fasse ich den Baseler Kongress in einem Wort zusammen – das ich mich hüten werde, öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagen würde, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig, wird es jeder einsehen.“

Fünf Jahre lag weit daneben. Aber fünfzig Jahre stimmte fast genau. Am 29. November 1947 votierte die Vollversammlung der Vereinten Nationen für den Vorschlag, Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat zu teilen. Am 19. Mai 1948 wurde der Staat Israel proklamiert. Aber: „ich habe gegründet“? Das erinnert an Bert Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 29. August 2017