Funktionen für die Darstellung

Darstellung:
  • Standard.
  • Aktuelle Einstellung: Druckansicht.

Seitenpfad

Kollektives Massaker

Nach dem Mord an 16 Dorfbewohnern drohen afghanische Abgeordnete, die ausländischen Streitkräfte im Land zu Besatzungstruppen zu erklären. Eine Untersuchungskommission des Kabuler Parlaments legte am Sonntag ihre Ergebnisse und Schlussfolgerungen vor. Danach waren 15 bis 20 US-amerikanische Soldaten an dem Massaker beteiligt, dem am 11. März unter anderem neun Kinder und drei Frauen zum Opfer gefallen waren.

Im Gegensatz dazu hält die US-Regierung an ihrer Behauptung fest, das Verbrechen sei von einem einzigen Soldaten, dem 38jährigen Stabsunteroffizier Robert Bales, begangen worden. Bales wurde schon in der vorigen Woche aus Afghanistan ausgeflogen und auf seinen Heimatstützpunkt Fort Leavenworth (Kansas) gebracht. Vertretern der Kabuler Regierung und dem Stabschef der afghanischen Streitkräfte, General Scher Mohammad Karimi, war ihr Ersuchen verweigert worden, den Unteroffizier sprechen und befragen zu können. Bereits am Freitag warf Präsident Hamid Karsai den USA vor, keine Kooperationsbereitschaft bei der Aufklärung der Hintergründe des Massenmordes gezeigt zu haben. Karimi, der zum Tatort gereist war und mit Überlebenden gesprochen hatte, betonte ausdrücklich, dass er von der Beteiligung mehrerer US-Soldaten ausgehe.

Mit der hastigen Heimschaffung des angeblichen Einzeltäters durchkreuzte die US-Regierung die einstimmige Forderung des Parlaments, Bales vor ein afghanisches Gericht zu stellen. Die Nacht-und-Nebel-Aktion wurde offiziell damit begründet, dass die US-Truppen in Afghanistan keine Einrichtungen hätten, um straffällig gewordene Soldaten zu inhaftieren. Das würde, wenn es stimmt, ein noch schärferes Licht auf die Zustände werfen. Immerhin operieren die US-amerikanischen Streitkräfte schon seit über zehn Jahren in Afghanistan, derzeit mit rund 90.000 Soldaten. Die im Laufe der Zeit angefallenen Ermittlungs- und Strafverfahren dürften zumindest in die Hunderte gehen. Offenbar ist es übliche Praxis, die Täter oder Tatverdächtigen so schnell wie möglich aus Afghanistan fortzuschaffen. Ein vom Kabuler Parlament heftig kritisiertes Abkommen sichert den Besatzungstruppen zu, dass ihre Angehörigen ausschließlich vor Gerichte ihres Landes gestellt werden können. Seit Bales wieder in seinem Heimatstützpunkt ist, läuft in den US-amerikanischen Mainstream-Medien eine von seinem Anwalt John Henry Browne inszenierte Sympathiekampagne für den liebevollen Familienvater, allzeit freundlichen Nachbarn, absolut sanften Menschen und dekorierten Kriegshelden.

Bales wird, wenn die Aussagen der Überlebenden des Massaker stimmen, vor dem Militärgericht die Aufgabe haben, alle Schuld auf sich zu nehmen und die anderen Tatbeteiligten zu decken. Der Sprecher der afghanischen Parlamentariergruppe, die in der vergangenen Woche zwei Tage vor Ort recherchiert hatte, Hamidsai Lali, präsentierte am Sonntag zentrale Ergebnisse der Untersuchung. Aus den Gesprächen, die die Abgeordneten dort mit Nachbarn und Familienangehörigen der Opfer führten, ergebe sich, dass die laut lachende, anscheinend angetrunkene Soldatengruppe, die die zwei benachbarten Dörfer überfiel, 15 bis 20 Mann stark gewesen sei. Die Entfernung vom US-Stützpunkt zu den Dörfern und zwischen ihnen sei zu groß, als dass ein Einzelner die Taten im festgestellten Zeitraum von einer Stunde hätte begehen können. Im Bericht ist außerdem von zwei Frauen die Rede, die vergewaltigt worden seien, bevor sie erschossen wurden.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 20. März 2012