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NATO-Luftangriff auf afghanisches Dorf
Sprecherin der Allianz leugnet den Tod von Frauen und Kindern
Die NATO hat in Afghanistan erneut zahlreiche Bewohner eines Dorfes getötet – und weiß angeblich wieder einmal von nichts. Das Massaker fand am frühen Mittwochmorgen, gegen 2 Uhr Ortszeit, im Bezirk Baraki Barak der ostafghanischen Provinz Logar statt. Die Angaben über die Zahl der „zivilen“ Todesopfer lagen nach ersten Meldungen zwischen 15 und 18. Ferner sollen auch sechs bewaffnete Männer, möglicherweise Taliban oder örtliche Aufständische, getötet worden sein.
Ein Fotograf der US-amerikanischen Nachrichtenagentur AP sah die Leichen von fünf Frauen, sieben Kindern und sechs Männern auf der Ladefläche eines Kleinlasters, mit dem Dorfbewohner zu einer Protestdemonstration in die Provinzhauptstadt Pul-i-Alam fuhren. Das jüngste der getöteten Kinder sei etwa ein Jahr alt gewesen, das älteste ungefähr zehn. Dagegen behauptete eine Sprecherin der NATO-Besatzungstruppen, dass es keine „zivilen“ Todesopfer gegeben habe. Lediglich zwei Frauen seien leicht verletzt worden.
Nach Darstellung der NATO war eine gemischte Spezialeinheit aus ausländischen und einheimischen Soldaten zu einer nächtlichen Razzia unterwegs, um einen „Taliban-Kommandeur“ festzunehmen. Bei der Annäherung an ein Gehöft seien sie mit Handfeuerwaffen beschossen worden. Daraufhin habe der Leiter des Überfallkommandos – höchstwahrscheinlich ein US-Offizier - „Luftunterstützung“ angefordert, die wie üblich darin bestand, das gesamte Anwesen, in dem die „feindlichen“ Schützen vermutet wurden, zusammenzuschießen und wegzubomben.
Dort hatte nach Aussagen von Dorfbewohnern, die auch von örtlichen Politikern und Verwaltungsbeamten unterstützt werden, zum Zeitpunkt des Luftangriffs gerade eine Hochzeitsfeier im Haus eines Stammesältesten stattgefunden, der selbst unter den Opfern ist. Die anderen Toten sollen Angehörige seiner Großfamilie gewesen sein. Nicht klar ist aufgrund widersprüchlicher Berichte, ob es sich bei den gleichfalls getöteten bewaffneten Männern um Gäste der Feier handelte, oder ob sie sich nur zufällig in der Nähe befanden.
Nicht auszuschließen ist nach früheren Erfahrungen, dass der Beschuss aus Richtung des Gehöfts überhaupt nicht stattgefunden hat, sondern dass der Luftangriff vorn vornherein bewusst und planmäßig gegen die Hochzeitsgesellschaft gerichtet war: in der Erwartung, dass dort auch örtliche Aufständische anwesend sein würden. Aus Pakistan gibt es zahlreiche Beispiele für US-amerikanische Drohnen-Attacken auf Beisetzungsfeierlichkeiten, nächtliche Festessen während des Fastenmonats Ramadan und auf Stammesversammlungen zur Schlichtung von Rechtsstreitigkeiten.
Der afghanische Präsident Hamid Karsai hatte die NATO in der Vergangenheit immer wieder vergeblich aufgefordert, die nächtlichen Razzien zu unterlassen, die in der Bevölkerung ebenso gefürchtet wie verhasst sind und bei denen häufig Nicht-Kombattanten getötet oder verletzt werden.Während des jüngsten Massakers befand sich Karsai in Peking, wo er an einer Tagung der Schanghai-Organisation für Zusammenarbeit (SCO) teilnahm. Er bekräftigte dort den Wunsch Afghanistans, der Organisation als Beobachter beizutreten. Mitglieder der SCO sind China, Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan. Die Mongolei, Indien, Pakistan und Iran gehören ihr als Beobachter an.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 7. Juni 2012