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Noch mindestens zehn Jahre Krieg in Afghanistan

2007 war von der NATO als "Jahr der Entscheidung" im Afghanistan-Krieg proklamiert worden. Massive Offensiven sollten den bewaffneten Widerstand in seinen Hochburgen und Rückzugsgebieten angreifen und ihm nachhaltig "das Rückgrat brechen". Zugleich wollte die NATO wesentliche Erfolge im "Kampf um die Herzen und Hirne" der afghanischen Bevölkerung erreichen.

Am Ende des Jahres stehen die Regierungen der USA und der Europäischen Union vor einem Scherbenhaufen. Außer der Fähigkeit ihrer Streitkräfte, mit weit überlegenen Waffen und einer leistungsfähigen Logistik Hunderte von Menschen zu töten, haben die NATO-Staaten unter allen anderen Aspekten versagt. Die Zahl der militärischen Operationen des Gegners, die Zahl der Anschläge mit ferngesteuerten Bomben und der Selbstmordattentate hat gegenüber 2006 nochmals stark zugenommen, nachdem sie schon seit 2004 im Anstieg war. Der Umfang der Gebiete, die die NATO-Streitkräfte zwar jederzeit militärisch vernichtend angreifen, aber nicht real kontrollieren können, ist noch größer als vor einem Jahr. Der bewaffnete Widerstand hat auf Provinzen im Westen und Norden übergegriffen, die bisher als "ruhig" galten.

Nach der Besetzung Afghanistans im Herbst und Winter 2001 war die Widerstandstätigkeit zunächst gering gewesen. Die NATO meinte damals, mit weniger als einem Drittel der Truppen auskommen zu können, die sie heute dort stationiert hat. Im Sommer 2003 begannen die "Taliban", wieder in größeren Gruppen zu operieren. Ihre Aktionen konzentrierten sich anfangs auf die Grenzgebiete zu Pakistan. Zum Teil drangen sie offenbar von "Ruheräumen" im militärisch schwer kontrollierbaren Nordwestpakistan auf afghanisches Gebiet vor. Im Jahr 2004 verstärkten sie ihre Kampftätigkeit. In 2005 war erstmals ein sprunghafter Anstieg der Selbstmordanschläge zu verzeichnen. Diese Aktionsform war bis dahin in Afghanistan so gut wie unbekannt gewesen.

Ebenfalls im Jahr 2005 erfolgte eine Zäsur in der Arbeitsteilung der NATO-Staaten. Mehrere Bündnispartner der USA - hauptsächlich Großbritannien, Kanada und die Niederlande - übernahmen eine wesentliche militärische Rolle in den mehrheitlich von Paschtunen bewohnten Gebieten im Süden Afghanistans. Zu diesem Zweck wurde die Stärke der International Security Assistance Force (ISAF) innerhalb eines Jahres verdoppelt.

Dieser Einschnitt in der Entwicklung des Afghanistankriegs wurde mit Lügen verschleiert. Zum einen hieß es, die offensive Aufstandsbekämpfung bleibe weiterhin Sache der USA im Rahmen der Operation Enduring Freedom (OEF), während die Verbündeten lediglich die angeblich erreichten Erfolge absichern und stabilisieren sollten. Außerdem wurde wahrheitswidrig behauptet, durch die Neufestlegung der militärischen Arbeitsteilung sollte den USA eine Verringerung ihrer Truppenstärke ermöglicht werden, um ihre überbeanspruchten Streitkräfte zu entlasten. Die Rede war von 4.000 Mann, die abgezogen werden sollten. Die USA hatten damals 18.000 Soldaten in Afghanistan. Heute sind es 26.000, von denen ungefähr die Hälfte inzwischen in die ISAF-Kommandostruktur integriert sind, während der Rest als OEF unter ausschließlich US-amerikanischem Befehl steht. Insgesamt hat die NATO jetzt - nach unterschiedlichen Angaben - zwischen 49.000 und 54.000 Mann in Afghanistan stationiert.

Seit 2006 wird in der NATO in immer kürzer werdenden Abständen über eine weitere Erhöhung der Truppenzahl gestritten. 5.000 Mann mehr wurden schon im Herbst 2006 verlangt, ohne dass diesem Ziel im zu Ende gehenden Jahr näher gekommen wurde. Vor allem diejenigen NATO-Staaten, deren Soldaten in den relativ ruhigen Landesteilen stationiert sind -Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien - verweigern sich bisher den immer schärfer vorgetragenen Anforderungen ihrer stärker engagierten Partner. Die Bundesregierung hat mit der im März beschlossenen Bereitstellung von sechs Tornado-Aufklärungsflugzeugen zur Unterstützung des Luftkriegs etwas Zeit gewonnen, ohne sich aber dadurch dauerhaft der Forderung nach einer direkten Kriegsbeteiligung der Bundeswehr entziehen zu können.

Während sich Deutschlands Politiker weigern, vor der Öffentlichkeit eine rationale Bilanz des Afghanistankrieges zu ziehen und dessen Perspektive zu analysieren, hat die US-Regierung angesichts der unübersehbaren Rückschläge mehrere strategische Untersuchungen in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse bis zum kommenden Frühjahr vorliegen sollen. Zum einen geht es dabei um eine Studie des U.S. Central Command (CENTCOM), das für Afghanistan zuständig ist. Sie soll einen Drei- bis Fünfjahresplan enthalten, der darlegen soll, "wie Aufbau und Entwicklung mit einer Verbesserung der Sicherheitslage verbunden werden können". Eine zweite Studie unter Leitung des Außenministeriums soll die bisherigen Bemühungen auf den Gebieten "Diplomatie" und "Wirtschaftshilfe", bezogen auf Afghanistan, behandeln. Bei einer dritten Untersuchung, unter der Obhut des Pentagon, geht es um die Einschätzung der militärischen Strategie der NATO und um die Operationen der ISAF im zu Ende gehenden Jahr. Aus Äußerungen von Verteidigungsminister Robert Gates und US-amerikanischen Militärs geht hervor, dass man die bisherige Strategie für "zu wenig aggressiv" hält und eine Verschiebung der Akzente zugunsten der direkten Aufstandsbekämpfung verlangt.

Klar scheint, dass in nächster Zeit nicht mit einer zahlenmäßigen Verstärkung der US-Truppen in Afghanistan zu rechnen ist, obwohl sich Politiker beider Parteien des Kongresses dafür einsetzen. Kurzfristig würde das allerdings den Druck von den Verbündeten, insbesondere von den bisher relativ wenig engagierten, nehmen, mehr Soldaten zur Verfügung stellen und sämtliche Einsatzbeschränkungen aufzuheben.

Die Planung der NATO ist, öffentlichen Äußerungen von Regierungspolitikern mehrerer Länder zufolge, auf mindestens zehn weitere Jahre Militärpräsenz in Afghanistan eingestellt. Ein unabwägbarer Faktor, der bei allen Analysen unberücksichtigt bleibt, ist Pakistan. Ohne eine Intervention in den an Afghanistan grenzenden Gebieten des Nachbarlands wird die Aufstandsbekämpfung langfristig nicht auskommen. Wie viel Truppen dafür nötig wären, wo sie hergenommen werden sollen, und wie die vermutlichen Auswirkungen einer Intervention auf die Verhältnisse in Pakistan insgesamt wären - all das sind offene Fragen.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 22. Dezember 2007