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Aufklärung oder Herrschaftswissen?
WikiLeaks-Veröffentlichungen im Schneckentempo
Die HIROS-Depeschen sind unter den bisherigen Veröffentlichungen aus dem WikiLeaks-Material ein herausragender Glücksfall, leider aber auch eine Ausnahme. Zu keinem anderen Vorgang liegen bisher so viele Berichte einer US-Botschaft – insgesamt neun – vor, die es ermöglichen, sich ein Bild über die Zusammenhänge und den Ablauf der Ereignisse zu machen. Zudem hat die Redaktion der norwegischen Zeitung Aftenposten, die diese Depeschen Anfang Januar ins Netz stellte, auf die Unkenntlichmachung von Namen und andere Zensurmaßnahmen verzichtet. So zeigen die Berichte der US-Diplomaten anschaulich, wie hochkarätige deutsche Geheimdienstoffiziere und Manager die amerikanische Botschaft in Berlin ansteuern, um im Ränkespiel gegen die eigene Regierung und den verhassten Konkurrenten Frankreich zu punkten. Eine Fundgrube für Journalisten, die ihren Job ernst nehmen. Dazu braucht man noch nicht einmal salbungsvoll und sachlich unzutreffend über das „Wächteramt einer freien Presse in der Demokratie“ zu sprechen.
Aber deutsche Mainstream-Medien berichteten über den journalistischen Coup der Norweger nur kurz und knapp. Aus dem WikiLeaks-Material hat man sich dort vorzugweise seichte Kost – Seitenhiebe gegen Guido Westerwelle, Saus und Braus in der saudischen Hauptstadt, Schönheitsoperationen der First Lady von Aserbaidschan – herausgefischt. Daneben wurden Stimmungsberichte amerikanischer Diplomaten gestellt, die sich gut gegen Iran, China und Russland ausschlachten ließen.
So, wie WikiLeaks bisher mit den rund 250.000 diplomatischen Depeschen umgegangen ist, die auf irgendeinem Weg in den Besitz der Gruppe gelangt sind, bleibt der aufklärerische Effekt gering. Eher ist zu befürchten, dass die Kluft zwischen der Masse der Nachrichtenkonsumenten einerseits und den Mainstream-Medien andererseits noch vertieft wurde. Die Dokumente wurden zu einem Selbstbedienungsladen für die fünf Zeitungen – Spiegel, New York Times, Guardian, Le Monde und El País -, denen WikiLeaks das Material zur privilegierten Verfügung gestellt hat. Sie wurden damit zu Herrschaftswissen von Medien, die sich einseitig und tendenziös aus der Masse der Dokumente heraussuchen, was ihnen kommerzielle oder politische Vorteile zu versprechen scheint. Was sich darüber hinaus noch im Topf befindet, wissen nur einige WikiLeaks-Mitarbeiter und ein paar Dutzend bevorzugte Journalisten.
Auch die Aftenposten-Redaktion macht da letztlich keine Ausnahme. Zwar stellte sie die neun HIROS-Depeschen ins Netz. Sie entschied sich aber andererseits, ohne ihre Gründe darzulegen, für die Nicht-Veröffentlichung eines Berichts aus der US-Botschaft in Tel Aviv, aus dem lediglich ein paar Sätze oder Halbsätze zitiert wurden. Es ging darin um die Äußerungen eines hohen israelischen Militärs, der einen nächsten Nahostkrieg als nahe bevorstehend bezeichnet hatte.
WikiLeaks selbst hatte bis zum Mittwoch nur 2017 Depeschen ins Netz gestellt, weniger als ein Prozent des Gesamtmaterials, und sogar weniger, als schon von verschiedenen Zeitungen veröffentlicht wurden. Falls WikiLeaks dieses Tempo beibehält, könnte der Depeschenberg ungefähr im Jahr 2022 abgearbeitet sein.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 13. Januar 2011