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„Nur noch minimale Spuren von Humanmaterial“

Die Wahrheit über das Bundeswehr-Massaker in der nordafghanischen Provinz Kunduz kommt nur in Bruchstücken ans Licht. Die Bundesregierung hat zwar „Transparenz und Aufklärung“ (Verteidigungsminister Guttenberg) versprochen, hält aber sogar die schon vorliegenden Berichte immer noch unter Verschluss. Der Untersuchungsausschuss, der am Mittwoch seine Arbeit aufnimmt, soll voraussichtlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagen. Warum sich nicht wenigstens die Linke mit vollem Nachdruck für die Forderung nach Veröffentlichung aller Berichte stark macht, bleibt unverständlich.

Seit gestern ist immerhin ein Teil des sogenannten Feldjäger-Berichts im Internet nachzulesen. (http://88.80.16.63/leak/de-isaf-cas-kunduz-sep09.pdf) Wikileaks, eine Gruppe von Aktivisten, hat ihn online gestellt. Allerdings fehlen mindestens 20 Seiten aus der Akte. Das Dokument trägt neben dem üblichen „VS – Nur für den Dienstgebrauch“ auch den seltsamen Vermerk „Nur Deutschen zur Kenntnis“. Anscheinend hat die Bundeswehr auch vor ihren NATO-Partnern ein paar kleine Geheimnisse.

Aus dem Feldjäger-Bericht wird das äußerst geringe Aufklärungsinteresse der für den Luftangriff vom 4. September verantwortlichen Bundeswehrführung in Kunduz, namentlich des Oberst Georg Klein, deutlich. Beispielsweise unterließ Klein es entgegen den Richtlinie der internationalen Streitkräfte in Afghanistan (ISAF) und der Bundeswehr, sogleich („zeitnah“) nach dem Angriff eine Untersuchung der Folgen im Zielgebiet einzuleiten. Den deutschen Feldjägern, die anscheinend eigeninitiativ ermittelten, bot sich dort am folgenden Tag „ein offensichtlich deutlich veränderter Ereignisort, der einen geradezu stark gereinigten Eindruck hinterlässt. Es sind nur noch minimale Spuren von Humanmaterial zu finden, weder Tote noch Verletzte sind vor Ort.“ Und: „Am Ort des Vorfalls sind nur noch verbrannte/zerstörte materielle Überreste, einige Tierkadaver und Fahrzeugwracks zu sehen, Kollateralschäden sind nirgends wahrzunehmen.“

Daher, so ihre Schlussfolgerung, könne nicht nachvollzogen werden, wie viele Personen sich zur Zeit des Angriffs im Zielgebiet befanden, wie viele Opfer es gab und welche „Veränderungen der Spurenlage am Ereignisort vorgenommen wurden“. Zur Erinnerung: Die Bundeswehr und das Verteidigungsministerium versuchten anfangs, die Zahl der Getöteten stark herunterzuspielen. Während sie von 56 sprachen, steht inzwischen fest, dass es über 140 Tote gab.

Im Feldjäger-Bericht wird außerdem bemängelt, dass aus den Unterlagen, die den Ermittlern zur Verfügung gestellt wurden, nicht eindeutig ersichtlich sei, welcher Personenkreis an Kleins Entscheidung für den Bombenangriff auf die um zwei Tanklastwagen versammelte Menschenmenge beteiligt war. Klein habe aus nicht erklärten Gründen weder seinen Rechtsberater hinzugezogen noch sich mit übergeordneten Stellen wie etwa seinem direkten Vorgesetzten, dem Brigadegeneral Jörg Vollmer als Chef des Regionalkommandos Nord, in Verbindung gesetzt. Ob Klein verpflichtet gewesen wäre, vor seinem Angriffsbefehl Vollmer zu konsultieren, ist allerdings ungeklärt.

Die bisher vorliegenden Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Kleins Ziel darin bestand, möglichst viele Menschen, die sich um die beiden Tankwagen versammelt hatten, töten zu lassen. Er forderte deshalb den Abwurf von sechs Bomben; gewährt wurden ihm schließlich „nur“ zwei. Dass in der Menschenmenge viele Nicht-Kombattanten waren, wusste Klein aus den Mitteilungen der US-Piloten. Diese hatten deshalb vorschlagen, die Menge durch Tiefflugmanöver zu zerstreuen, statt sie anzugreifen. Klein lehnte ab und bestand auf seinem Massaker. Ob er dabei auch die „gezielte Tötung“ von zwei oder vier Taliban-Führern im Blick hatte, die er angeblich am Ort vermutete, ist ungewiss.

So oder so handelte es sich, wenn man die Beurteilungen durch den „Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien“ in Den Haag zum Maßstab nimmt, um ein Kriegsverbrechen. Nicht wegen der „gezielten Tötungen“, über deren prinzipielle Rechtmäßigkeit unterschiedliche Auffassungen bestehen, sondern wegen der absehbaren hohen Verluste unter den anwesenden Nicht-Kombattanten, den Dorfbewohnern, die herbeigeeilt waren, um etwas Benzin aus den Tankwagen nach Hause zu tragen.

Damit verstieß Klein sogar gegen die aktuellen Einsatzregeln, die der Oberkommandierende der ISAF und der US-Streitkräfte in Afghanistan, General Stanley McChrystal, nach seinem Amtsantritt im Juni erlassen hatte. Klein „erschlich“ sich den Luftangriff durch falsche Angaben: Indem er wahrheitswidrig mitteilen ließ, es gebe bereits „Feindberührung“ - was die Anwesenheit deutscher Soldaten vor Ort vorausgesetzt hätte – und indem er behauptete, die Situation stelle eine Bedrohung für die Bundeswehrtruppen dar.

Vor diesem Hintergrund erklärte der Sprecher des Bundesverbands, Wilfried Stolze, am Montag: „Wir sagen, dass der Skandal nicht darin liegt, was in Kunduz am 4. September passiert ist. Dort haben Soldaten ihre Pflicht getan. Und zu diesen Soldaten stehen wir.“ - Stolze scheint damit für einen nicht geringen Teil des deutschen Offizierskorps zu sprechen, der der Meinung ist, die Bundeswehr stünde über nationalem und internationalem Recht. Wenn deutsche Soldaten und Offiziere jetzt „verunsichert“ auf die Erkenntnis reagieren, dass sie keine juristisch wasserdichte Lizenz zum Töten von Afghanen haben, sondern für Verbrechen unter Umständen zur Rechenschaft gezogen werden könnten, deutet das auf eine äußerst gefährliche Entwicklung hin.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 15. Dezember 2009