Funktionen für die Darstellung

Darstellung:
  • Standard.
  • Aktuelle Einstellung: Druckansicht.

Seitenpfad

Politischer Mord in Afghanistan - Wenig Interesse an Aufklärung

Auf den ersten Blick sah es "nur" wie der folgenschwerste Selbstmordanschlag seit der Besetzung Afghanistans durch NATO-Truppen vor sechs Jahren aus. Nach vermutlich immer noch unvollständigen Zählungen starben 77 Menschen, darunter 61 Kinder und Jugendliche, als in der Provinz Baghlan, am 6. November eine Bombe explodierte. Inzwischen stellt sich der Vorfall als Anschlag auf den wichtigsten Oppositionsführer dar. Als Auftraggeber sind regierungsnahe Kreise ebenso im Gespräch wie die Geheimdienste der USA und Pakistans. Sprecher der Taliban haben sich mehrmals von dem Attentat distanziert. Das ist völlig ungewöhnlich und daher durchaus glaubwürdig.

Der Bombenanschlag ereignete sich, als der aus 18 Abgeordneten bestehende Wirtschaftsausschuss des Kabuler Parlaments eine Zuckerfabrik nahe der Provinzhauptstadt Pul-i-Khumri besuchen wollte. Die Fabrik wurde in den vergangenen Jahren mit deutscher Finanzhilfe modernisiert. Sie ist Teil eines Vorzeige-Projekts, bei dem der Zuckerrübenanbau als Alternative zum Mohn gefördert werden soll; angeblich sollen künftig einmal 12.000 Menschen der Umgebung davon profitieren.

Zur Begrüßung der Parlamentarier und als Ausdruck der angeblich herrschenden Sicherheit und Stabilität hatten die örtlichen Behörden Hunderte Schülerinnen und Schüler aufmarschieren lassen. Die Explosion ereignete sich, als gerade Kinder dem Leiter des Wirtschaftsausschusses, Sajed Mustafa Kasimi, Blumen überreichten. Kasimi, ein ehemaliger Wirtschaftsminister, war zu diesem Zeitpunkt Sprecher des Oppositionsbündnisses Vereinigte Nationale Front.

Was dann geschah, schilderte ein Vetter Kasimis, der Zeuge der Ereignisse war, am folgenden Tag: Mehrere unbekannte Männer begannen, auf Kasimi und seine Leibwächter zu schießen. Der Politiker starb noch am Tatort. Ein schiitischer Geistlicher, der sich um den Schwerverletzten kümmerte, bezeugt, dass sein Körper drei Schusswunden aufwies: zwei an einer Hand und eine in der Brust. Kasimis Bruder forderte aufgrund dieser Aussagen am 7. November eine gründliche Untersuchung der Leiche. Vergeblich. Stattdessen ordnete Präsident Hamid Karsai dreitägige Staatstrauer und ein pompöses Begräbnis an. Neben Kasimi waren auch fünf weitere Abgeordnete getötet worden.

Dass es nach der Explosion auch Schüsse gegeben hatte, wurde zunächst in den meisten westlichen Medien nicht erwähnt. Erst am 17. November, elf Tage nach dem Blutbad, berichtete die US-amerikanische Nachrichtenagentur AP, dass einer UNO-Untersuchung zufolge möglicherweise bis zu zwei Drittel der Opfer von Baghlan durch Schüsse ums Leben kamen. In dieser AP-Meldung war nur davon die Rede, dass Leibwächter der Abgeordneten nach der Explosion in Panik geraten seien und mehrere Minuten lang wild um sich geschossen hätten. Am 21. November berichtete jedoch die Washington Post aufgrund von Zeugenaussagen, dass es zu einer unkontrollierten Schießerei zwischen Leibwächtern und Polizisten gekommen sei. Die afghanische Regierung spielt den Vorgang herunter, bestreitet aber nicht die Angaben von Krankenhäusern, dass mehrere Verletzte mit Schusswunden behandelt wurden. Ermittlungen, wer am 6. November an den Schießereien beteiligt war, sind offenbar nicht beabsichtigt. Oppositionsanhänger fordern eine internationale Untersuchung.

Der 45jährige Sajed Mustafa Kasimi vertrat die im März gegründete Vereinigte Nationale Front als Sprecher. Seine wirkliche Rolle war aber weit größer. Kasimi galt als hervorragender Organisator und vor allem als Mann des Ausgleichs und der Vermittlung. Möglicherweise war er aufgrund seines Ansehens und seiner Fähigkeiten der einzige, der das heterogene Bündnis rivalisierender Persönlichkeiten zusammenhalten konnte.

Zur Front gehören die von Burhanuddin Rabbani geführte Jamiat-e-Islami, die schiitische Hezb-e-Wahdat von Kasimi, der auch Vizepräsident Karim Khalili angehört, und die Junbesch-e-Milli-e-Islami des usbekischen Generals Abdul Raschid Dostum. Im Wesentlichen also die Organisationen der alten Nordallianz. Ein ganz neuer Faktor ist aber, dass dem Bündnis auch zwei Minister der 1992 gestürzten "sozialistischen" Regierung von Muhammad Nadschibullah angehören. Vorsitzender der Front ist Rabbani, der von 1992 bis zum Einmarsch der Taliban nach Kabul 1996 afghanischer Präsident war. Mit Parlamentssprecher Junus Kanuni, Vizepräsident Ahmad Zia Massud (ein Bruder des 2001 ermordeten Nordallianz-Führers Ahmad Schah Massud) und Energieminister Ismail Khan, dem früheren Machthaber der an Iran grenzenden Provinz Herat, gehören der Front weitere bekannte Politiker an.

In einem kurz vor seiner Ermordung erschienenen Interview mit der Beilage zur Zeitschrift "Das Parlament” (22.10.2007) betonte Kasimi mehrmals, dass das Bündnis sich nicht als Opposition versteht, wohl aber "als politische Alternative zur Regierung" und als "Ergänzung zur Staatsführung". Er warf den USA in diesem Interview vor, sie wollten "ihre Vorstellungen von Demokratie bei uns mit Gewalt durchsetzen". "Durch Hetzkampagnen, in denen tiefgläubige Moslems als Radikale denunziert werden", treibe man Teile der Bevölkerung den Taliban in die Arme.

Sajed Mustafa Kasimi gehörte der schiitischen Volksgruppe der Hasara an, die immer wieder Massakern nicht nur durch die Taliban, sondern auch durch Teile der Nordallianz ausgesetzt war. Er unterhielt gute Beziehungen zum Iran. Manche Gegner machten ihm das zum Vorwurf. Es liegt nahe, dass Kasimis Mörder jetzt unter ihnen vermutet werden.

Sicheres Umfeld oder herzliches Beileid?

Die Provinz Baghlan gehört im Rahmen der NATO-Arbeitsteilung zur sogenannten Nordregion, für die die Bundeswehr zuständig ist. Es ist daher erstaunlich und unverständlich, dass die Bundesregierung außer verbaler Empörung ("feiges und hinterhältiges Attentat") und "tiefem Mitgefühl für die Hinterbliebenen der Opfer" zu den Vorgängen des 6. Novembers nichts zu sagen hat. Wenige Stunden nach einem solchen Blutbad zu verkünden, "Die Menschen in Afghanistan setzen darauf, dass wir sie nicht alleine lassen" (Außenminister Franz-Josef Steinmeier), grenzt an Zynismus.

Wenige Wochen zuvor, am 12. Oktober, hatte der Bundestag mit großer Mehrheit das deutsche ISAF-Mandat verlängert. Als Auftrag der 3500 Bundeswehrsoldaten im Land wird dort definiert, "Afghanistan bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit so zu unterstützen, dass sowohl die afghanischen Staatsorgane als auch das Personal der Vereinten Nationen und anderes internationales Zivilpersonal (...) in einem sicheren Umfeld arbeiten können". Angesichts des Massakers fragt sich, ob und wie die Bundeswehr diese Aufgabe tatsächlich wahrzunehmen versucht.

Über die Arbeit der deutschen Soldaten in der Nordprovinz Kundus beispielsweise kann man auf einer Internetseite der Bundeswehr lesen:

"Zur Verbindungsaufnahme und Kontaktpflege besuchen die Angehörigen des PRT Kunduz täglich sowohl die regionalen als auch lokalen Amts-, Würden- und Entscheidungsträger. Man tauscht sich über Schwerpunkte der Zusammenarbeit aus, entwickelt Ideen für die Region und bespricht die Unterstützungsmöglichkeiten für konkrete Hilfsmaßnahmen. Durch persönliche Präsenz gelingt es nach und nach, die äußerst komplexen Verbindungen der afghanischen Gesellschaft zu ergründen und positiv zu beeinflussen. Patrouillen verknüpfen das Netzwerk immer enger. Auch auf der Arbeitsebene finden vielfältige Gespräche zwischen Spezialisten des PRT Kunduz und den entsprechenden Partnern in der Verwaltung oder in Behörden statt. Vorrangiges Ziel der Unterredungen der deutschen Soldaten mit den regionalen Militärkräften, den Nachrichtendiensten und der Polizei ist immer die Stabilisierung der Sicherheitslage. Hinzu kommen gemeinsame Streifen aus deutschen Feldjägern und afghanischen Polizisten."

Angesichts dieser Selbstdarstellung ist es verblüffend - und vielleicht auch kennzeichnend - dass man nach dem Massaker von Baghlan über die deutsche Beteiligung an der Vorbereitung und Sicherung des Abgeordnetenbesuchs kein Wort hören oder lesen konnte. War deutsches Militär oder BND-Personal beratend einbezogen? Waren sie vielleicht sogar am Ort des Geschehens präsent? Es wäre völlig verantwortungslos, wenn sie es nicht gewesen wären. Denn über die grundsätzliche Gefahrenlage konnte nicht der geringste Zweifel bestehen: Im Mai waren bei einem Selbstmordattentat im nordafghanischen Kundus drei Mitglieder der deutschen Besatzungstruppe getötet worden. Und fünf Tage vor dem Anschlag hatte ein Taliban-Führer, Mansur Dadullah, öffentlich angekündigt: "Unsere Mobilisierung im Norden hat begonnen." Im Norden solle "derselbe Zustand" erreicht werden wie im Süden.

Nimmt man hinzu, dass es sich um den als öffentliches Ereignis gefeierten Besuch von Kabuler Abgeordneten in einem deutschen Prestige-Objekt handelte, ist äußerst unwahrscheinlich, dass deutsche Sicherheitskräfte nicht in irgendeiner Weise involviert waren. Welche Rolle haben sie gespielt? Die Bundesregierung schweigt. Und kein Bundestagsabgeordneter fragt nach?

Knut Mellenthin

Junge Welt, 26. November 2007