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Allein gegen die Welt

Deutsche Regierung verteidigt Massaker in Afghanistan. Selbst die USA gehen auf Distanz.

Alle wissen es längst, nur die Bundesregierung bestritt es sogar am Sonntag noch: Bei dem von Bundeswehroberst Georg Klein angeordneten Bombenangriff in der nordostafghanischen Provinz Kundus am Donnerstag wurden zahlreiche Bewohner getötet oder schwer verletzt. Am Sachverhalt gibt es aufgrund der Augenzeugenberichte und der Recherchen westlicher Nachrichtenagenturen nicht den geringsten Zweifel.

Die Außenminister Italiens und Luxemburgs, Franco Frattini und Jean Asselborn, sprachen am Sonnabend in einer gemeinsamen Erklärung von „Aktionen, die niemals hätten geschehen dürfen“. Spaniens Regierungschef José Luis Rodriguez Zapatero verurteilte die Militäraktion als „nicht hinnehmbar“. Einen „großen Fehler“ nannte es der französische Außenminister Bernard Kouchner. EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner sprach von einer „großen Tragödie“. Der stellvertretende UNO-Gesandte für Afghanistan, Peter Galbraith, bezeichnete es als „unverständlich“, dass ein derartiger Luftangriff angeordnet wurde, obwohl die Lage vor Ort „unübersichtlich“ gewesen sei. „Wir müssen sicher gehen, dass so etwas nie wieder passiert“, forderte der britische Außenminister David Miliband.

Nur der deutsche Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) beharrte am Wochenende stur darauf, dass „ausschließlich terroristische Taliban“ getötet worden seien. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Oberkommandierende aller NATO-Truppen in Afghanistan, US-General Stanley McChrystal, bereits ein Krankenhaus in Kundus besucht, mit mehreren der Verletzten gesprochen und anschließend vor der internationalen Presse bekundet: „Aus dem, was ich heute gesehen habe, ist für mich eindeutig, dass einige Zivilisten zu Schaden kamen.“

Wie die britische Nachrichtenagentur Reuters berichtete, befanden sich unter den Militärs, die an dem Krankenhausbesuch teilnahmen, auch deutsche Offiziere. Was sie ihren Vorgesetzten über die dort geführten Gespräche mitgeteilt haben, ist nicht bekannt. Bei der Bundesregierung scheint jedenfalls nichts angekommen zu sein.

Nach wie vor ist unklar, wie viele Menschen bei dem Luftangriff, durch den zwei Tankwagen zur Explosion gebracht wurden, getötet oder verletzt wurden. Viele Leichen waren in Stücke gerissen oder fast vollständig verbrannt. Die Toten wurden, ortsüblich, sehr schnell beerdigt. Die unterschiedlichen Zahlen, die jetzt verbreitet werden, beruhen auf Schätzungen und sind zum Teil auch politisch motiviert. Die von der Bundeswehr verbreitete Behauptung, es habe nur 56 Tote gegeben, ist mit Sicherheit zu niedrig. Agenturen meldete gestern, dass das zehnköpfige Untersuchungsteam der NATO, das am Sonnabend seine Arbeit aufgenommen hat, von 125 Toten ausgeht.

Anhaltspunkte für eine realistische Schätzung gibt das Unglück, das sich am 11. Juli 1978 auf dem spanischen Campingplatz Los Alfaques ereignete, als ein vorbeifahrender Tanklaster explodierte. Damals starben 217 Menschen, mehr als 300 wurden verletzt. Aus Augenzeugenberichten des Angriffs in Kundus geht hervor, dass sich mehrere hundert Menschen um zwei von Aufständischen entführte Tankwagen versammelt hatten, um sich Benzin zu holen. Die Fahrzeuge waren zuvor beim Überqueren eines Flusses stecken geblieben.

Die von der Bundesregierung abgegebenen Stellungnahmen beruhen im Wesentlichen auf unwahren Behauptungen. Falsch ist beispielsweise die Aussage, dass aus den Luftaufnahmen, die Oberst Klein zur Anforderung von Bombenflugzeugen veranlassten, eindeutig zu erkennen gewesen sei, dass sich um die beiden Tankwagen ausschließlich Taliban versammelt hätten. Der Sprecher von McChrystal, Gregory Smith, bekundete am Sonntag, die Luftaufnahmen seien von geringer Qualität gewesen; man habe darauf „nur Schatten“ erkennen können. Laut Washington Post verließ sich Klein bei seiner fatalen Entscheidung in Wirklichkeit auf die Erzählungen eines einzigen Informanten.

An den Haaren herbeigezogen ist auch die nachgeschobene Schutzbehauptung der Bundesregierung, mit dem Angriff auf die Tankwagen habe verhindert werden sollen, dass diese zu einem Selbstmordattentat gegen den Bundeswehrstützpunkt in der Stadt Kundus benutzt würden. Die Aufständischen hatten die Fahrzeuge etwa 7 Kilometer südwestlich der Stadt in ihre Gewalt gebracht und fuhren mit diesen dann in südwestliche Richtung weiter, entfernten sich also von der Stadt. Ihre Absicht war offensichtlich, in einer Furt den nahen Fluss zu überqueren, der ebenfalls den Namen Kundus trägt, und den Bezirk Chahar Dhara am anderen Ufer zu erreichen, der als Taliban-Hochburg gilt.

Leicht auszuräumen ist auch der Einwand des Parlamentarischen Verteidigungsstaatssekretär Thomas Kossendey (CDU), dass zum Zeitpunkt des Luftangriffs – nach Mitternacht – doch unmöglich so viele Bewohner der Gegend auf den Beinen gewesen sein könnten: Afghanische Politiker wiesen darauf hin, dass zu dieser Zeit gerade in allen Haushalten die Vorbereitungen für das übliche Nachtmahl während des Fastenmonats Ramadan im Gang waren.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 7. September 2009