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Ein wahrhaffte und erschröckliche Geschicht
Der Streit um Eislers Faust-Entwurf 1953
"Die Künste werden geehrt
und, wenn nötig,
mit aller Strenge
in unseren Landen."
(Hanns Eisler, Faust-Libretto)
Hanns Eisler, wohl der bekannteste kommunistische Komponist überhaupt, arbeitete 1951-52 den Text einer Faust-Oper aus, der im Mai und Juni 1953 Gegenstand einer heftigen Debatte in der DDR war. Im "Neuen Deutschland" wurde Eisler vorgeworfen, sein Entwurf schlage "dem deutschen Nationalgefühl ins Gesicht". Der Komponist habe "die Einflüsse des heimatlosen Kosmopolitismus noch nicht überwunden". (1) Walter Ulbricht warnte, die SED werde nicht zulassen, daß "eines der bedeutendsten Werke unseres großen Dichters Goethe" zur Karikatur verunstaltet wird. (2)
Das Ergebnis des Streits war, "daß mir jeder Impuls, Musik zu schreiben, abhanden gekommen war. So kam ich in einen Zustand tiefster Depression, wie ich sie kaum jemals erfahren habe." (aus einem Brief Eislers an das ZK der SED) Die Faust- Oper wurde, abgesehen von Bruchstücken, nicht komponiert. Es sollte noch bis 1982, zwanzig Jahre nach Eislers Tod, dauern, bis wenigstens sein Text-Entwurf erstmals auf einer DDR-Bühne vorgetragen werden konnte.
Eine nicht auskomponierte Oper - na und? Kein Einzelfall in einem Staat, dessen Kulturpolitik reich an nicht gemalten oder aufgegebenen Bildern, an nicht geschriebenen oder nicht zur Aufführung gelangten Theaterstücken, an in den Schubladen abgelegten Musikwerken war.
Für eine Beschäftigung gerade mit dem Faust-Streit von 1953 scheinen mir aber mehrere Gesichtspunkte zu sprechen:
- 1. Die Diskussion wurde erheblich umfassender geführt und ist sehr viel besser dokumentiert als die vergleichbaren Vorgänge in der damaligen DDR.
- 2. Sie ist besonders instruktiv für die Kulturpolitik wie auch für die politische Streitkultur in der Spätphase des "Stalinismus".
- 3. Sie betraf mit ihrem Thema Faust- Goethe den zentralen Punkt des offiziellen DDR-Selbstverständnisses von der "Pflege der Nationalkultur".
- 4. Sie war engstens verbunden mit der SED-Politik zur "deutschen Frage" und "Einheit der Nation".
Faust als deutscher Nationalmythos
Die Geschichte vom Teufelsbündler Faust ist in Deutschland zu einem "nationalen Mythos" (3) geworden. Wohl kein anderer Stoff hat so viele Kunstschaffende angeregt, das Thema mit einer eigenen Version, mit einer eigenen Deutung weiterzuentwickeln und zu bereichern. Besonders seit der dramatischen Bearbeitung durch Goethe, die fast sein ganzes produktives Leben lang währte (4), wurde Faust zum "deutschesten" Stoff überhaupt. "Das Faustische" wurde zu einem Inbegriff deutscher Ideologie (5) und Kultur-Instrumentalisierung. Der Gründerzeit-Imperialismus des Kaiserreichs legitimierte sich über Goethes Faust, ebenso wie der NS-Staat, und so dann auch die beiden deutschen Republiken nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die konkret-politischen Inhalte, die mit dem Schlagwort des "Faustischen" verbunden wurden, wechselten mit den sich verändernden Bedingungen selbstverständlich radikal. Die paar Belegstellen in Goethes Faust, auf die man sich jeweils bezog, blieben jedoch im Wesentlichen immer die Gleichen. Es sind kaum mehr als vier oder fünf Sequenzen, insgesamt noch nicht einmal 100 Zeilen aus dem Riesenwerk. In der Hauptsache geht es um den Fünften Akt des Zweiten Teils, und hier vor allem die "Schlußvision" des erblindeten Faust kurz vor seinem Tod. Zynisch gesprochen und zugespitzt könnte man den Geist dieser Textstellen auf die Formel "Arbeit macht frei" bringen, mit allen Deutungsmöglichkeiten, die diesen Worten innewohnen oder ihnen beigegeben wurden.
Der Faust-Stoff ist damit sehr weit von seinen Ursprüngen entfernt worden. Johann Faust scheint eine real existierende Person gewesen zu sein, die ungefähr zwischen 1480 und 1540 gelebt hat. Die wenigen und schmalen Quellen kennzeichnen ihn als einen Magier und Alchemisten, der mehrfach Probleme mit Obrigkeit und Geistlichkeit hatte. Noch zu Lebzeiten wurde die reale Person von der Volksphantasie überwuchert und mystifiziert.
1587 erschien die erste große "Historia von D. Johann Fausten/ dem weitbeschreyten Zauberer unnd Schwartzkünstler". Beschrieben wird, wie Faust dem Teufel seine Seele verschreibt und dafür mit allerlei Zauberkräften ausgestattet wird. Das erlaubt ihm phantastische Abenteuer - einen Besuch in der Hölle, Luftreisen in entfernte Länder, Auftritte an Fürstenhöfen, eine Fahrt zu den Sternen usw. Vermischt ist das alles mit Gesprächen zwischen Faust und seinem teuflischen Diener Mephistopheles über naturwissenschaftliche Fragen. Zur Steigerung des Unterhaltungswerts sind mehrere Schelmenstreiche eingestreut, wie zum Beispiel: Faust frißt einem Bauern ein Fuder Heu samt Pferd und Wagen weg. Faust betrügt einen Roßtäuscher. Faust foppt eine Gesellschaft betrunkener Bauern.
Der Erfolg des Buchs war so grandios, daß noch im selben Jahr eine in Reimen gefaßte Version gedruckt wurde, die sich eng an das Vorbild anlehnt, aber kürzer als jene ist. In den Jahren 1587-89 wurde die "Historia" außerdem ins Englische und ins Französische übersetzt; in Lübeck wurde eine plattdeutsche Version gedruckt. Zwischen 1588 und 1593 schrieb der englische Dramatiker Christopher Marlowe - ein Zeitgenosse Shakespeares - die erste Bühnenfassung des Faust. Sie hat, wie die aus der Reformationsbewegung kommende "Historia", derbe papstfeindliche Momente. (England hatte sich unter Heinrich VIII. 1531 von der katholischen Kirche losgesagt).
Mischmasch von Mysterienspiel und Revue
Die wichtigste Überlieferungsform des populären Stoffs wurde in den folgenden Jahrhunderten das wandernde Puppentheater. So hat Goethe die Geschichte "entdeckt", und so kam seiner eigenen Darstellung zufolge auch Hanns Eisler auf den Geschmack. (6) Sicher festzustellen ist, daß sich Eislers Text enger an das Puppenspiel anlehnt als an Goethe oder irgendeine andere Faust-Version. (7) Ganz und gar aus dem Puppenspiel übernommen hat Eisler die Figur des verfressenen Spaßmachers Hanswurst (Kasper), der sich am Ende als Nachtwächter verdingt. Ebenfalls aus dem Puppenspiel kommt die Idee, daß der Teufel den auf 24 Jahre geschlossenen Pakt schon nach 12 Jahren für abgelaufen erklärt - ein an sich unwichtiges Detail, das aber aus der gleichlangen Zeitspanne 1933-45 aktuelle Brisanz bezog.
Die naive und konfuse, an märchenhaften und komischen Details überreiche ursprüngliche Faust-Version von 1587 entspricht sehr gut dem Medium des Puppentheaters oder einer mit ähnlichen Mitteln arbeitenden "Volksposse". Die frühe Bühnenversion von Christopher Marlowe war in diesem Sinn gehalten; es findet sich dort bereits die dem Hanswurst entsprechende Figur des Clowns. Ganz im Geiste des Puppenspiels ist bei Marlowe auch die Szene, in der Faust unsichtbar im Zimmer des Papstes steht und ihn ohrfeigt, bis er flüchtet.
Brecht notierte sich über Goethes Faust: "was für ein organisch gewordener mischmasch von mittelalterlichem Mysterienspiel und moderner revue!" (8). Aber hat nicht Goethe gerade diesen Charakter früherer Faust-Darstellungen gewissermaßen "verdorben"? Sicher läßt sich auch Goethes Faust revue-artig inszenieren, und besonders der Zweite Teil fordert dazu geradezu heraus. Dem im Weg steht aber die ideologische Überfrachtung des Werks, teils schon durch Goethe selbst, viel mehr aber noch durch seine Interpreten.
Zu dieser Überfrachtung gehört, daß Goethe ein wesentliches Element des Stoffs "gekippt" hat: Daß Faust, der sich mit seinem Blut dem Teufel verschrieben hat, am Ende mit Flammen und Rauch zur Hölle fährt, ist unverzichtbarer Teil, ja Zentrum der Geschichte, die eben eine ganz naiv erzählte Fabel von Schuld und Sühne ist. Goethe hat - wohl als einziger relevanter Bearbeiter des Stoffs - die Höllenfahrt durch einen Engelschor und die Erlösung von Fausts Seele ersetzt. Er hat mit dieser "Entschuldung" des Faust die wesentliche Voraussetzung geschaffen, die es dann gestattete, in Deutschland "das Faustische" unter wechselnden politischen Vorzeichen positiv zu interpretieren. Bis Goethe war Faust selbstverständlich stets als Negativgestalt aufgefaßt worden.
Auch in diesem Sinn ist Hanns Eisler in seinem Text-Entwurf zu den Ursprüngen zurückkehrt: sein Faust wird tatsächlich vom Teufel geholt. Damit erhält er die klassische Funktion als Lehrer durch negatives Beispiel zurück: "So ergeht es jedem, der sich so und so verhält!" Nur daß es bei Eisler selbstverständlich nicht mehr um Religion, Gott, Teufel, Sünde und Seelenheil geht, sondern um Klassenkampf und Verrat:
"Der eignen Kraft mißtrauend,
hab den Herren ich die Hand gegeben.
Gesunken bin ich tiefer als tief,
verspielt hab ich mein Leben.
Denn wer den Herren die Hand gibt,
dem wird sie verdorren.
Dem ersten Schritt folgte der zweite;
beim dritten war ich verloren.
Nun geh ich elend zugrund,
und so soll jeder gehn,
der nicht den Mut hat,
zu seiner Sach zu stehn."
So endet bei Eisler die "Confessio" (Bekenntnis, Geständnis) des Faust, kurz vor seinem Tod. Die reumütige Lebensbeichte als moralisches Vehikel findet sich auch schon in der "Historia" von 1587 und im Marlowe-Drama. In neuerer Zeit hat Thomas Mann dieses Motiv für seinen Faust-Roman (1947 publiziert) übernommen.
Goethes Faust Zwei mit seiner optimistischen, kraftstrotzenden, aktive Zuversicht ausstrahlenden, von keinem Schuldbewußtsein getrübten "Schlußvision" bietet scheinbar das genaue Gegenteil. Das macht, wie schon erwähnt, die propagandistische Benutzbarkeit der Textstelle aus. Ob das ganz in Goethes Sinn ist, kann bezweifelt werden. Der ironische Hintergrund ist nämlich: Der Faust der großen "Schlußvision" ist bereits erblindet. Sein Optimismus beruht auf einer Selbsttäuschung. Die klappernden Spaten, die Faust für die Geräusche eines großen, für Millionen segensreichen Aufbauwerks hält, schaufeln in Wirklichkeit sein Grab. So betrachtet hat der Ausspruch Walter Ulbrichts, in der DDR werde vom werktätigen Volk der Dritte Teil des Faust geschrieben (9), 1989/90 eine eigenartige Pointe erhalten.
Faust im Bauernkrieg
Reformation und Bauernkrieg, die zur Lebenszeit Fausts stattfanden, spielen in fast allen literarischen Bearbeitungen überhaupt keine Rolle. Wohl als erster hat F. M. Klinger, ein Zeitgenosse Goethes, diesen Background in seinen Faustroman (10) eingearbeitet, wenn auch in oberflächlicher und reaktionärer Art und Weise. Friedrich Theodor Vischer entwickelte seit 1839 in etlichen Arbeiten seine Kritik an der politischen Inkonsequenz von Faust Zwei: Goethe hätte nach Vischers Ansicht gut daran getan, Faust zu einem Führer der Volkskämpfe seiner Zeit, des Bauernkriegs, zu machen. Diese Kritik Vischers entwickelte sich allerdings mit der Zeit zu einer rein völkisch-deutschnationalen Position. (11)
Es scheint, daß Hanns Eisler der erste Autor überhaupt war, der die Figur des Faust konsequent in die Klassenkämpfe seiner Zeit hineingestellt hat. Gerade das wurde von der SED nicht etwa positiv gewertet, sondern dem Künstler übelgenommen. Mit dem Goethe-Werk war Faust als Gestalt außerhalb von Zeit und Raum, als geschichtsloser Schwadroneur kanonisiert worden. Und Goethes Faust galt nun einmal in der damaligen DDR als das höchste erreichte künstlerische und humanistische Niveau, hinter das kein Bearbeiter des Stoffs "zurückgehen" dürfe.
Eislers Faust-Text (12) beginnt nach der Niederlage der Bauernaufstände, 1525. Faust, der Überlieferung nach selbst Sohn einer Bauernfamilie, hat zeitweise mit den Rebellen und mit den revolutionären Forderungen von Thomas Münzer sympathisiert, sich dann aber aus den Kämpfen herausgehalten. Fausts Gewissen wird verkörpert durch das geschlagene Volk in der Gestalt des verstümmelten und geblendeten Bauern Karl. Der Invalide erscheint, geführt von einem bettelnden Knaben, mehrmals, um Faust auf den "richtigen Weg" zurückzurufen. Er erinnert an ein Element des alten Mysterienspiels, ähnlich wie bei Marlowe der "gute" und der "böse" Engel, die Faust in mehreren Szenen ihre Argumente vortragen.
Eislers Faust ist und bleibt Opportunist: "Der Luther hat recht gehabt: Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen." Und: "Karl, ich war nie gegen deinen Münzer, er war gut zum Lesen, aber mit den großen Herren raufen, das war töricht."
Als Faust den Pakt mit dem Teufel schließt, wünscht er sich "alle Lustbarkeiten der Welt", die Beherrschung aller Künste, und Ruhm. Noch wichtiger aber, so ist Eislers Absicht wohl zu interpretieren, ist ein Punkt, den Faust erst später ausspricht: Er braucht ein gutes Gewissen, will den Bauernkrieg und überhaupt die gesellschaftliche Situation vergessen. "Ich will reisen, hin, wo ich keine Krüppel, wo ich keine Ruinen, wo ich keine Verräter seh - wo mich keiner kennt."
Der zweite Akt spielt in Atlanta, eine sehr deutlich gezeichnete Anspielung auf die USA, wo Eisler selbst den größten Teil seines Exils verbracht hatte. In der Hauptsache geht es darum, daß Faust die "Herren und Damen" von Atlanta mit magischen Vorführungen unterhält. Die Themen sind aus der Bibel gewählt: David und Goliath, Josef und die Frau des Potifar, die drei Männer im Feuerofen. Die Idee ist unmittelbar dem Puppenspiel entnommen, wo Faust solche biblischen Bilder am Hof von Parma erscheinen läßt.
Eislers dialektische Zutat ist jedoch, daß dem Faust wider Willen alle Szenen so "mißraten", daß sie eine politische Anklage enthalten. Die objektive Wahrheit der Geschichte setzt sich durch. Das Resultat ist, daß "der Herr von Atlanta" höchst unzufrieden ist. Faust soll angeklagt werden und rettet sich durch Flucht. Eisler selbst hatte als eines der ersten Opfer der antikommunistischen Hexenjagd die USA 1948 verlassen müssen.
Eine der biblischen Spielszenen verdient besondere Erwähnung: Im alten Text (Daniel, 3) gehen die drei jüdischen Männer, die wegen ihres Glaubens verbrannt werden sollen, unversehrt aus dem Feuerofen hervor. Das hielt Eisler nach Auschwitz nicht mehr für angemessen. Die Männer "verbrennen zu Asche", aber das Lied, das sie anstimmten, wird von Negersklaven aufgenommen und weitergesungen: "Steh auf, Israel! Erhebe dich aus deiner Schmach!". - Eine Dame von Atlanta: "Das hättet ihr nicht zeigen dürfen! So was will man nicht wissen, und vor allem nicht daran erinnert werden." - Faust: "Es ist die Wahrheit. Ich habe sie gesehen, ich kann sie nicht verschweigen. Die Lüge kehrt sich in meinem Mund. O Wahrheit, bitterer Trank! O Wissen, du mein Unglück!"
Der dritte Akt spielt in Wittenberg. Faust will Ruhm und Ehrungen, und Mephisto weiß Rat: "Den Münzer niederzutreten, hat Geld gekostet. Die Herren haben Schulden. Gierig blicken sie nach dem Osten, da wär noch was zu holen, und planen neue Raubzüg; doch fehlts an Geld. Ich werd verbreiten, daß du Kredite atlantischen Golds vermitteln kannst. Vor einem Mann, der Gold verschaffen kann, verneigt sich der Kaiser." - Hier sind die aktuellen Anspielungen (Revanchismus, Marshallplan) vielleicht etwas zu direkt und platt geraten.
Bei einer von Faust arrangierten Ausstellung von "Schätzen aus Atlanta" beginnt das Volk, die Vitrinen zu plündern. Fausts Wache schießt in die Menge. In der nächsten Szene kommen Deputationen des Adels und der Wissenschaft, um Faust zu ehren. Mephisto: "Die den Münzer niedergetreten haben, überbringen dir eine Ehrenkette." - Als auch noch "die Leuchte der deutschen Nation", Martin Luther, erscheint, "um seinen Lieblingsschüler zu umarmen", verliert Faust die Fassung. Es folgt seine Confessio, die Lebensbeichte eines Menschen, der "seine Klasse und seine Sache verraten" hat.
Kann Faust noch "umkehren"? Ja, sagt Mephisto, jeder kann umkehren und niemand ist verloren, solange er lebt. Und Nein, sagt Mephisto, denn die Zeit, die er Faust verkauft hat, ist abgelaufen. Eine widersprüchliche Auskunft also, mit der Eisler sein Publikum entlassen wollte, sofern es sich von der Botschaft betroffen gefühlt hätte. Faust jedenfalls ist vernichtet. Und ganz wie im alten Mysterienspiel hören wir die mächtige Stimme aus dem Off: "Fauste, in aeternum damnatus es", auf ewig bist du verdammt. Faust als Lehrer durch negatives Beispiel wendet sich mit seinen letzten Worten an das Publikum: "Ihr Menschen, die nach mir lebt, gedenkt des Faust und seiner großen Strafe".
Die Schule, aus der das kommt
Den ersten Entwurf zu seinem Faust-Libretto beendete Hanns Eisler am 13. Juli 1951 - dem Todestag seines Lehrers Arnold Schönberg. Am 16. Juli 1951 notierte Eisler: "Mit meiner Oper hoffe ich einen neuen Weg gehen zu können, der uns aus dieser Verwirrtheit herausbringt. Ich kann das nur tun, wenn ich nicht experimentiere, wie mein (großartiger) Freund Brecht, oder gar provoziere und schockiere, wie es ebenfalls Brecht liegt, sondern indem ich mit einer reifen, runden, gültigen Leistung komme; sie muß begriffen werden von den unerfahrenen Ohren und den erfahrensten, und der Text muß begriffen werden von den Unerfahrensten und den Gebildetsten ... Die Auffassung Fausts scheine ich gefunden zu haben und von Freunden, denen ich sie erklärte, wurde ich sehr ermuntert." (13)
Dennoch arbeitete Eisler weiter an diesem Entwurf und schloß die Arbeit erst am 12. August 1952 ab. Er schickte umgehend ein Exemplar an Brecht "zur Kritik und Feinarbeit". Zwischen 25. August und 30. August arbeiteten Eisler und Brecht gemeinsam den Text noch einmal durch. Am 25. Juli hatte Eisler an Brecht geschrieben: "Ich bereu fast doch, daß ich letzten Sommer diese Arbeit nicht mit Dir zusammen gemacht habe, Deine unvergleichliche Sprachkraft hätte den Text der Oper in eine Kunsthöhe gehoben, dir mir nicht erreichbar ist und davon hätte auch die Musik profitieren können. Der Grund ist klar, ich wollt' nicht immer an Deinen Triumphwagen gespannt sein. Das war töricht von mir, denn wer wird nicht beim Faustus sofort die Schule bemerken, aus der das kommt." (14)
Die gedruckte Ausgabe des Textbuchs erschien Ende 1952. Schon vorher wurden im Novemberheft der DDR-Literaturzeitschrift "Sinn und Form" umfangreiche Auszüge abgedruckt. Im gleichen Heft erschien eine Lobschrift des österreichischen Kommunisten Ernst Fischer auf Eislers Faust. An diesem Essay, mehr als an dem Libretto selbst, entzündete sich dann 1953 die Debatte.
Außerdem hatte Eisler noch vor Erscheinen des Buches sein Script an Thomas Mann und Lion Feuchtwanger geschickt und anscheinend um deren Urteil gebeten. Beide äußerten sich positiv - Mann vielleicht eher ein bißchen zurückhaltend und zweideutig, Feuchtwanger begeistert. Da Eisler sich später im Streit auch auf das Urteil der beiden berief, ist nicht auszuschließen, daß er mit der Zusendung des Textes bewußt vorausschauend "Rückendeckung" gesucht hatte. (Thomas Mann war in der DDR jener Jahre wohl der am meisten geachtete und hofierte Nicht- Sozialist überhaupt.)
Spätestens im Februar 1953 wurde SED-intern der Streit vorbereitet. Schon zu dieser Zeit war offenbar beschlossene Sache, daß im "Neuen Deutschland" gegen den Eisler-Faust polemisiert werden sollte. Doch stand der Autor noch nicht fest. Am 5. März schrieb Wilhelm Girnus, Hauptakteur der späteren Angriffe, an Eisler: "Wir haben in der Redaktion den Beschluß keineswegs sporadisch und rein individualistisch, sondern wir haben diesen Beschluß (die Artikel zu veröffentlichen) auf Grund von Parteibeschlüssen gefaßt, wie wir überhaupt in solchen grundlegenden Fragen niemals ohne vorherige Fühlungsnahme mit dem ZK handeln."(15)
Zuerst aber eröffnete ein Germanistik- Student (!) aus Jena namens Hans Richter in der Nr. 4 (April?) der Zeitschrift "Neue Deutsche Literatur" den Angriff auf Eislers Faust. Erst am 14. Mai 1953 erschien dann im "Neuen Deutschland" die Stellungnahme des Redaktionskollektivs, offensichtlich im wesentlichen von Girnus formuliert. (16) Etwa gleichzeitig wurde im "Sonntag" vom 17. Mai eine Kritik von Alexander Abusch (17) veröffentlicht, die im Ton deutlich moderater und in der Sache etwas produktiver argumentierte, allerdings gleichfalls eine scharfe Verurteilung des Eisler-Textes ausdrückte. Am 13. und 27. Mai sowie am 10. Juni 1953 fanden im Hause der Akademie der Künste Diskussionsabende über das Faust-Libretto statt. Beteiligt waren u.a. Eisler, Brecht, Girnus, Abusch, Becher und Arnold Zweig. (18)
Eine Zentralgestalt der deutschen Misere
Betrachten wir zunächst die Interpretation von Ernst Fischer. Einige Vorbemerkungen zur Person sind notwendig. Fischer war Austro-Marxist gewesen - als solcher also vom streng dogmatischen Standpunkt aus schon suspekt. 1934 wurde er Kommunist; nach dem Krieg war er einer der führenden Politikern der KPÖ, deren ZK er bis 1969 angehörte. 1968 verurteilte er die Intervention in der CSSR und wurde deshalb ein Jahr später aus der KPÖ ausgeschlossen.
Mit Hanns Eisler war Fischer sehr eng befreundet aus der Zeit Ende der 40er Jahre, als dieser sich in Wien aufhielt. Fischer lebte seither mit Eislers früherer Frau Louise zusammen, die nach wie vor eine der wichtigsten Ansprechpartner für Eisler war. Sein Faust-Script hatte er den beiden noch während der Arbeit stückweise zugeschickt oder ihnen daraus vorgelesen, um ihre Meinung zu erfahren. (19)
Diese kleine Vorgeschichte ist notwendig, um zu verstehen, warum die SED auf Fischers Essay so reagierte, als handele es sich um eine von Eisler selbst autorisierte Interpretation seiner Arbeit. Das war wahrscheinlich nicht der Fall. Andererseits war Eisler selbstverständlich nicht im geringsten bereit, die ständig wiederholte inquisitorische Frage vor allem von Girnus', wie er denn nun zu Fischers Artikel stehe, mit einer Distanzierung zu beantworten. Im Gegenteil fühlte er sich verpflichtet, in den Diskussionen für seinen alten Freund "eine gewaltige Lanze zu reiten", wie er an seine Ex-Ehefrau schrieb.(20)
Und was war denn nun das Entsetzliche, Verdammenswerte, "Volksfremde und Antinationale" (Girnus) in Fischers Artikel? "Es war geschichtlich berechtigt" (bei Goethe), "die Faustgestalt mit den großen Ideen des bürgerlichen Humanismus zu identifizieren und dichterisch die Hoffnung auszusprechen, die faustische Entwicklung müsse den Teufelspakt sprengen, der Teufel werde der Betrogene sein. Die Hoffnung war illusorisch; der Teufelspakt der deutschen Nation war mächtiger als die Goethesche Humanität, und so galt es, neue, schmerzliche Erfahrungen in den Faust-Stoff hineinzuarbeiten. Eislers ,Doktor Faustus` ist eine echte Tragödie, im Schicksal eines einzelnen die Tragödie eines Volkes, der Teufelspakt als Flucht vor geschichtlicher Verantwortung."
(Der gleiche Grundgedanke, Faust als Sinnbild der selbstverschuldeten Tragödie des deutschen Volkes, liegt dem Roman von Thomas Mann zugrunde. Das aber mochte in der DDR niemand öffentlich kritisieren, weil Mann als wertvollster aller "Bündnispartner" absolut tabu war.)
In der Gestalt des Faust habe Eisler "eine Zentralgestalt der deutschen Misere reproduziert: den deutschen Humanisten, der vor der Revolution zurückweicht ... Der deutsche Humanist als Renegat, wenn es darum geht, die humanitas in gesellschaftliche Tat umzusetzen, den Klassenkampf nicht mehr in den Wolken der Ideologie, sondern auf platter Erde auszufechten ... In dieser Gestalt tritt uns wahrhaft ein Grundphänomen der deutschen Misere, der deutschen Katastrophe entgegen." Und schlimmer noch: während dies früher eine "jämmerliche Besonderheit der deutschen Geschichte" gewesen sei, sei es "heute zu einem allgemeinen Merkmal der kapitalistischen Welt geworden (wieder mit ruhmvollen Ausnahmen), daß Philosophen, Gelehrte, Schriftsteller, Künstler nicht für die Welt des Sozialismus Partei ergreifen, sondern einen Teufelspakt mit dem Imperialismus schließen, zu Renegaten des Geistes werden ...".
Der Gedanke der "deutschen Misere", des verhängnisvollen Zurückbleibens der Verhältnisse in Deutschland, war an sich weder neu noch provokant. Er findet sich bereits bei Friedrich Engels, der so wie Fischer und viele andere gerade den Bauernkrieg von 1525 als den entscheidenden Punkt der neueren deutschen Geschichte, als die große "verpaßte Gelegenheit" angesehen hatte.
Alexander Abusch, der 1953 im Faust- Streit eine unrühmliche Rolle spielte, hatte in seiner 1946 erschienenen Schrift "Der Irrweg einer Nation" die deutsche Misere gründlich dargestellt. Luther, der 1953 als nationales Erbe verteidigt wurde (21), war 1946 bei Abusch noch der "Totengräber der deutschen Freiheit" und "die größte geistige Figur der deutschen Gegenrevolution für Jahrhunderte" (S. 20-23). Abusch schrieb dort: "Die Geschichte des deutschen Volkes ist die Geschichte eines durch Gewalt politisch rückständig gemachten Volkes. Aber jedes Volk, das den Anspruch erheben will, ein mündiges und selbstbestimmtes Volk zu sein, trägt die Verantwortung für seine eigene Geschichte und ihre falsche Entwicklung." (S. 252) "Aber da Hitler siegte, kann sich die deutsche Selbstkritik nicht mehr auf die Jahre vor und nach 1933 beschränken. Die Enthüllung aller reaktionären Elemente in der deutschen Geschichte, Literatur und Philosophie, die zu Wegbereitern für Hitler werden und seine Herrschaft begünstigen konnten, ist zur unabdingbaren Verpflichtung geworden. Die ganze verpfuschte Geschichte der deutschen Nation steht zur Kritik in dieser Selbstprüfung, die eine tiefe Selbstreinigung erstrebt." (S. 257)
In seinem Aufsatz für "Sinn und Form" warf Ernst Fischer die Frage auf, ob denn "wirklich die gesamte Geschichte Deutschlands ... als Irrweg widerlegt" sei? Nein, gab Fischer selbst die Antwort: es gab und gibt immer auch fortschrittliche Gegentendenzen; "es gab und gibt das deutsche Volk, und auch dieses Volk hat, wie Engels hervorhob, seine revolutionären Traditionen"; und es gebe zwar in Westdeutschland die "nationale Entwürdigung", gleichzeitig aber auch in der DDR eine "nationale Wiedergeburt, nationale Erneuerung". - Man sieht: auch Fischer bediente sich nationaler Parolen, und sei es vielleicht nur, um besser verstanden zu werden. Geholfen hat das ihm und Eisler bei ihren Kritikern aber herzlich wenig.
Pessimistisch, volksfremd, ausweglos, antinational
Kernpunkt der von Girnus geprägten Stellungnahme im "Neuen Deutschland" war der Vorwurf, Fischer und Eisler würden "das deutsche Volk mit den Hitlerbarbaren gleichsetzen", "dem deutschen Nationalgefühl ins Gesicht schlagen", und außerdem "unser klassisches Kulturerbe verneinen". "Unzweifelhaft liegt die tiefste Ursache darin, daß dem Verfasser und seinen Ratgebern die Erkenntnis von der Bedeutung des Patriotismus - für die Nation und für die Entwicklung der Kunst - fehlt." Eislers Faust sei "pessimistisch, volksfremd, ausweglos, antinational".
Beweis? "Die Leugnung des Fortschritts und die Darstellung der deutschen Geschichte als eine ununterbrochene Misere ist eine reaktionäre Konzeption, die objektiv dazu dient, die nationale Würde und das Nationalbewußtsein des deutschen Volkes zu zerstören." - Aber eine solche Theorie hatte Ernst Fischer nicht vertreten, und noch weniger ist sie aus Eislers Faust-Entwurf herauszulesen. Mit Grund konnte Eisler im Gegenteil argumentieren, ihm sei es doch darum gegangen, am Beispiel der Bauernrevolution und Thomas Münzers die revolutionären Traditionen in der deutschen Geschichte zu rühmen.
Wie also argumentierte Girnus, um seine Vorwürfe zu begründen? Goethes Faust habe "einen zentralen, epochemachenden Platz in der Entwicklung der deutschen Nation". "In der Gestalt Faust sind die besten und progressivsten Züge dreihundertjähriger deutscher Geschichte enthalten". Also müsse auch Eislers Faust nicht als ganz bestimmter Typus - der intellektuelle Opportunist und Verräter - begriffen werden, sondern als "eine poetische Verallgemeinerung des geistig schöpferischen Deutschen schlechthin". Faust dürfe, zumindest seit der Formung durch Goethe, nicht als Negativgestalt abgebildet werden, um nicht "die gesamte deutsche Nation" zu beleidigen.
In der späteren Diskussion verrannte sich Girnus an diesem Punkt noch heftiger. Was sei denn "typisch für die deutsche Geschichte"? Typisch sei letzten Endes "die progressive Substanz des deutschen Volkes", und genau das sei auch der Grundgedanke des Goethe-Faust, der eigentlich "der deutsche Nationalheld" sei. In dem Eisler-Text fehle "die Liebe zum deutschen Volk", ohne die man eben kein nationales Drama und keine Nationaloper schreiben könne. "Das ist wiederum ein Resultat jener Propaganda, die Internationalismus und Kosmopolitismus gleichsetzt" und die nicht erkennt, "daß der Patriotismus kein taktischer Winkelzug ist, sondern daß das ein unlösbarer Bestandteil des Kampfes für eine höhere Gesellschaftordnung ist." (22) Bei Eisler komme eine "Fremdheit gegenüber dem deutschen Volk" zum Ausdruck, als Folge von "Überresten kosmopolitischer Auffassungen". Aber, bitteschön, "das ist keinesfalls als Diffamierung gemeint, sondern als Hilfe". (23)
Das war es eben, was man damals unter einer "kameradschaftlichen Diskussion" verstand. Niemand, auch nicht Eisler oder Brecht, und schon gar nicht der selbst wegen seiner jüdischen Herkunft angeschlagene Abusch, verwahrte sich gegen die Diktion. Nur Walter Felsenstein (24) als eher Außenstehender beklagte mit einer sympathisch-naiven Erschrockenheit die "Aggressivität" der Angriffe, die ihm "Herzklopfen" verursache. Da werde Eisler ja geradezu als "kulturpolitischer Verbrecher und Vaterlandsverräter" hingestellt. (25)
Zur gleichen Zeit, am 27. Mai 1953, erschien im "Neuen Deutschland" in ähnlicher Tonart ein Artikel von Johanna Rudolph. Sie kritisierte, indem sie direkt die Linien zum Eisler-Text zog, eine Aufführung des Goetheschen Faustfragments ("Urfaust") durch das Berliner Ensemble. Regie: Bertolt Brecht und Egon Monk. Kleiner Schönheitsfehler: zwei Wochen vor Erscheinen der Polemik hatte Brecht die Inszenierung selbst "zurückgezogen". Bis dahin war das Stück schon zwischen April und Juni 1952 in Potsdam gezeigt worden, im März 1953 hatte es Premiere in Berlin gehabt. Auch hier wurde, sicher zu recht, eine Demontage des von der SED heiliggesprochenen Goethe-Faust beanstandet. Nur, daß dies in einem sozialistischen Staat das Todesurteil für eine Inszenierung bedeuten sollte, ist im historischen Rückblick schwer einzusehen. Erstaunlich ist, wie relativ klaglos Brecht solche Schläge, wie auch das offizielle Verdikt gegen seine Oper "Das Verhör des Lukullus" (Musik von Paul Dessau) im Jahre 1951, hinnahm.
Die Oper war in einer Stellungnahme des "Neuen Deutschland" am 22. März 1951 angegriffen worden. Die scharfe Polemik richtete sich vor allem gegen Dessaus Musik. In inquisitorischer Diktion, die wieder einmal auf die Hand von Girnus hindeutet, hieß es abschließend: Es sei "nicht recht begreiflich", warum die Staatsoper das Werk überhaupt einstudiert habe. Es richte sich doch nur auf "eine kleine Minderheit stagnierender Intellektueller"; "unsere Bevölkerung" habe ganz andere kulturelle Bedürfnis. Es sei erforderlich, die Spielplangestaltung der Staatsoper zu "diskutieren" und zu "überprüfen". Der Kunstkritiker und der Zensor in einer Person!
In einer späteren Stellungnahme des ND (19. Dezember 1952) hieß es, unter Berufung auf entsprechende Formulierungen im Volkswirtschaftsplan (!) für 1953: "Die wichtigste Aufgabe der Deutschen Staatsoper besteht darin, beizutragen, daß die Werktätigen Besitz von der deutschen Kultur ergreifen, indem sie sich das Ziel setzt, die großen musikalischen Traditionen der deutschen klassischen Oper zu pflegen, den fortschrittlichen und humanistischen Ideengehalt dieser Werke herauszuarbeiten und dadurch die Werktätigen im patriotischen Geiste zu erziehen. Zu den bedeutendsten Traditionen auf dem Gebiet der deutschen Oper gehören die Werke von Gluck, Mozart, Wagner (!), Weber, Lortzing."
In diesem Artikel kam das ND noch einmal auf Dessaus Lukullus-Musik zurück:
"Es ist einleuchtend, daß eine solche Musik den Charakter der Deutschen Staatsoper als der führenden deutschen Musikinstitution zerstören muß, da sie in ihrer Tendenz volksfeindlich und antinational ist. Was ist der Erfolg eines solchen ,musikalischen` Schaffens: Die Werktätigen haben kein Interesse daran und verspüren nicht die geringste Lust, sich so etwas anzuhören.
In diesem Zusammenhang ist es nicht überflüssig, wenigstens in einigen Worten auch auf das Schaffen des Komponisten Hanns Eisler einzugehen, der ein begabter Komponist ist und sich Verdienste um die deutsche Musik erworben hat. Auch seine Schöpfungen zeigen eine Reihe noch nicht überwundener Züge des Formalismus (26). Der Komponist legt darüber hinaus nicht selten ein persönliches Betragen an den Tag, das berechtigte Empörung hervorruft. Die fortschrittlichen Kräfte in Deutschland dürften erwarten, daß ein Komponist von seinen Fähigkeiten an der Spitze des Kampfes gegen den Formalismus steht. Das kann leider bis jetzt von Nationalpreisträger Prof. Hanns Eisler nicht gesagt werden.
Es ist deshalb unwürdig, Werke, die eindeutig unseren großen nationalen Musiktraditionen widersprechen und ihre Herkunft aus der Ideenwelt des heimatlosen Kosmopolitismus deutlich verraten, unseren Werktätigen vorzusetzen. Durch solche Experimente werden nur öffentliche Mittel nutzlos verschwendet."
Keine Alternative außerhalb der DDR
Diese Polemik macht deutlich, daß Eisler wohl nicht nur mit dem Text seiner Faust- Oper Probleme gekriegt hätte, wenn er ans Komponieren gegangen wäre. Nach der Faust-Debatte zog sich Eisler erst einmal nach Wien zu Ernst und Louise Fischer zurück. Von dort schrieb er am 30. Oktober 1953 an das ZK der SED: Die DDR habe ihm "große Möglichkeiten geboten". Er habe manches komponieren können, was "die Massen erreicht hat" - die Nationalhymne, die Parteikantate und Jugendlieder (alles zu Texten von Becher). "Trotzdem weiß ich, daß ich mehr zu leisten vermag und bin von meiner Tätigkeit unbefriedigt. Viele meiner Werke liegen in der Schreibtischlade, darunter mehr als 500 (!) Lieder, Kantaten, Orchester- und Kammermusiken. Ich fühlte, daß keinerlei Bereitschaft bestand, diese Werke, die in einem immerhin kampferfüllten Leben von drei Jahrzehnten entstanden sind, zu akzeptieren. Musiker, die Werke von mir aufführten oder rezensierten, wurden als Vertreter einer unerwünschten Kunstrichtung behandelt."
Selbstverständlich, so schrieb Eisler weiter, sei Kritik an künstlerischen Arbeiten notwendig, "aber nicht Kritik, die jeden Enthusiasmus bricht, das Ansehen des Künstlers herabsetzt und sein menschliches Selbstbewußtsein untergräbt. Nach der Faust-Attacke merkte ich, daß mir jeder Impuls, Musik zu schreiben, abhanden gekommen war. So kam ich in einen Zustand tiefster Depression, wie ich sie kaum jemals erfahren habe." Und doch habe er keine Hoffnung, überhaupt irgendwo anders als eben in der DDR den "für mich lebenswichtigen Impuls, Musik zu schreiben", wiederzufinden. "Ich kann mir meinen Platz als Künstler nur in dem Teil Deutschlands vorstellen, wo die Grundlagen des Sozialismus neu aufgebaut werden."
Diskussionen, Streitereien, Polemiken wie die hier vorgestellte setzten die nahezu unbegrenzte Bereitschaft, Geduld und sogar Bereitwilligkeit sozialistischer Künstler voraus, sich auf diese Ebene einzulassen. Daß die Partei sich in die Kunst einmischte, politisch-ideologische Vorgaben machte, Richtlinien nicht nur zur Diskussion stellte, sondern auch durchsetzte, war anscheinend einem Großteil der sozialistischen Künstler nicht völlig unerwünscht. Viele von ihnen wollten sich in ein gesellschaftliches Aufbauwerk eingliedern, das als einzige mögliche Alternative zur BRD und zum Imperialismus begriffen wurde. Die Kritik der Partei hätte man sich gewiß oft anders gewünscht, hilfreich und argumentierend, statt schnauzend und befehlend. Aber man sah auch, daß SED und DDR erst einmal so akzeptiert werden mußten, wie sie real nun einmal waren. Das bedeutete nicht Abfinden mit der gegebenen Lage, aber doch ein hohes Maß an Geduld, Flexibilität bis zum Opportunismus, persönlicher Zurückhaltung und auch Demut im Umgang mit der SED. Intern und mit ihrer eigenen Praxis widersprachen viele sozialistische Künstler der deutschnational und antimodernistisch geprägten Kulturpolitik der SED. Für öffentliche Diskussionen ließ die Partei- und Staatspresse kaum Raum - und wenn, dann keinesfalls in den zentralen Medien, sondern nur in Spezialzeitschriften. Von Eisler weiß man, daß er zu mehreren Themen präzise argumentierende Artikel an das "Neue Deutschland" geschickt hat, die nicht gedruckt wurden.
Knut Mellenthin
analyse & kritik, 11. März 1992
Anmerkungen
1) Das "Faust"-Problem und die deutsche Geschichte. ND vom 14.5.53. Der Artikel, der vom Redaktionskollektiv unterzeichnet war, ist nachgedruckt bei Hans Bunge, Die Debatte um Hanns Eislers "Johann Faustus", Berlin 1991, S. 91 ff. Die Bunge-Dokumentation enthält nahezu sämtliche Texte und Äußerungen zur damaligen Faust-Debatte.
2) Rede Ulbrichts auf einer Konferenz von Angehörigen der Intelligenz in Berlin am 27.5.53. Ulbricht bezog seinen Angriff ausdrücklich auf Eislers Faust-Text und fuhr dann fort: "Wir führen den Kampf gegen diese Verfälschung und Entstellung der deutschen Kultur, gegen diese Mißachtung des deutschen Kulturerbes, für die Verteidigung der großen Leistungen unserer Klassiker auf allen Gebieten." - Zitiert nach Deborah Vietor-Engländer, Faust in der DDR, Frankfurt 1987, S. 154.
3) Klaus F. Gille: "Faust" als nationaler Mythos. Weimarer Beiträge, Heft 4/1991. Es wird dort besonders die Faust- Rezeption in der DDR unter dem Aspekt des Nationalmythos analysiert. Das gleiche Thema hatte der Autor auch schon in der Zeitschrift Neophilologus, Heft 68/1984, bearbeitet.
4) Beginn am Faust spätestens 1775. 1790 Druck von Faust, ein Fragment ("Urfaust"). 1808 erscheint Faust, erster Teil. Einzelstücke zum zweiten Teil werden 1826 und 1827 gedruckt. Der ganze Faust, zweiter Teil, wird erst kurz nach Goethes Tod 1832 herausgegeben.
5) Hans Schwerte: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie. Stuttgart 1962. Der Autor beschreibt sehr ausführlich die Entstehungsgeschichte und die unterschiedlichen Interpretationen des Begriffs des "Faustischen" seit Goethe, leider aber nur bis 1933.
6) Hanns Eisler erklärte zu Beginn einer Diskussion am 27. Mai 1953 im Hause der Akademie der Künste: "Es scheint mir nötig, Ihnen zu berichten, wie und warum ich die Oper schrieb. In der Akademie brachte uns vor zwei Jahren ein erzgebirgischer Puppenspieler das Puppenspiel ,Faust`, und es gefiel mir wieder außerordentlich ... Ich bekam Lust, das Puppenspiel zu komponieren." (Bunge, S. 139)
7) Das Puppentheater arbeitete mit mündlich weitergegebenen Texten; Improvisationen und aktuelle Anspielungen während der Aufführung waren erwünscht. Erst im Laufe des vorigen Jahrhunderts wurde begonnen, eine schriftliche Version des Faust-Puppenspiels zu fixieren. Eisler hat sich vermutlich an das "Puppenspiel in vier Aufzügen" gehalten, das 1846 von Karl Simrock herausgegeben wurde.
8) Arbeitsjournal, S. 477.
9) Rede Ulbrichts am 25.3.62, abgedruckt im ND vom 28.3.62. Zitiert nach D. Vietor-Engländer, S. 59-61.
10) Friedrich Maximilian Klinger: Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt. 1791.
11) Nach H. Schwerte, S. 95-98 und S. 165-167.
12) Erstmals Ende 1952 im Aufbau- Verlag erschienen; Neudruck in der DDR 1983 beim Henschelverlag, bearbeitet von Hans Bunge als "Ausgabe letzter Hand", d.h. mit Änderungen, die Eisler aufgrund der Diskussion nachträglich an dem 1952 gedruckten Text vorgenommen hatte. Vor allem hatte Eisler an zwei Stellen einen Bauernchor eingefügt, um das Volk deutlicher in Erscheinung treten zu lassen. Siehe auch Bunge, Dokumentation, S. 385 und 389.
13) Hanns Eisler, Schriften 1948-1962. Berlin/DDR, 1982. S. 132-133.
14) Zitiert bei Walter Pallus und Gunnar Müller-Waldeck (Hrg.): Neuanfänge. Studien zur frühen DDR-Literatur. Berlin/DDR 1986. S. 134-135. Wichtig zum Thema ist in diesem Band der Aufsatz von Müller-Waldeck: Zur Gestaltung des Bauernkriegsstoffes in der DDR-Dramatik um 1950.
15) Zitiert bei D. Vietor-Engländer, S. 182-183. Die Spuren dieser "Fühlungnahme" sind vielleicht im Parteiarchiv zu finden.
16) Girnus (1906-1985) gehörte dem ND-Redaktionskollektiv an und war maßgebliches Mitglied der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten, der Vorläuferin des erst 1954 gegründeten Kulturministeriums. Die inquisitorische Diktion von Girnus ist in der ND-Stellungnahme unverkennbar. Alexander Abusch nennt in seinen Memoiren umstandslos Girnus als Verfasser des ND-Artikels. (Mit offenem Visier. Berlin/DDR. S. 289). Wegen der teilweise stark deutschnationalen Töne in Girnus' Polemik sei erwähnt, daß er seit 1929 KPD-Mitglied war und die NS-Zeit, abgesehen von kurzen Unterbrechungen, in Gefängnissen und KZs verbracht hat.
17) Alexander Abusch (1902-1985) war zur Zeit des Faust-Streits Vorstandsmitglied im DDR- Schriftstellerverband. Er war später stellvertr. Kulturminister 1954-56, dann Staatssekretär 1956-58, schließlich selbst Kulturminister 1958-61; seit 1957 gehörte er dem ZK der SED an. Abusch brachte einige Voraussetzungen mit, die ihn in den Jahren 1949-52 als "Säuberungs"opfer prädestinierten: er war Jude, hatte die Zeit des Exils im Westen verbracht und hatte damals mit vielen Parteimitgliedern zusammengearbeitet, die 1951-52 als "Verräter" verhaftet wurden. (Paul Merker, Lex Ende, Otto Katz u.a.) Er geriet 1951 in eine "Überprüfung" und verlor seine Parteifunktionen, kam aber schließlich glimpflich davon.
18) Die Protokolle wurden erstmals in der Bunge-Dokumentation von 1991 veröffentlicht. Alle anderen Texte dieses Buchs waren schon an anderer Stelle publiziert worden.
19) Nach D. Vietor-Engländer, S. 176, die aus Fischer, Überlegungen zur Situation der Kunst, Zürich 1971, zitiert.
20) Eisler, Schriften, S. 277.
21) Ein richtungweisender Artikel über Luther, verfaßt von Kurt Hager, erschien am 31. Januar 1953 im ND. Bereits am 2. September 1952 war ein positiver Aufsatz über "Luthers nationale Sendung" im ND zu lesen. Eisler schrieb eine Erwiderung, die vom ND aber nicht veröffentlicht wurde. Es heißt da: "Es geht doch nicht an, den deutschen Arbeitern und Bauern in ihren Wohnstuben neben die fragwürdigen Figuren Turnvater Jahn und Theodor Körner auch noch die des Luther hinzustellen." Im übrigen verwarf Eisler das Wort "Sendung", das durch seinen Gebrauch in den Jahren 1933-45 diskreditiert sei. (Schriften, S. 249)
22) Diskussion am 27. Mai. Bunge, S. 151.
23) Diskussion am 13. Mai. Bunge, S. 71.
24) Felsenstein (1901-1975) war Österreicher und leitete ab 1947 die Komische Oper in Ostberlin als Intendant. Er hatte sich, wie er in der Diskussion sagte, von Eisler das Uraufführungsrecht gesichert, falls die Oper komponiert würde. Außerdem sagte er, was nach dem Gang der Dinge kaum zu bestreiten ist, es sei von Eisler ein Fehler gewesen, das Textbuch im Voraus zu veröffentlichen.
25) Diskussion am 27. Mai. Bunge, S. 156-157.
26) Formalismus: Sammelbegriff für künstlerische Stile und Arbeitsformen, die im Gegensatz zum "sozialistischen Realismus" stehen, beispielsweise abstrakte oder expressionistische Malerei. Der "Formalismus" wurde als Ausdruck spätbürgerlicher Dekadenz und als Instrument des Imperialismus zur Unterwanderung der sozialistischen Länder interpretiert.
Im nächsten ak erscheint ein weiterer Artikel zur Arbeit von Hanns Eisler unter den Aspekten:
- Revolutionäre Musik in der Weimarer Republik
- Zdanov's Säuberung der Musik von "Kakophonie" und "Formalismus".