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Bundeswehr erschießt Demonstranten

Deutsche Soldaten beteiligen sich immer stärker an der direkten Aufstandsbekämpfung in Afghanistan. Während einer Demonstration gegen einen Bundeswehrstützpunkt in Talokan wurden am Mittwoch nach unterschiedlichen Meldungen elf oder zwölf Menschen erschossen. 50 bis 60 Demonstranten wurden verletzt, meist ebenfalls durch Schüsse deutscher Soldaten oder afghanischer Wachleute und Polizisten.

In welchem Ausmaß Deutsche an dem Massaker unmittelbar beteiligt waren, ging aus den Meldungen bis Redaktionsschluss nicht eindeutig hervor. Die Bundeswehr verschwieg zunächst, dass es Tote gegeben hatte, und ließ vorbeugend verbreiten, die Menschenmenge habe Molotowcocktails und Handgranaten gegen den Stützpunkt geworfen. In US-Medien war indessen nur von Steinen die Rede. WELT und Stern leisteten online sofort propagandistischen Flankenschutz, indem sie die Demonstranten als „Mob“ titulierten.

Die Proteste hatten sich am Morgen aus einem Trauerzug der örtlichen Bevölkerung entwickelt. Eine Menschenmenge, die von wenigen hundert auf 1500 oder 2000 Personen anwuchs, hatte die Leichen von vier Bewohnern durch die Stadt getragen. Sie waren wenige Stunden zuvor beim nächtlichen Überfall eines NATO-Killerkommandos, vermutlich einer US-amerikanischen Spezialeinheit, erschossen worden. Nach Augenzeugenberichten waren die Soldaten mit vier Hubschraubern gelandet und hatten ein Haus gestürmt.

NATO-Sprecher behaupteten am Mittwoch, der Angriff habe einem Mitglied der Islamischen Bewegung Usbekistans gegolten. Die vier getöteten Hausbewohner – zwei Frauen und zwei Männer – seien bewaffnet gewesen. Eine der Frauen habe ein Kalaschnikow-Sturmgewehr auf die Angreifer gerichtet und die andere habe drohende Bewegungen mit einer Pistole gemacht. Nach Ansicht der örtlichen Bevölkerung sind die vier Menschen jedoch grundlos und unrechtmäßig getötet worden. In diesem Sinn äußerten sich auch der zuständige Provinzgouverneur und sogar Präsident Hamid Karsai.

Sowohl der Gouverneur als auch sein Polizeichef protestierten dagegen, dass der Überfall ohne ihr Wissen im Alleingang der NATO erfolgt sei. Dagegen behaupten deren Sprecher, der Angriff sei von einer „gemischten“ Einheit durchgeführt worden, zu der auch Afghanen gehört hätten. Tatsächlich stehen schon seit einigen Jahren afghanische Söldner und ganze Truppenteile im Dienst der Besatzer, die von diesen bezahlt werden und unter ihrem Befehl operieren.

Vor dem Hintergrund des Überfalls und der folgenden blutigen Unterdrückung der Proteste in Talokan verbreitet die NATO, dass die Zahl getöteter Zivilisten in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen sei. Dagegen spricht jedoch die blutige Bilanz der letzten Tage. Erst am Montag erschossen Soldaten der westlichen Allianz ein zehnjähriges Mädchen in der Provinz Kunar. Vier andere Kinder wurden bei dem Zwischenfall verletzt. Am Sonnabend töteten Besatzungstruppen in der Provinz Nangarhar „versehentlich“ einen Fünfzehnjährigen. Bei dem folgenden Protest wurde ein Demonstrant erschossen, fünf weitere erlitten Verletzungen. Ebenfalls in Nangarhar starben am Mittwoch voriger Woche eine Jugendliche und ein afghanischer Polizist, als eine NATO-Spezialeinheit ein Haus überfiel.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 19. Mai 2011