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"Sicheres Umfeld" in Nordafghanistan?
Neue Fakten über Blutbad im Einsatzbereich der Bundeswehr. Hartnäckiges Schweigen der Bundesregierung.
AP hat am Sonntag bisher unbekannte Einzelheiten zu dem Anschlag veröffentlicht, bei dem am 6. November in der nordafghanischen Provinz Baghlan 77 Menschen getötet wurden. Der Nachrichtenagentur zufolge starben bis zu zwei Dritteln der Opfer, als nach der Explosion private Sicherheitsleute in Panik minutenlang in die Menschenmenge schossen. Das soll nach Aussagen von ungenannt bleibenden UNO-Vertretern das Ergebnis einer ersten Untersuchung sein, die von den Vereinten Nationen durchgeführt wurde. Die meisten Todesopfer - 61 - waren Schülerinnen und Schüler, die zur Begrüßung einer Abgeordnetengruppe aus Kabul abkommandiert worden waren. Mit ihnen starben fünf Lehrer. Die zur Opposition gehörenden Parlamentarier waren nach Baghlan gekommen, um eine mit deutscher Finanzhilfe gebaute Zuckerfabrik zu besichtigen. Bei dem Anschlag wurden auch sechs Abgeordnete getötet. Unter ihnen befand sich einer der einflussreichsten Politiker der Nordallianz, der ehemalige Handelsminister Sajed Mustafa Kasimi. Es war, gemessen an der Zahl der Opfer, der schwerste Anschlag seit der Besetzung Afghanistans im Herbst 2001.
Obwohl sich das Blutbad im Zuständigkeitsbereich der Bundeswehr ereignete, gab es von deutscher Seite zu den Vorgängen außer Bekundungen von "tiefem Mitgefühl für die Hinterbliebenen der Opfer" keinerlei Kommentar. Offenbar soll nach außen hin der Eindruck erweckt werden, der Vorfall gehe deutsche Stellen nichts an. Wieder einmal wird die Bundesregierung bei ihrer Taktik des Verschweigens dadurch unterstützt, dass weder Journalisten noch Politiker kritische Fragen stellen. Wenige Wochen vor dem Anschlag, am 12. Oktober, hatte der Bundestag mit großer Mehrheit das deutsche ISAF-Mandat erneuert. Als Auftrag wird dort "unverändert" definiert, "Afghanistan bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit so zu unterstützen, dass sowohl die afghanischen Staatsorgane als auch das Personal der Vereinten Nationen und anderes internationales Zivilpersonal (...) in einem sicheren Umfeld arbeiten können."
Das wirft mit Blick auf den Anschlag in Baghlan einige schwerwiegende Fragen auf. Beispielsweise: Hat die Bundeswehr anlässlich des Besuchs der Parlamentariergruppe in der Zuckerfabrik irgendwelche Sicherheitsaufgaben übernommen? Immerhin handelte es sich nicht nur um mehrere prominente Oppositionsabgeordnete, sondern auch um ein deutsches Vorzeige-Objekt. Wer ist dafür verantwortlich, dass zu Propagandazwecken Schulkinder eingesetzt wurden, um eine Sicherheit vorzutäuschen, die real eben nicht besteht? Über die Gefahrenlage konnte nicht der geringste Zweifel bestehen: Im Mai waren bei einem Selbstmordattentat im nordafghanischen Kundus drei deutsche Soldaten getötet worden. Und fünf Tage vor dem Anschlag hatte ein Taliban-Führer, Mansur Dadullah, öffentlich angekündigt: "Unsere Mobilisierung im Norden hat begonnen. (...) Im Norden soll derselbe Zustand erreicht werden wie im Süden."
Ob das Attentat in Baghlan wirklich von Islamisten verübt wurde, ist allerdings fraglich. Mehrere Taliban-Sprecher haben das ausdrücklich bestritten. Die Tatsache, dass der Anschlag offensichtlich Politikern galt, die in Opposition zur Regierung in Kabul stehen, lässt auch ganz andere Kreise als möglicherweise verdächtig erscheinen. Umso unverständlicher ist das vollständige Schweigen der Bundesregierung über die deutsche Rolle in diesem Zusammenhang.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 19. November 2007