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Nach Washingtons Spielregeln
Polit-Spektakel in Kabul von Taliban-Angriff begleitet. Karsai bietet Aufständischen Amnestie und Exil an.
Nach mehrmaliger Verschiebung hat in Kabul am Mittwoch die sogenannte Friedens-Jirga begonnen. Kurz nach Beginn der Eröffnungsrede des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai schlugen in der Nähe des großen Zeltes, in dem sich zwischen 1300 und 1600 ausgewählte „Volksvertreter“ versammelt hatten, drei Raketen ein. Karsai gab sich zunächst betont unbeeindruckt, verließ aber sofort nach Beendigung seiner Ansprache mit einem gepanzerten Konvoi die Versammlung. Später wurde bekannt gegeben, zwei in Burkas verhüllte Angreifer seien erschossen, ein drittter gefangen genommen worden.
Die Durchführung einer „Friedens-Jirga“ gehörte zu Karsais zentralen Versprechen im Präsidentschaftswahlkampf des vorigen Jahres. Er wollte damit dem Unwillen vieler Afghanen über den seit Jahrzehnten fortdauernden Bürgerkrieg und die Militärintervention der NATO entgegen kommen. Angeblich sollte diese Versammlung Auftakt und Signal eines umfassenden Versöhnungsprozesses sein. Er sei bereit, sich jederzeit auch mit höchsten Talibanführern zum Gespräch zu treffen, behauptete Karsai damals.
Falls er wirklich je diese Absicht gehabt haben sollte, machte ihm die US-Regierung sofort deutlich, wie kurz seine Leine ist. Gnade nur für diejenigen Aufständischen, die erstens ihre Waffen niederlegen, zweitens „der Zusammenarbeit mit Al-Qaida abschwören“ und drittens die dem Lande von außen diktierte Verfassung akzeptieren, lautet die gängige US-amerikanische Formel. „Versöhnung“ mit der mittleren und obersten Führungsebene kommt für Washington von vornherein nicht in Frage, da diese zur Annahme der Bedingungen ohnehin nicht bereit seien. Es ist demnach nur das zulässig, was die US-Regierung als „Wiedereingliederung“ bezeichnet: Die Verleitung einzelner Aufständischer zum Überlaufen.
Eigentlich hatte die „Friedens-Jirga“ schon Anfang Mai stattfinden sollen. Die US-Regierung ordnete jedoch eine Verschiebung an und bestellte Karsai nach Washington, um ihm noch einmal zu verdeutlichen, was erwünscht und was verboten ist. Um das Risiko zu minimieren, dass einige der in westlichen Medien fälschlich als „Delegierte“ bezeichneten Versammlungsteilnehmer unerwünschte Äußerungen von sich geben, wurde besonders strikt ausgewählt. Aus mehreren überwiegend von Paschtunen bewohnten Provinzen liegen Beschwerden vor, dass die von Stammesältesten und örtlichen Politikern nominierten Personen nicht eingeladen wurden.
Nach ersten Berichten beschränkt sich der von Karsai am Mittwoch vorgetragene „Friedensplan“ hauptsächlich auf ein Amnestie-Angebot für einfache Taliban-Kämpfer, verbunden mit einem illusorischen Versprechen auf Arbeitsplätze in ihren Heimatgebieten. Einzelnen höherrangigen Taliban, die zur Kapitulation bereit sind, will Karsai einen Aufenthalt im Exil vermitteln.
Die Kabuler Versammlung sei „offensichtlich dazu bestimmt, den USA einen weiteren Vorwand zu liefern, den Krieg in Afghanistan fortzusetzen, statt dem Land Frieden zu bringen“, urteilten die Taliban vor Beginn der Jirga. Sie fordern den Abzug aller ausländischen Truppen als Voraussetzung für Friedensverhandlungen.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 3. Juni 2010