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Die Wunder von Stammheim

In den frühen Morgenstunden des 18. Oktober 1977 starben im sogenannten Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt in Stuttgart-Stammheim drei der bekanntesten Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“, RAF: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Die ebenfalls dort eingesperrte Irmgard Möller überlebte mit mehreren Stichwunden in der Brust, die mit einem Messer aus dem Essbesteck des Gefängnisses herbeigeführt worden waren. Die beiden Männer starben durch Kopfschüsse aus zwei verschiedenen Handfeuerwaffen, Ensslin durch Erhängen mit einem Anschlusskabel für den Plattenspieler in ihrer Zelle. Zwar hatte man den Gefangenen diese Geräte schon mehrere Wochen zuvor abgenommen. Aber das Kabel sei, so hieß es, aus unerklärlichen Gründen zurückgelassen worden.

Es waren nicht die ersten fragwürdigen Selbstmorde unter den RAF-Gefangenen: Am 9. Mai 1976 war die frühere Journalistin der Zeitschrift Konkret, Ulrike Meinhof, ebenfalls erhängt aufgefunden worden. Angeblich in derselben Zelle, in der 1977 Gudrun Ensslin starb. Und die „Stammheimer Todesnacht“ bedeutete auch noch nicht das Ende der angeblichen Selbstmorde: Am 12. November 1977 kam Ingrid Schubert in der JVA München-Stadelheim durch Erhängen zu Tode – fünf Tage nach ihrem 33. Geburtstag. Im Gegensatz zu den vier anderen Gefangenen war Schubert nicht zu „lebenslänglich“, sondern nur zu einer begrenzten Haftstrafe verurteilt worden. Sie konnte darauf hoffen, schon 1979 in die Freiheit entlassen zu werden. Also kein glaubwürdiger Hintergrund für eine Verzweiflungstat, die ihr sofort und einstimmig in den Mainstream-Medien unterstellt wurde.

Der Arbeiterkampf, die Zeitung der damals neben der DKP bedeutendsten linken Organisation, des Kommunistischen Bundes, erschien in seiner ersten Ausgabe nach der Todesnacht vom 18. Oktober mit der Titelschlagzeile „Wir glauben nicht an Selbstmord!“. Darüber waren Fotos von Meinhof, Baader, Ensslin und Raspe montiert. Im Inneren der Zeitung wurden auf über zwei Seiten detailliert die Gründe für diese Aussage aufgezählt. Es handelte sich dabei nicht um eine diffuse „Verschwörungstheorie“, sondern um genau belegte sachliche Zweifel und Widersprüche, die sich ausschließlich auf Zitate aus der „bürgerlichen Presse“ stützten. (AK, 31.10.197) Nach dem gleichen Muster blieb der Arbeiterkampf auch in den folgenden Monaten an den offiziellen Darstellungen zur Todesnacht dran. Aufgrund vieler Ungereimtheiten und hanebüchener Absurditäten der amtlichen Behauptungen sprach der AK von den „Wundern von Stammheim“.

Damals waren Zweifel an der Selbstmord-Theorie nicht auf die Linke beschränkt, sondern weit verbreitet. Aber zwanzig Jahre nach der Todesnacht glaubte der SPD-Politiker Helmut Schmidt, der 1977 Bundeskanzler gewesen war, triumphieren zu können: Lange Zeit seien viele Menschen überzeugt gewesen, dass die RAF-Gefangenen ermordet worden seien. „Ich glaube aber, heute gibt es kaum noch einen, der das glaubt.“ (Interview mit der Zeit, 4. Juli 1997)

Weitere zehn Jahre später war auch die TAZ definitiv auf dieser Ebene angekommen. Die Unterüberschrift zu einem Artikel von Wolfgang Gast lautete: „Dass die in Stammheim inhaftierten Gründer der RAF sich selber töteten, wird nicht mehr ernsthaft bestritten.“ (TAZ, 1.9.2007)

Das stimmte zum einen nicht, was unter anderem durch die seither neu erschienenen Bücher zu den Ereignissen rund um die Todesnacht deutlich wird. Die im TAZ-Artikel nicht erläuterte Behauptung ist darüber hinaus für eine sachliche Diskussion des Geschehens irrelevant. Die Tatsache, dass heute in der Gesellschaft kein wahrnehmbares Interesse an einer Aufklärung der fragwürdigen Selbstmorde besteht, ist als solche kein Argument und trägt nichts zur Wahrheitsfindung bei. Eine zeitnahe gerichtliche Untersuchung der Stammheimer Todesnacht nach kriminalistischen Standards hat nie stattgefunden. Die Staatsorgane verkündeten buchstäblich sofort nach Bekanntwerden der Todesfälle die Selbstmord-Theorie als nicht in Frage zu stellende Wahrheit. Die Vertuschung – mit Absicht oder aus Schlamperei – begann schon damit, dass die hinzugezogenen Gerichtsmediziner, Mallach und Rauschke, nicht einmal die Todeszeit halbwegs exakt eingrenzen konnten. Sie erklärten das damit, dass sie erst viele Stunden nach dem Auffinden der Toten, das morgens gegen acht Uhr stattfand, zu den Leichen gelassen wurden und mit den Obduktionen erst gegen Mitternacht beginnen konnten

Der zuständige Staatsanwalt Hermann erklärte dazu zynisch: „Wenn ich weiß, dass einer einen Brief geschrieben hat, dass er sich aufhängen wird, und er sich dann aufhängt, dann interessiert es mich gar nicht, ob er sich morgens oder abends aufgehängt hat.“ (ID, 5.11.1977) – Aber erstens hatte keiner der Gefangenen einen solchen Brief geschrieben. Und zweitens wird die Kriminalpolizei nicht einmal durch das Vorliegen einer solchen Ankündigung von der Pflicht entbunden, sich mit dem Todesfall sorgfältig zu beschäftigen, um „Fremdverschulden“ ausschließen zu können.

Zum Verständnis der Ereignisse, die zur Stammheimer Todesnacht führten, wird hier ein Rückblick eingeschaltet. Ensslin, Baader, Raspe und Meinhof befanden sich seit Juni 1972 in Haft. Hintergrund waren sechs Bombenanschläge, die zwischen dem 11. und 24. Mai jenes Jahres stattgefunden hatten und ihnen angelastet wurden. Ensslin, Baader und Raspe – ihre Mitangeklagte Meinhof war zu diesem Zeitpunkt schon tot - wurden hauptsächlich deswegen am 28. April 1977 zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Anschläge im Mai 1972 hatten sich gegen zwei Stützpunkte der US-Streitkräfte, zwei Polizeibehörden, gegen Produktionsanlagen im Hamburger Springer-Verlagsgebäude und gegen den Richter Wolfgang Buddenberg gerichtet. Vier US-Soldaten wurden dabei getötet und zahlreiche Menschen, darunter 36 Springer-Mitarbeiter, zum Teil schwer verletzt.

Nach der Festnahme der führenden RAF-Mitglieder wurde deren Befreiung zu einem zentralen Ziel ihrer in Freiheit befindlichen Genossen. Durch die Entführung des Westberliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz am 27. Februar 1975 konnte zum ersten und einzigen Mal ein Erfolg verbucht werden: Fünf Gefangene wurden am 3. März nach Aden in der Demokratischen Volksrepublik Jemen, umgangssprachlich Südjemen, ausgeflogen. Von den führenden RAF-Mitgliedern, die seit 1973 im Stammheimer „Hochsicherheitstrakt“ konzentriert waren, stand niemand auf der Forderungsliste der Lorenz-Entführer. Vielleicht lag das einfach nur daran, dass es sich um eine Aktion der von der RAF unabhängigen „Bewegung 2. Juni“ gehandelt hatte. Aber nach dem Erfolg war absehbar, dass diese Entführung nicht die letzte bleiben würde.

Der nächste Versuch folgte schon zwei Monate später, am 24. April 1975. Sechs bewaffnete Mitglieder der RAF überfielen die BRD-Botschaft in der schwedischen Hauptstadt Stockholm und nahmen dort zwölf Diplomaten und Mitarbeiter als Geiseln. Sie verschanzten sich mit diesen im zwölften Stockwerk und forderten die Freilassung von 26 Gefangenen. Diesmal waren Meinhof, Baader, Ensslin und Raspe unter ihnen. Nachdem das von ihnen gestellte Ultimatum ergebnislos verstrichen war, erschossen die Geiselnehmer zwei der Diplomaten und machten den mitgebrachten Sprengstoff einsatzbereit. Etwa zwei Stunden später kam es aus ungeklärten Gründen zu einer Explosion. Geiseln und Geiselnehmer erlitten schwere Brandverletzungen; einer von letzteren starb an Ort und Stelle, ein zweiter wenige Tage später im Krankenhaus. Die übrigen ergaben sich der schwedischen Polizei.

Mehr als zwei Jahre vergingen bis zum nächsten Befreiungsversuch. Am 30. Juli 1977 wollte ein RAF-„Kommando“ den Bankier Jürgen Ponto in seinem Haus überwältigen und verschleppen, um die Bundesregierung zur Freilassung der Stammheimer Gefangenen zu zwingen. Zutritt hatten ihnen eine mit der RAF verbundene junge Frau verschafft, deren Pate Ponto war. Als dieser sich den Entführern widersetzte, kam es zu einem kurzen Handgemenge, bei dem der Bankier erschossen wurde.

Das nächste Opfer war der mächtige Wirtschaftsführer der Metallindustrie und Präsident des Arbeitgeberverbandes Hanns Martin Schleyer. Sein Fahrzeug, dem ein zweiter Wagen mit drei zu seinem Schutz abgestellten Polizeibeamten folgte, geriet am 5. September 1977 in Köln in einen gründlich vorbereiteten Hinterhalt von mehreren RAF-Angehörigen. Im Feuer ihrer automatischen Waffen wurden Schleyers Fahrer und die drei Polizisten getötet. Schleyer selbst wurde gezwungen, ein Fluchtfahrzeug der Entführer zu besteigen. Er wurde in vorbereiteten Wohnungen, zunächst in einem Hochhaus in Erftstadt-Liblar in der Nähe Kölns, später im niederländischen Den Haag und am Ende in der belgischen Hauptstadt Brüssel gefangengehalten.

Noch am Tag der Entführung wurde im zurückgelassenen Fluchtauto eine erste, sehr kurze Botschaft der Entführer entdeckt. Am folgenden Tag ließ die RAF im Briefkasten eines Wiesbadener Pfarrers einen Brief mit ihren Forderungen deponieren. In der Hauptsache: Freilassung von elf Gefangene. Darunter Baader, Ensslin, Raspe, Möller und Schubert.

Bundeskanzler Schmidt entschied schnell, dass mit der RAF nur Scheinverhandlungen zum Zweck des Zeitgewinns geführt werden sollten, aber dass ein Nachgeben völlig ausgeschlossen sei. Mit der Leitung und Koordination der Gegenmaßnahmen beauftragte Schmidt den Chef des Bundeskriminalamts (BKA), Horst Herold. Dessen Strategie war im Grunde denkbar primitiv, aber in ihrer konsequenten Anwendung durchaus effektiv. Die Operationsleitung der RAF, die offenbar nicht mit den Entführern identisch war, wurde mit geradezu provozierend dummen und dreisten Vorwänden immer wieder hingehalten. Ihre anfangs sehr selbstsicher und kompromisslos formulierten taktischen Forderungen – wie etwa: „Keine Polizei-Fahndungen“ – die mit der Drohung verbunden waren, Schleyer sonst sofort zu erschießen, wurden wortlos ignoriert. Insgesamt stellte die RAF während der Gefangenschaft von Schleyer sieben derartige Ultimaten.

Auf diese Weise konnte Herold recht schnell die Initiative an sich reißen. Unter anderem erreichte er, dass die RAF die Einschaltung eines Schweizer Anwalts als Schaltstelle zur Bundesregierung akzeptierte, statt mit dieser relativ gefahrlos über zufällig ausgewählte Personen und die Medien zu kommunizieren. Von da an konnte das BKA alle Anrufe im Büro des Anwalts, die in der Regel aus Telefonzellen kamen – Handys gab es noch lange nicht -, abhören, auf Tonband nehmen und gleichzeitig sofort zurückverfolgen. Das war nicht nur eine theoretische Option, sondern passierte erklärtermaßen tatsächlich.

So vergingen fünf Wochen. Schließlich wandte sich die Operationsleitung der RAF an eine Splittergruppe der PFLP, die sich auf kriminelle Aktionen spezialisiert hatte. Da die Gruppe der RAF keine erkennbare Gefälligkeit schuldig war, wurde sie vermutlich für ihren Dienst bezahlt. Durch zahlreiche Banküberfälle, vor allem in ihrer Anfangszeit, verfügte die RAF immer noch über reichlich Geld. Außerdem wurde sicher eine Beteiligung am Lösegeld versprochen, das durch die gewünschte Aktion erpresst werden sollte.

Am Nachmittag des 13. Oktober meldete sich aus der Lufthansa-Boeing „Landshut“ ein vierköpfiges „Kommando“ der PFLP-Splittergruppe: Das Flugzeug mit 68 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern an Bord sei entführt. Die Bundesregierung solle elf Gefangene freilassen und umgerechnet 35 Millionen Mark Lösegeld zahlen. Der Flug der „Landshut“ führte in den folgenden Tagen über Rom, Larnaka auf Zypern, Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Aden zur somalischen Hauptstadt Mogadischu, wo die Maschine am frühen Morgen des 17. Oktobers 1977 landete. Dort wurde die „Landshut“ am 18. Oktober gegen 2 Uhr morgens (Ortszeit) von Angehörigen der deutschen Spezialeinheit GSG 9 gestürmt. Drei der Entführer wurden erschossen, ein weibliches Mitglied der Gruppe verletzt gefangengenommen. Wenig später soll es in der JVA Stammheim zu den fragwürdigen Selbstmorden gekommen sein. Aus Enttäuschung über die fehlgeschlagene Befreiungsaktion und als Fanal an die in Freiheit befindlichen Mitglieder und Unterstützer der RAF, behauptet die offizielle Version.

Das setzt die Annahme voraus, dass die Gefangenen im „Hochsicherheitstrakt“ erstens Rundfunknachrichten empfangen und zweitens miteinander kommunizieren konnten, um sich das Signal für eine ungefähr gleichzeitige Selbsttötung zu geben. Aber Schmidt und Herold hatten, in Absprache mit dem „Großen Krisenstab“, der beim Bundeskanzleramt eingerichtet worden war, gleich nach der Entführung Schleyers am 5. September eine totale „Kontaktsperre“ gegen die RAF-Gefangenen angeordnet. Rechtlich stand diese Maßnahme auf schwachen Beinen. Formal abgesichert wurde sie erst durch das Kontaktsperregesetz, das vom Bundestag am 29. September 1977 gegen nur vier Nein-Stimmen beschlossen, am 30. September vom Bundesrat einstimmig bestätigt und knapp zwei Stunden später von Bundespräsident Walter Scheel unterzeichnet wurde. Im Parlament waren damals nur die SPD, die CDU/CSU und die FDP vertreten.

Durch die seit dem 5. oder 6. September praktizierten Maßnahmen sollte jede Kommunikation zwischen den Gefangenen untereinander und mit der Welt außerhalb des „Hochsicherheitstrakts“ vollständig unterbunden werden. Das betraf sogar die Verbindungen zu ihren Anwälten, die untersagt wurden. Die meisten Geräte, insbesondere Radios und Plattenspieler, wurden aus den Zellen entfernt. Nachts – aber inkonsequenterweise nicht auch am Tag - wurden schalldichte Dämmplatten an den Außenseiten der Zellentüren befestigt. Nach der Todesnacht wurde aber die Behauptung in die Welt gesetzt, die RAF-Gefangenen hätten dennoch den Rundfunk abhören und sich durch Zurufe, Klopfzeichen sowie auch über ein Drahtsystem regelmäßig miteinander verständigen können. Angeblich war das in Stammheim sogar allgemein bekannt gewesen, aber vom BKA anscheinend nicht bemerkt oder aus bis heute nicht offenbarten Gründen toleriert worden. Dabei wäre das offizielle Ziel der Kontaktsperre leicht durch eine Verlegung der Gefangenen in verschiedene andere Haftanstalten zu realisieren gewesen.

Das nächste zu erklärende Rätsel war, wie Baader und Raspe an Schusswaffen und Munition gekommen waren – und wie sie es geschafft hatten, diese längere Zeit zu verbergen. Der zweite Teil dieser Frage wurde schnell beantwortet: Raspe habe ein Versteck hinter einer Sockelleiste angelegt. Baader habe die Waffe in seinem Plattenspieler aufbewahrt, der ihm aber schon zu Beginn der Kontaktsperre hätte abgenommen werden sollen. Angeblich war das jedoch nicht geschehen, weil Baader protestiert hatte. Die Verstecke seien nicht entdeckt worden, obwohl die Zellen der RAF-Gefangenen in deren Abwesenheit jeden zweiten oder dritten Tag gründlich durchsucht worden sein sollten. Anscheinend hatte im „sichersten Knast der Welt“ nahezu Anarchie geherrscht. Aber die westdeutschen Staatsorgane nahmen lieber diesen negativen Eindruck in Kauf, als Zweifel an der Logik der Selbstmord-These zuzulassen.

Offen blieb zunächst noch das Rätsel, wie Schusswaffen und Munition in den „Hochsicherheitstrakt“ gelangen konnten. Das änderte sich, nachdem am 2. Oktober 1977 – also mitten in der wochenlangen Krise um die Schleyer-Entführung – Volker Speitel im Fährhafen Puttgarden festgenommen wurde. Anscheinend hatte er sich gerade nach Dänemark absetzen wollen. Speitel hatte in der Anwaltskanzlei des 2002 verstorbenen RAF-Strafverteidigers Klaus Croissant gearbeitet und angeblich Botendienste zwischen den Gefangenen und ihren Anwälten geleistet.

Gleich nach seiner Festnahme begann Speitel, mit dem BKA zu „kooperieren“ – falls er das nicht auch vorher schon heimlich getan hatte. Seine Willigkeit, andere RAF-Mitglieder durch teilweise nicht überprüfbare Behauptungen zu belasten, wurde honoriert: Am 14. Dezember 1978 wurde er lediglich wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu drei Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Obwohl Speitel verdächtig war, an mehreren RAF-Aktionen beteiligt gewesen zu sein, waren diese nicht Gegenstand der Anklage. Am 1. September 1979 wurde er aus der Haft entlassen und bekam vom BKA eine „neue Identität“.

Speitel war der zunächst nur als „Informant“ ohne Namensnennung eingeführte Zeuge, auf den sich Generalbundesanwalt Kurt Rebmann berief, als er am 12. Januar 1978 vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages behauptete, er wisse jetzt, wie die Schusswaffen ins Gefängnis gekommen seien. Angeblich waren sie den Gefangenen von zwei Anwälten der Kanzlei Croissant in „präparierten Handakten“ übergeben worden. Speitel behauptete später, er selbst habe die Aktenordner zu diesem Zweck hergerichtet

Bei den anscheinend nur sehr oberflächlichen Eingangskontrollen im „sichersten Gefängnis der Welt“ hätten die Anwälte die Akten nicht einmal aus der Hand geben müssen, sondern sie vor den Augen des Wachpersonals lediglich „schnell durchgeblättert“. So Rebmann am 12. Januar 1978. Seither gilt das als die offizielle Wahrheit. Niemand machte sich bis heute die Mühe, der Öffentlichkeit auch zu erklären, warum die Waffen und zahlreiche andere metallhaltige Gegenstände, die laut Speitel auf diese Weise in den „Hochsicherheitstrakt“ eingeschmuggelt wurden, nicht von den Detektoren angezeigt worden waren.

Weiter ungeklärt ist auch, wie sich der Linkshänder Baader aus etwa 40 Zentimeter Entfernung von hinten durch einen Schuss in den Nacken töten konnte, wobei er die 18 Zentimeter lange Waffe den Schmauchspuren zufolge in der rechten Hand hielt.

Hanns Martin Schleyer wurde wenige Stunden nach Bekanntgabe der vermeintlichen Selbstmorde von einem der Entführer erschossen. Seine Leiche wurde am 19. Oktober 1977 aufgrund der telefonischen Mitteilung einer unbekannten Frau im Kofferraum eines Autos entdeckt, das in der französischen Stadt Mulhouse im Elsass abgestellt worden war. Als Begründung der politisch sinnlosen Mordtat nannte die RAF „unseren Schmerz und unsere Wut über die Massaker von Mogadischu und Stammheim“.

Aus Sicht von Bundeskanzler Schmidt muss Schleyers Tod sehr gelegen gekommen sein. Der mächtige, über viele wichtige Verbindungen verfügende Spitzenmanager hatte sich während seiner 44tägigen Gefangenschaft in die Rolle eines von Schmidt und dem Bonner Establishment preisgegebenen Opfers hineingesteigert. Das geht klar und eindeutig aus Schleyers immer verbitterter und verzweifelter klingenden Briefen an Schmidt, Helmut Kohl und andere hervor, die von seinen Entführern weitergeleitet wurden. Für sie alle wäre ein freigelassener, plötzlich wieder als lebende Anklage unter sie tretender Schleyer der ultimative Albtraum gewesen.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 18. Oktober 2017